Der Doppelgänger (eBook)

Die Urfassung
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2021 | 1. Auflage
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30296-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Doppelgänger -  Fjodor Dostojewski
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Bisher kannte man nur die Fassung des »Doppelgängers«, die Dostojewski 20 Jahre nach Erscheinen gekürzt und geglättet hat. Doch wie surreal und komisch der junge Autor ursprünglich die Geschichte des Beamten, der von seinem Doppelgänger in den Wahnsinn getrieben wird, erzählt - das kann man erst jetzt lesen! Petersburg, Mitte des 19. Jahrhunderts. Titularrat Jakow Petrowitsch Goljadkin will nie etwas falsch machen - trotzdem (oder gerade deshalb?) kommt er beruflich nicht voran. Auch bei Frauen hat er keinen Erfolg - seine Liebe zu Klara Olsufjewna, der Tochter eines einflussreichen Staatsrats, die er vor einer vermeintlichen Zwangsheirat retten will, bleibt ohne Erwiderung und spielt sich hauptsächlich in seiner Fantasie ab. Sein Leben ändert sich abrupt, als er während eines nächtlichen Spaziergangs auf seinen Doppelgänger trifft. Wer ist diese Person, die Goljadkin äußerlich aufs Haar gleicht und plötzlich auch in seiner Wohnung auf ihn wartet? Goljadkins anfängliche Versuche, sich mit dem Mann zu verbrüdern, bleiben erfolglos. Der Doppelgänger drängt sich gar als eine bessere Version seiner selbst in sein Leben: An Goljadkins Arbeitsplatz erweist er sich als selbstbewusster und erfolgreicher und heimst das Lob des Vorgesetzten ein. Es beginnt ein grotesker Konkurrenzkampf. Vom Verfolgungswahn getrieben, verliert Goljadkin mehr und mehr den Sinn für Realität - bis auch der Leser sich fragen muss: Wer ist das Original, und wer bloß der Nachahmer?

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881), hatte bereits mit seinem ersten Roman Arme Leute 1846 großen Erfolg, im selben Jahr noch veröffentlichte er den Doppelgänger. Ein Meilenstein der grotesken Literatur, der den Wahnsinn seines Protagonisten bis in die sprachlichen Strukturen nachahmt, der von der zeitgenössischen Kritik aber verschmäht wurde. Zwanzig Jahre später schrieb Dostojewski das Buch um. Nun macht Alexander Nitzberg die Erstfassung wieder zugänglich.

Alexander Nitzberg gehört zu den wichtigsten Übersetzern u.a. aus dem Russischen. Er hat mit seinen Gedichten und Übertragungen russischer und englischer Klassiker wie Daniil Charms und Edmund Spenser auf sich aufmerksam gemacht und sorgte zuletzt mit seinen Neuübersetzungen von Bulgakows Meister und Margarita und Das hündische Herz sowie Sawinkows Das fahle Pferd und Das schwarze Pferd für Furore. 2019 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für literarisches Übersetzen. Zuletzt erschien Bulgakows Die weiße Garde in einer Neuübersetzung Nitzbergs bei Galiani Berlin (2018). Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881), hatte bereits mit seinem ersten Roman Arme Leute 1846 großen Erfolg, im selben Jahr noch veröffentlichte er den Doppelgänger. Ein Meilenstein der grotesken Literatur, der den Wahnsinn seines Protagonisten bis in die sprachlichen Strukturen nachahmt, der von der zeitgenössischen Kritik aber verschmäht wurde. Zwanzig Jahre später schrieb Dostojewski das Buch um. Nun macht Alexander Nitzberg die Erstfassung wieder zugänglich.

