Die Reise der Narwhal (eBook)
480 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31126-8 (ISBN)
Andrea Barrett, geboren 1954 in Boston, wuchs in Cape Cod, Massachusetts, auf und studierte Zoologie. Nach ihrem Studium wandte sie sich dem Schreiben zu und wurde seither mehrfach für ihre Werke ausgezeichnet, u. a. mit dem National Book Award für ihren Erzählband Schiffsfieber, dem MacArthur Fellowship und dem Rea Award for the Short Story. Sie lehrt Kreatives Schreiben am Williams College und am Warren Wilson College und lebt in North Adams, Massachusetts.
Andrea Barrett, geboren 1954 in Boston, wuchs in Cape Cod, Massachusetts, auf und studierte Zoologie. Nach ihrem Studium wandte sie sich dem Schreiben zu und wurde seither mehrfach für ihre Werke ausgezeichnet, u. a. mit dem National Book Award für ihren Erzählband Schiffsfieber, dem MacArthur Fellowship und dem Rea Award for the Short Story. Sie lehrt Kreatives Schreiben am Williams College und am Warren Wilson College und lebt in North Adams, Massachusetts.
Seine vielen Listen
Mai 1855
Vergeblich suche ich mich zu überreden, der Pol sei der Ursprung des Frostes, der Trostlosigkeit. Stets bietet er sich meiner Vorstellung als ein Ort der Schönheit, der Freude an. Dort … gibt es weder Schnee noch Kälte. Sind wir über das stille Meer gefahren, so werden wir an ein Land getragen, dessen wunderbare Beschaffenheit jede bisher entdeckte Gegend auf dem bewohnbaren Planeten übertrifft … Was ist nicht alles zu erwarten in einem Land des ewigen Lichts?
MARY SHELLEY, Frankenstein (1818)
Er stand am Kai und schaute in den Delaware River, auf seinen Schultern brannte die Sonne. Eine milde Brise, der Geruch von Teer und Kupfer. Wenige Meter vor ihm ragte die Narwhal auf, aber er starrte auf ihr Spiegelbild, das zwischen Rumpf und Pfahlwerk eingefangen schien. Die schlingernden Planken, die verbogene Reling, den Ladebaum, der auftauchte und wieder verschwand; merkwürdig, wie das Bild die Oberfläche ausfüllte, ohne das mannigfaltige Leben darunter zu verdecken. Unter dem durchscheinenden Bild konnte er die Welt erkennen, die sein Vater ihn zu sehen gelehrt hatte: die Weißfischschwärme, die Aale und Algen, die sich in den Schlick bohrenden Muscheln; die an Polypen und kleinen Schnecken vorübertreibenden Kieselalgen, die Bandalgen und Insektenlarven. Die Auster, hatte sein Vater einst gesagt, wird vom Tau befruchtet; die schwangere Auster bringt vom Himmel empfangene Perlen hervor. Ist der Tau rein, glänzen die Perlen; ist er trüb, sind die Perlen stumpf. Hoch über ihm, jedoch ebenfalls gespiegelt, zogen lange Wolkenbänder in die eine Richtung, und Möwen segelten in die andere.
