Der große Ausverkauf (eBook)
256 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30305-6 (ISBN)
Vicki Baum, geboren 1888 als Tochter einer jüdisch-bürgerlichen Familie in Wien, gestorben 1960 in Hollywood. Sie war ausgebildete Musikerin und arbeitete ab 1926 als Redakteurin in Berlin. 1932 wanderte sie nach Hollywood aus, wo ihr Roman »Menschen im Hotel« verfilmt wurde. In Deutschland wurden ihre Bücher von den Nazis als »Asphaltliteratur« verfemt und verbrannt. Ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und teilweise dramatisiert und verfilmt worden.
Vicki Baum, geboren 1888 als Tochter einer jüdisch-bürgerlichen Familie in Wien, gestorben 1960 in Hollywood. Sie war ausgebildete Musikerin und arbeitete ab 1926 als Redakteurin in Berlin. 1932 wanderte sie nach Hollywood aus, wo ihr Roman »Menschen im Hotel« verfilmt wurde. In Deutschland wurden ihre Bücher von den Nazis als »Asphaltliteratur« verfemt und verbrannt. Ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und teilweise dramatisiert und verfilmt worden.
Das Zentral-Warenhaus nimmt einen ganzen Häuserblock im Innern der Stadt ein, mit je zwölf riesigen Schaufenstern an jeder der vier Fronten. Zwölf Stockwerke, gefüllt mit Waren und Geschäftigkeit. Im Zentrum ein Wolkenkratzer von achtzehn Stockwerken, in dem die Büros und Verwaltungsräume untergebracht sind.
Als Erik sich von der Ostseite dem Gebäude näherte, waren alle Schaufenster beleuchtet. In den Fenstern Nr. 1 bis 6 der Nordfront waren Vorhänge heruntergezogen, hinter denen sich Schatten bewegten, denn dort sollte während der Nacht dekoriert werden. Die riesige Leuchtuhr am Mittelgebäude zeigte auf zehn Minuten vor sieben. »Hallo, Joe«, sagte er, als er an der Loge des Nachtwächters vorbeikam, die sich im Personaleingang vier befand. »Nachtarbeit, Herr Bengtson?«, fragte Joe und trat auf den Gang heraus. Er hatte ein Glasauge. Nach dem Krieg war es eine fixe Idee von Mr. Crosby gewesen, dem unsichtbaren Gott, der über dem Warenhaus thronte, fünfzig Kriegsverletzte anzustellen. Die Zeitungen hatten viel darüber geschrieben und Mr. Crosby einen Mann genannt, der sich seiner patriotischen Pflicht bewusst war. Sieben oder acht dieser Veteranen hatten noch immer ihre Stellungen inne, man konnte sie da und dort im Haus herumschleichen sehen. Ein einarmiger Neger bediente den Personallift auf der Nordseite, ein apoplektischer Irländer mit einem künstlichen Bein war dafür verantwortlich, dass alle Bleistifte in den Büros gespitzt wurden.
»Osterdekoration«, sagte Bengtson, hielt dem Wächter sein Paketchen Zigaretten hin und wartete, bis er sich eine genommen hatte. »Bin so frei«, sagte Joe und steckte die Zigarette in seine Brusttasche. »Ist der Alte schon gekommen?«, fragte Bengtson noch. »Habe Mr. Sprague nicht gesehen«, antwortete Joe. Bengtson marschierte pfeifend davon. Er klapperte mit seinen Schlüsseln wie mit Kastagnetten, während er zum Aufzug ging. Die leeren Verkaufsräume lagen in einem halben Licht, und weiße Tücher waren über diejenigen Waren gebreitet, die offen auflagen. Da und dort stand eine Puppe, großartig angezogen und mit steifem Gesicht lächelnd. Bengtson klapste eine davon auf die wächserne Backe. Er war vergnügt. Ninas Kuss sang noch in seinem Blut. Er liebte das Warenhaus bei Nacht. Die Fülle der Welt – dachte er vage. Er dachte es auf Dänisch.