Inhaltsverzeichnis

Zweites Hauptstück


Die Weise, wie Herr Goljadkin die Praxis von Christian Iwanowitsch betritt. Worüber genau er sich mit ihm unterhält; wie er daraufhin rührselig wird; wie er daraufhin glaubhaft beweist, dass er über einige sogar recht bedeutsame Tugenden verfüge, welche im Leben eines Menschen beizeiten überaus nützlich sein könnten, und dass manche Zeitgenossen die Fähigkeit besäßen, einem mal was aufs Brot zu schmieren, wie es die Redensart besagt; wie er letztendlich darum bittet, sich empfehlen zu dürfen, und, alsbald ihm dies gewährt wird, hinaustritt und Christian Iwanowitsch in größter Verwunderung zurücklässt. Herrn Goljadkins Ansichten über Christian Iwanowitsch.

Der Doktor der Medizin und der Chirurgie Christian Iwanowitsch Rutenspitz – ein kerngesunder, wenn auch älterer Deutscher, begabt mit dichten ergrauten Brauen, einem buschigen Backenbart, einem ausdrucksvollen feurigen Blick, mit welchem er allein schon ganz offensichtlich alles Siechtum verscheuchte, und letztendlich auch mit einem gewichtigen Orden – saß an diesem Morgen in seinem Kabinett, in einem geruhsamen Fauteuil, trank den Kaffee, den ihm die Frau Doktor eigenhändig serviert hatte, rauchte eine Zigarre und verschrieb von Zeit zu Zeit seinen Patienten ein paar Rezepturen. Nach dem letzten Fläschchen, welches er einem greisen Väterchen verschrieben, dem die Hämorrhoiden zu schaffen machten, geleitete Christian Iwanowitsch das Väterchen zur Seitentür, nahm wieder Platz und wartete daselbst auf den nächsten Besucher. Herein trat unser Herr Goljadkin.

Ganz offenbar hatte Christian Iwanowitsch Herrn Goljadkin weder erwartet noch sonderlich zu empfangen gewünscht, denn auf einmal wurde er kurz verlegen und zeigte auf seinem Gesicht spontan einen seltsamen, um nicht zu sagen unzufriedenen Ausdruck. Weil Herr Goljadkin seinerseits fast immer auf geradezu unpassende Weise jede Orientierung verlor in just den Momenten, da er im Interesse seiner eigenen Unternehmungen jemanden zu abordieren[4] hatte, und auch jetzt keine gute Einstiegsphrase parat hatte, die für ihn jedes Mal ein echter Stolperstein war, wurde er regelrecht konfus, brachte etwas murmelnd hervor – immerhin womöglich eine Entschuldigung –, und unschlüssig, was zu tun sei, ergriff er einen Stuhl und nahm Platz. Doch als ihm auffiel, dass er Platz genommen, ohne eingeladen worden zu sein, und er fühlte, dies sei doch recht ungehörig, beeilte er sich, seinen Fauxpas, welcher in der Unkenntnis der feinen Welt und ihrer Gepflogenheiten bestand, zu berichtigen, und erhob sich sogleich vom Platz, den er ohne Einladung eingenommen. Dann besann er sich wieder und sah, wenn auch vage, seine zwei auf einmal begangenen Dummheiten und entschloss sich sogleich zu einer dritten, das heißt, er versuchte, sich zu rechtfertigen, brachte etwas stammelnd und grinsend hervor, lief rot an, wurde konfus, schwieg eine Weile bedeutungsvoll und setzte sich letztendlich hin, diesmal, ohne sich wieder zu erheben, wappnete sich jedoch für alle Fälle mit jenem kämpferischen Blick, der die unfassbare Macht besaß, in Gedanken sämtliche Feinde Herrn Goljadkins niederzubrennen und in Schutt und Asche zu legen. Darüber hinaus drückte dieser Blick die Unabhängigkeit Herrn Goljadkins aus, das heißt, er sagte in aller Deutlichkeit, es sei rein gar nichts, er sei sein eigener Herr, auf jeden Fall gehe ihn schier gar nichts an. Christian Iwanowitsch räusperte sich, krächzte, offenbar zum Zeichen seines Einverständnisses mit alldem, und richtete seinen forschenden Inspektorenblick auf Herrn Goljadkin.