Im Wasser lag die Narwhal schwer und dunkel zwischen leichteren Handelsschiffen. Sie alle strebten irgendwelchen Zielen entgegen, dachte Erasmus. England, Afrika, Kalifornien; Felseninseln voller Seehunde; der Küste von Florida. Und doch war unter all diesen Seefahrern keiner, bei dem er sich hätte Rat holen können. Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Wo sollte dieser Berg von Vorräten hin? Beim Anblick eines schlecht geschnürten, wasserdicht verpackten Bündels mit zwölf Plumpuddings kamen ihm fast die Tränen. Jedes Mal, wenn er daranging, im Laderaum Ordnung zu schaffen, trafen weitere Pakete ein. Eine Kiste voll eingelegter Damaszenerpflaumen von einer alten Dame in Conshohocken, die in der Zeitung von der geplanten Reise gelesen hatte und ihren Teil zum Gelingen beitragen wollte. Eine Kiste Brandy von einem Bankier aus Wilmington, ein paar Bände Thackeray von einem Schulmeister aus Doylestown, mengenweise handgestrickte Socken. In seinen Händen stapelten sich die Listen, und keine war ganz abgehakt: Vergiss den Pudding, dachte er. Wo sind die letzten zwei Zentner Pemmikan? Wieso ist die Hälfte des Fleischzwiebacks in derselben Ecke verstaut worden wie die Kerzen und das Lampenöl? Und wo bleiben die noch fehlenden Mitglieder der Crew? In seiner Tasche hatte er eine weitere Liste, mit den Namen der endgültigen Mannschaft:
Zechariah Voorhees: Expeditionsleiter
Amos Tyler: Navigator und Kapitän
Colin Tagliabeau: Erster Offizier
George Francis: Zweiter Offizier
Jan Boerhaave: Arzt
Erasmus D. Wells: Naturforscher
Frederick Schuessele: Koch
Thomas Forbes: Zimmermann
Matrosen: Isaac Bond, Nils Jensen, Robert Carey, Barton DeSouza, Ivan Hruska, Fletcher Lamb, Sean Hamilton
Fünfzehn, wenn man alle zusammenzählte. Captain Tyler und die Herren Tagliabeau und Francis waren erfahrene Walfänger. Dr. Boerhaave hatte in Edinburgh Medizin studiert; Schuessele hatte bei einer New Yorker Postschifflinie als Koch gearbeitet; Forbes war ein Bauernsohn aus Ohio, der noch nie zur See gefahren war, aber die Fertigkeit besaß, alles, was man sich denken konnte, aus ein paar Holzresten zu zaubern. Von den sieben unterschiedlich gut ausgebildeten Matrosen war Bond betrunken zum Dienst erschienen, und Hruska und Hamilton hatten sich noch gar nicht gemeldet.
Ihre Kameraden warteten unten im Laderaum, wo keiner sie sah, auf Befehle – warteten, wie Erasmus befürchtete, darauf, dass er versagte. Er hatte mit seinen vierzig Lebensjahren bereits mehrmals versagt; als blutjunger Bursche hatte er an einer Reise teilgenommen, die so spektakulär gescheitert war, dass die ganze Nation darüber lachte. Seitdem hatte er im Leben fast nichts zuwege gebracht. Er hatte keine Frau, keine Kinder, keine wirklich guten Freunde; eine Schwester in schwierigen Lebensumständen. Doch jetzt stand er hier: vor diesem Berg von Sachen und vor einer zweiten Chance.
Noch immer unschlüssig auf die Plumpuddings starrend, hörte er ein Lachen. Er blickte auf und sah Zeke in der Takelage hängen wie eine Flagge. Zwischen seinen langen Armen leuchtete ein goldener Haarschopf; als er lachte, blitzten seine Zähne auf. Er war sechsundzwanzig, und Erasmus fühlte sich neben ihm wie ein Fossil. Zeke war der Dreh- und Angelpunkt dieses Unternehmens. Der Briggschoner, auf dem sie sich gerade einrichteten, hatte vormals zur Postschiffflotte von Zekes Familie gehört; mit Geldern aus dem väterlichen Vermögen hatte Zeke, damit das Schiff dem Eis standhielt, die Seitenwände mit eichenen Planken verstärken, den Bug mit Eisenplatten panzern und geteerten Filz zwischen die doppelten Decksplanken legen lassen. Als Befehlshaber der Expedition – und daher, wie Erasmus sich vergegenwärtigte, sein Vorgesetzter – hatte Zeke Erasmus dazu ausersehen, sich der Ausrüstung und der Vorräte anzunehmen, die ihn jetzt in so verwirrender Vielzahl umgaben.
Wo sollte das ganze Zeug hin? Gepökeltes Rind- und Schweinefleisch und Malz in Fässern, Messer und Nadeln für Tauschgeschäfte mit den Eskimos, Gewehre und Munition, Kohlen und Holz, Zelte und Gaskocher und wollene Kleidung, Büffelfelle, eine Bibliothek, Bretter genug, um im Notfall behelfsmäßig das ganze Deck zu überdachen. Und die Alkohol-Thermometer. Die vier Chronometer, die Mikroskope und die komplette Ausrüstung für die Präparation der gefundenen Pflanzen und Tierarten: Weingeist, Mull, vornummerierte Etiketten und Flaschen, Arsenseife zur Konservierung von Vogelhäuten, Kampfer und Pillendosen zur Konservierung von Insekten, Seziermesser, Uhrengläser, Stecknadeln, Bindfaden, Glasröhren und Siegelwachs, Pfropfen und eingelegte Blasen, Hirnlöffel und Lötrohre und feine Bohrer für Eier, ein Schleppnetz … Unmengen von Zeug.