Er öffnete den Lift mit seinem Schlüssel und war gerade daran hinaufzufahren, als Pusch atemlos erschien und mit einstieg. Pusch war der Lehrjunge im Atelier der Dekorateure, ein unausgewachsenes Geschöpf von achtzehn Jahren. Niemand wusste, wie er zu seinem Spitznamen gekommen war. Er hatte eine Säule von Chintzpaketen auf seinem Arm aufgebaut und schwankte unter der Last. »Mr. Sprague will die Farben sehen –«, keuchte er atemlos, als der Lift mit ihnen hochfuhr. Erik pfiff ein wenig lauter. Es war seine feste Überzeugung, dass der Alte, Mr. Sprague, der Chef der Dekorateure, farbenblind geboren war. Pfeifend deutete er auf einen hellgrünen Chintz, brach ab, sagte: »Den nehmen wir –« und fuhr fort zu pfeifen. So erreichten sie das zwölfte Stockwerk, in dem das Atelier lag.
»Sag mal, ist es wahr, dass du dir eigentlich dein Haar färbst, Pusch?«, fragte er, bevor er ausstieg. »Nein – wieso?«, stotterte der Lehrling. Seine abstehenden Ohren wurden feuerrot. Er hatte so helles Haar wie Jean Harlow vor dem Protest der Zensoren. Er stand noch da mit seinem Paket Chintz und den roten Ohren, als Bengtson schon die Tür zum Atelier öffnete.
Gerade als Bengtson eintreten wollte, erblickte er eine Gestalt, die aus dem Büro des Hausdetektivs Philipp heraustrat. »Nanu –?«, sagte er und nahm seine Hand von der Klinke. Das Mädchen, das auf ihn zukam, war Lilian, Ninas Freundin. »Nanu – Lilian –?«, sagte er nochmals.
Lilian hatte ihren Mantel über dem Arm, und sie war damit beschäftigt, ihr Kleid zuzuknöpfen. »Hallo, Bengtson –«, sagte sie mit ihrer etwas heiseren Stimme. »Können Sie mir schnell eine Zigarette geben?«
Er hielt ihr rasch sein Paketchen hin und zündete indessen schon das Streichholz an. Sie beobachtete die kleine höfliche Gebärde mit gehobenen Brauen. »Ist etwas passiert?«, fragte er. »Warum?«, fragte sie zurück. »Sehe ich aus, als ob der alte Philipp mich vergewaltigt hätte? Beruhigen Sie sich – es ist nichts passiert.«
»Es täte mir auch leid – um den alten Philipp –«, sagte Bengtson unverschämt. Lilian stand vor ihm, ihr Kleid war jetzt zugeknöpft, aber ihre Hände zitterten. Sie rauchte heftig. Sie raucht ganz anders als Nina, dachte Erik. »Ich glaubte, Sie wären längst davon«, sagte er, nur um etwas zu sagen. Er konnte Lilian nicht leiden. Sie war immer da, wenn man sie nicht brauchen konnte. Sie stand jetzt dicht vor ihm und schaute ihn an mit einem spöttischen Lächeln.
»Ich wusste gar nicht, dass Nina einen Lippenstift hat –«, sagte sie. Pusch, der Lehrling, war inzwischen herangekommen und stellte sich dazu. »Wieso – Nina –«, fragte Erik unbehaglich. Lilian lachte und wendete sich zum Gehen. »Sie hat immer blasse Lippen und sie predigt, dass ich mich zu sehr herrichte –«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte Erik und kam sich dumm vor. Pusch grinste und fuhr sich mit der Hand über die Backe. Erik nahm schnell sein Taschentuch heraus und wischte sich über die Wange, wischte schnell und verlegen Ninas Abschiedskuss fort. »Gute Nacht, also –«, sagte Lilian. »Ich muss gehen.«
»Wer wartet denn?«, fragte Erik. »Vanderbilt«, sagte Lilian und ging. Erik sah ihr nach. Sie hatte die schönsten Hüften im ganzen Warenhaus. »Ich fahre Sie hinunter – es ist niemand mehr beim Lift –«, rief er hinter ihr her. Er hatte die Schlüssel zu allen Türen, weil er oft nachts arbeiten musste. »Einmal ein Gentleman, immer ein Gentleman«, sagte Lilian, als er sie einstiegen ließ. Es ärgerte ihn. Sie hatte eine Art, ihn nervös zu machen wie ein Moskito, den man nicht fangen kann. Gleich war der Lift auch voll mit ihrem Parfum, billig, laut. »Wissen Sie, was ich jetzt möchte?«, sagte sie, kurz bevor der Lift unten ankam. »Tanzen, bummeln, saufen – mit Ihnen –«, sagte sie, als er sie anschaute. »Eine kleine Bombe in die Bude schmeißen –«
»Sie weinen ja –«, sagte er, leicht erschreckt, als er ihre Augen ansah. »Das sieht nur so aus –«, sagte sie. »Danke fürs Bringen –« Ihr Parfum hing noch immer da, als Bengtson wieder oben ankam und den Lift verließ.
Der Alte, Mr. Sprague, sah ungeduldig aus, als Erik eintrat. »Wenn Sie genug mit den Mädchen poussiert haben, dann können wir ja vielleicht auch bisschen an die Fenster denken –«, sagte er sofort. Bengtson lachte nur. Mr. Sprague sah aus wie Mark Twain, altmodisch und schön, und er war stolz darauf. Er hatte ein Gehirn aus Kalk und ein Herz aus Gold.
»Eines von den Mannequins hat geheult – ich habe sie hinuntergebracht –«, sagte Erik nebenbei.
»Sie Ritter der Damen«, sagte Mr. Sprague neidvoll. »Körperuntersuchung ist kein Spaß –«
»Wieso?«, fragte Bengtson. »Was heißt das: Körperuntersuchung?«
»Haben Sie nichts davon gehört? Es ist etwas gestohlen worden, und Philipp hat so und so viele Mädels untersucht.«
»Es wird bisschen viel gestohlen in letzter Zeit, finden Sie nicht, Mr. Sprague?«, sagte Bengtson und spielte mit dem Chintz. Das Licht holte einen starken Glanz aus dem billigen Material. »Genau was Mr. Crosby gesagt hat: Es wird bisschen viel gestohlen in letzter Zeit. Diesmal wird es dem alten Philipp den Hals kosten.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Erik und verließ den Chintz.
»Die haben doch in der Kunstabteilung die Ausstellung von russischen Schätzen aus Privatbesitz, erinnern Sie sich?«
Bengtson erinnerte sich. Er hatte mit dem Alten einen erstklassigen Kampf wegen der Ausstattung gehabt und zuletzt gesiegt. Der Alte hatte etwas Buntes und Übertriebenes machen wollen, wie im russischen Ballett. Erik hatte Möbel aus dem Antiquitäten-Departement angefordert, hatte ein paar Wohnräume im Empire eingerichtet und die Schätze aus russischem Privatbesitz darin verteilt. »Was ist denn gemaust worden?«, fragte er, mehr um den Alten zu erfreuen als aus Interesse.
»Eine kleine Ikone, ganz mit Edelsteinen besetzt. Zweitausend Dollar wert.«
»Versichert?«, fragte Bengtson. »Na also. Da verliert doch niemand etwas.«
Plötzlich erinnerte er sich an Lilians brennende Augen, die ohne Tränen geweint hatten, und wurde ärgerlich. »Wie die Mädels aus dem Kleiderdepartement dazu kommen sollen, das verstehe ich nicht. Der alte Philipp wird langsam idiotisch.«
Der Alte lachte in sich hinein. »Das werden wir alle, wenn wir nur lange genug hier angestellt sind«, sagte er. »Sie wissen es nur noch nicht, Sie junger Hund.«
Bengtson erhitzte sich erst jetzt. Er stellte sich vor, wie der alte Philipp Lilian durchsuchte. »Ich würde jeden niederschlagen, der versuchen sollte Nina zu durchsuchen«, sagte er heftig.
»Wer ist Nina?«, fragte der Alte.
»Wir wollen am Ostersonntag heiraten – ich habe es Ihnen erzählt«, sagte Erik. Der Alte lachte wieder. »Es ist Zeit, dass man Sie an die Kette legt«, sagte er. Es war Bewunderung und Neid darin.
Plötzlich ließ Erik seine Privatangelegenheiten fallen und wandte sich dem Chintz zu. Pusch stand noch neben dem langen Zeichentisch, auf den er das Material deponiert...
Erscheint lt. Verlag | 4.11.2021 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Kapitalismus • Kaufhaus • Klassiker • Liebesgeschichte • Menschen im Hotel • Neue Sachlichkeit • New York • New Yorker Unterwelt • Vicky Baum-Romane • Warenhaus |
ISBN-10 | 3-462-30305-8 / 3462303058 |
ISBN-13 | 978-3-462-30305-6 / 9783462303056 |
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