– Christian Iwanowitsch –, begann Herr Goljadkin mit einem Lächeln, – ich komme zu Ihnen, um Sie ein weiteres Mal zu belästigen, und erlaube mir, Sie ein weiteres Mal um Nachsicht zu bitten … –, offenbar fiel es Herrn Goljadkin schwer, die passenden Worte zu finden.

– Hmm … ja! –, sagte Christian Iwanowitsch, ließ etwas Rauch aus dem Mund entweichen und legte die Zigarre auf den Tisch, – doch Sie sollten sich halten an die Instruktionen; ich habe es Ihnen auseinandergesetzt, das letzte Mal auseinandergesetzt; wovon Sie sollten Gebrauch machen, ist der Wandel Ihrer Gewohnheiten … Als da wäre etwas Amusement; als da wäre Freunde und Bekannte besuchen und bei alldem kein Feind sein der Flasche; sich stets halten an die heitere Gesellschaft.

Herr Goljadkin, noch immer lächelnd, beeilte sich darauf zu bemerken, er glaube, er sei wie all die anderen, sein eigener Herr, und seine Vergnügungen glichen auch jenen von all den anderen … so könne er natürlich ins Theater fahren, denn er habe auch Mittel wie all die anderen, also tagsüber, da sei er beim Dienst, des Abends aber bei sich daheim, es sei also rein gar nichts; en passant bemerkte er sogar, er sei wohl nicht schlechter als all die anderen, er wohne daheim, in seiner Wohnung, und letztendlich habe er auch den Petruschka. Doch da verlor Herr Goljadkin den Faden.

– Hmm, nein, diese Instruktion ist es nicht, ich wollte Sie fragen etwas ganz anderes. Eigentlich interessiert es mich zu wissen, ob Sie sind ein Freund der heiteren Gesellschaft, ob Sie heiter verbringen Ihre Zeit? … Also ob Sie weiter führen Ihren melancholischen Lebenswandel?

– Nun, Christian Iwanowitsch …

– Hmm, ich sage –, unterbrach ihn der Arzt, – dass Sie sollten haben eine von Grund auf erfolgte Umwandlung Ihres ganzen Lebens, im gewissen Sinne umkrempeln Ihren gesamten Charakter. (Christian Iwanowitsch setzte einen Akzent auf das Wort »umkrempeln« und schwieg darauf eine Minute lang mit vielsagendem Gesichtsausdruck.) Nicht fernbleiben dem heiteren Leben; besuchen Schauspiele und Klubs, auf gar keinen Fall ein Feind sein der Flasche. Zuhause bleiben ist verkehrt … zu Hause bleiben ist nichts für Sie.

– Wissen Sie, Christian Iwanowitsch, ich liebe meine Ruhe –, sprach Herr Goljadkin und warf Christian Iwanowitsch einen bedeutsamen Blick zu, wobei er sichtlich nach Worten suchte, um seinen Gedanken besser zu umreißen, – in meiner Wohnung, da sind nur ich und Petruschka … will sagen, mein Diener, Christian Iwanowitsch. Ich will sagen, Christian Iwanowitsch, ich gehe meinen Weg, Christian Iwanowitsch, meinen eigenen Weg, Christian Iwanowitsch. Bin nämlich recht eigen und, wie ich meine, von niemandem sonst abhängig. Ich gehe auch spazieren, Christian Iwanowitsch.

– Wie? … Ach ja! Aber jetzt gehen spazieren ist keine schöne Angelegenheit; ein höchst ungutes Klima dafür.

– Tja, Christian Iwanowitsch. Obzwar ich, Christian Iwanowitsch, ein äußerst friedliebender Mensch bin, wovon ich, sofern ich mich entsinne, zu berichten bereits die Ehre hatte, liegt doch mein Weg abseits von anderen, Christian Iwanowitsch. Der Weg ist breit[5] … Ich will … ich will, Christian Iwanowitsch, damit sagen … Verzeihen Sie mir, Christian Iwanowitsch, bin nicht sonderlich redegewandt.

– Hmm … dann reden Sie also davon …

– Ich rede davon, Sie mögen mir verzeihen, Christian Iwanowitsch, denn wie mir scheint, bin ich nicht sonderlich redegewandt –, sprach Herr Goljadkin leicht gekränkt, ein wenig verwickelt und verwackelt. – In dieser Hinsicht, Christian Iwanowitsch, bin ich nicht wie all die anderen –, fügte er hinzu mit einem irgendwie eigentümlichen Lächeln, – nein, ich kann nicht so viel reden; und hab’s nie gelernt, eloquent zu sein. Umso mehr bin ich beherzt, Christian Iwanowitsch; umso mehr bin ich beherzt, Christian Iwanowitsch!

– Hmm … Inwiefern … Sie sind beherzt? –, entgegnete Christian Iwanowitsch. Darauf folgte eine kurze Weile Schweigen. Der Doktor betrachtete Herrn Goljadkin irgendwie seltsam und misstrauisch. Herr Goljadkin schielte auch seinerseits misstrauisch zum Doktor hinüber.

– Wissen Sie, Christian Iwanowitsch –, ergriff Herr Goljadkin wieder das Wort und sprach immer noch in demselben Ton, ein wenig gereizt und stutzig geworden über so viel Starrsinn bei Christian Iwanowitsch, – wissen Sie, Christian Iwanowitsch, ich liebe die Ruhe und hasse den Trubel. Dort, ich meine, in der feinen Gesellschaft, Christian Iwanowitsch, bedarf es der Fähigkeit, das Parkett mit den Stiefeln glattzubohnern … (an dieser Stelle machte Herr Goljadkin einen kleinen Kratzfuß auf dem Fußboden), sowas ist dort gefragt, sofern’s beliebt, auch Esprit ist gefragt … ein blumiges Kompliment muss auf die Schnelle gedrechselt sein können, sofern’s beliebt … sowas ist dort gefragt. Aber ich, Christian Iwanowitsch, habe so etwas nie gelernt, habe all die Finessen nie gelernt; hatte nie die Zeit dazu, Christian Iwanowitsch. Nun ja, bin aus einfachem Holz geschnitzt, hab keinen eitlen Glanz an mir. Weswegen ich, Christian Iwanowitsch, all meine Waffen niederlege; ich gebe mich geschlagen, im nämlichen Sinne. – All das äußerte Herr Goljadkin selbstverständlich mit einem Ausdruck, der klar und deutlich zu verstehen gab, dass es unserem Helden überhaupt nicht leidtäte, seine Waffen im nämlichen Sinne niederzulegen und all die Finessen nie gelernt zu haben, es tat ihm nicht leid, ganz im Gegenteil. Christian Iwanowitsch lauschte gebannt, blickte zu Boden mit einer schiefen Grimasse, so als würde er etwas ahnen. Auf Herrn Goljadkins Tirade folgte ein langes und beredtes Schweigen.

– Mir scheint, Sie sind etwas...

Erscheint lt. Verlag 19.8.2021
Übersetzer Alexander Nitzberg
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 200. Geburtstag • Alexander Nitzberg • Beamter • Bizarr • Doppelgänger • existenziell • Fjodor Dostojewski • Frühwerk • goljadkin • Jakow Petrowitsch Goljadkin • Klassiker • nachahmer • Neuübersetzung • Original • Realität • Russland • Titularrat • Urfassung • Verfolgungswahn • Wahnsinn
ISBN-10 3-462-30296-5 / 3462302965
ISBN-13 978-3-462-30296-7 / 9783462302967
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