Erasmus strich mit einer Hand über die Wolfsfelle, die sein jüngster Bruder aus den Bergen im fernen Utah geschickt hatte. Im Augenblick hätte er alles darum gegeben, sich ein Stündchen mit Copernicus zu unterhalten, der wusste, was es hieß, einem Leben den Rücken zu kehren. Doch Copernicus war fort, wieder einmal fort, und die Wolfsfelle waren zwar hübsch, aber wo sollten sie hin? Die Schlitten, eigens von Zeke entworfene Konstruktionen, waren zwei Wochen zu spät fertig geworden und passten nicht in die Ecke, die Erasmus für sie vorgesehen hatte; auch mit etlichen wissenschaftlichen Geräten wusste er nicht, wohin. Die Kajüte war bis auf den letzten Winkel vollgestopft, und sie waren noch immer nicht untergebracht.
Oben auf der Narwhal nahm Zeke seine Füße vom Stag, hielt sich noch einen Moment mit einer Hand fest und ließ sich dann leichtfüßig aufs Deck fallen. Bald darauf gesellte er sich zu Erasmus und dem Durcheinander auf dem Kai, rückte den Theodolit beiseite und entdeckte darunter eine Kiste mit Zwiebeln. »Die sehen gut aus«, sagte er. »Haben wir genug?«
Als sie zum aberen Male die Proviantlisten durchgingen, kam Mr Tagliabeau mit der Nachricht zu ihnen, dass der Koch verschwunden sei. Er sei zuletzt vor zwei Tagen gesehen worden, berichtete Mr Tagliabeau, in Begleitung einer rothaarigen Frau, die schon eine Weile den Hafen unsicher mache.
Die Hände tief in den Zwiebeln vergraben, lachte Zeke nur laut auf. »Das Flittchen habe ich auch gesehen«, sagte er. »Der blitzte es nur so aus den Augen! Aber dass ausgerechnet Schuessele sie abgeschleppt hat, mit seinem ungeheuren Bart …«
Der Wind fegte eine von Erasmus’ Listen davon und wirbelte sie zwischen den Masten empor. »In drei Tagen legen wir ab!«, rief er mit einer Dramatik, derer er sich später mit großer Verlegenheit erinnerte. »In drei Tagen. Wo sollen wir so schnell einen neuen Koch finden?«
»Kein Grund zur Aufregung«, beschwichtigte ihn Zeke. »Die Welt ist voller Köche. Mr Tagliabeau, wenn Sie so gut sein wollen, eine kleine Runde durch die Schenken am Hafen zu drehen und einen anzuheuern …«
»Wunderbar«, sagte Erasmus. »Bringen Sie uns möglichst einen Kriminellen oder einen Trunkenbold.«
Es wäre womöglich zum Streit gekommen, wäre nicht im gleichen Moment eine Schar junger Männer in lincolngrünen Röcken über den Kai auf sie zugesprungen, mit weißen Pantalons und langen schwarzen Straußenfedern an den Strohhüten. Die Vereinigung der Bogenschützen, Toxophiliten genannt. Bei ihrem Anblick stöhnte Erasmus innerlich auf. Einst, vor langer Zeit, hatte auch er dieser Vereinigung angehört; damals war ihm die Sache durchaus reizvoll erschienen. Die Idee,...
Erscheint lt. Verlag | 12.7.2021 |
---|---|
Übersetzer | Karen Nölle |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abenteuer • Antarktis • Arktis • Botanik • Entdecker • Forschungsreisende • Grönland • Inuit • Nordwest-Passage • Rassismus • Sir John Franklin • USA • Wissenschaft |
ISBN-10 | 3-293-31126-1 / 3293311261 |
ISBN-13 | 978-3-293-31126-8 / 9783293311268 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 5,2 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich