Die Bierkönigin von Minnesota (eBook)
432 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61019-2 (ISBN)
J. Ryan Stradal, geboren 1975, wuchs in Hastings, Minnesota, auf. Er studierte Film, Fernsehen und Radio an der Northwestern University. Er ist Lektor, Redakteur und Produzent von Fernsehserien. Seine Romane ?Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens? und ?Die Bierkönigin von Minnesota? waren ?New York Times?-Bestseller. J. Ryan Stradal lebt in Los Angeles, Kalifornien.
Edith, 2003
Es war der 5. Juli 2003, und bisher war Edith Magnussons Tag gar nicht so übel verlaufen. Sie hatte gerade einen Erdbeer-Rhabarber-Pie aus dem Ofen geholt, hatte das Fenster geöffnet und war nun auf der Suche nach ihrem Lieblingsgeschirrtuch, als sie auf der weißen Zierleiste des Fensters einen Grashüpfer sitzen sah. Seit sie die Farm ihrer Eltern verlassen hatte, war so ein Anblick etwas Besonderes, und die Vorstellung, dass ein Vogel herabstürzen und ihn sich schnappen konnte, gefiel ihr gar nicht, also griff sie sich einen Holzlöffel und stupste das merkwürdige, friedliche Insekt sacht mit dem Stiel an. Wie gehofft, rettete es sich mit einem Sprung in den Garten. Sie atmete auf. Während Edith den Holzlöffel wusch und wegräumte, fragte sie sich, ob der Grashüpfer endlich einmal gesehen werden und sich nicht immer nur seiner Umgebung anpassen wollte, und fühlte sich prompt schlecht, weil sie ihn dabei gestört hatte. Edith hatte noch nie eine Auszeit von ihrer Umgebung genommen. Aber andererseits hatte sie auch noch nie das Bedürfnis danach verspürt. Hier lief es einigermaßen anständig, und wegen Dingen zu jammern, die sie nicht ändern konnte, lag ihr nicht, besonders in einer Welt, in der Nörgler nicht gerade händeringend gesucht wurden.
Sie hatte in New Stockholm, im Herzen Minnesotas, einen guten Job im Pflegeheim St. Anthony-Waterside, sechs Blocks von ihrem kleinen Dreizimmer-Haus entfernt. Edith hatte ihren Mann, Stanley, der sich momentan in Peterbilt, irgendwo in South Dakota, aufhielt. Sie hatte einen erwachsenen Sohn, Eugene, der gerade als unabhängiger Vertreter bei einer interessanten Firma namens Life Well angefangen hatte, die offenbar hochwertige Haushaltswaren direkt an Privatkunden verkaufte. Zudem hatte sie eine erwachsene Tochter, Colleen, die studiert hatte und trotz ihres Studienabbruchs recht gut klarkam. Colleen hatte einen Handwerker namens Mark geheiratet, ein freundlicher Mann, selbst wenn er nicht in die Kirche ging. Sie zogen Ediths einziges Enkelkind auf, ein intelligentes, aufgewecktes Mädchen, das Diana hieß und inzwischen tatsächlich fast schon ein Teenager war.
Sie wüsste nicht, was ein Mensch sonst im Leben noch brauchen sollte. Sie vermisste die Farm, auf der sie groß geworden war, das schon, vermisste ihre Eltern aus dem einen und ihre Schwester aus einem anderen Grund, doch es hatte keinen Sinn, Menschen oder Dingen aus der Vergangenheit nachzutrauern.
Edith war erst vierundsechzig Jahre alt, doch wenn sie hier und jetzt sterben würde, hätte sie die wichtigsten Gefühle erfahren, die jemand aus Minnesota, Mann oder Frau, am Ende seines Lebens erfahren haben konnte. Sie hatte ihr Bestes gegeben, und sie hatte sich nützlich gemacht. Sie half.
Doch das Leben war noch nicht fertig mit ihr, und über kurz oder lang würde ihr alles, was vor dem 5. Juli 2003 passiert war, wie die Hintergrundmusik im Fahrstuhl vorkommen. Als die Musik verstummte und die Türen sich aufschoben, begegnete ihr als Erstes ihr Chef, ein Mann, den sie mochte und der in diesem Moment den Flur im Pflegeheim hinuntergelaufen kam, lächelte, ihren Namen rief und wie ein Kind mit einer Zeitungsseite wedelte.
Edith arbeitete in der Küche des Pflegeheims als Diätassistentin, seit siebenunddreißig Jahren wusch sie unermüdlich Geschirr ab, teilte Essen aus, deckte den Speisesaal ein und putzte ihn hinterher. Die meisten ihrer Kollegen arbeiteten hart, waren freundlich und bis auf die Knochen erschöpft; die Flure rochen nach gekochten grünen Bohnen und Babypuder, und Brendan Fitzgerald war der beste Chef, den sie je gehabt hatte, und bisher auch am längsten auf seinem Posten. Selbst nach fast zwanzig Jahren hatte er immer noch das gütige Charisma und die ruhige Autorität eines Fernsehmeteorologen. Er war außerdem Kettenraucher und sprach über die Heimbewohner nur als Zimmernummern, doch zumindest war er jedes Mal froh, Edith zu sehen, und so froh wie an jenem Tag hatte Edith ihn zuletzt erlebt, als er im Lotto fünfzig Dollar gewonnen hatte.
Brendans geöltes schwarzes Reagan-Haar schimmerte unter dem fluoreszierenden Licht wie ein glasierter Donut, und sein Bauch wippte über den Khakihosen. Er hielt eine Ausgabe des Twin City Talker in der Hand, eine dieser schicken Zeitungen für schicke Stadtmenschen. Edith hatte vor zwanzig Jahren mal eine Ausgabe durchgeblättert, sie für merkwürdig befunden und daher nie mehr gelesen. ESSEN SPEZIAL stand in großen Buchstaben auf dem Cover, und Brendan riss sie irgendwo in der Mitte auf.
»Haben Sie davon gehört?«, fragte er.
Edith erkannte eine Liste mit der Überschrift BESTE PIES.
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Betty’s Pie, Two Harbors
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Key’s Café and Bakery, St. Paul
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St. Anthony-Waterside Pflegeheim, New Stockholm
»Unser Pflegeheim hat den drittbesten Pie Minnesotas«, sagte er und schüttelte zur Betonung die Zeitung.
»Also, das ist ja merkwürdig«, sagte Edith.
»Nein, ist es nicht. Es ist wegen der Enkelin von Nummer 8, die haben Sie doch hier schon gesehen, die mit dem pinkfarbenen Haar«, sagte Brendan und zeigte auf den Namen der Verfasserin. »Das ist sie. Ellen Jones. Gastrokritikerin!«
»Schön. Na, dann gehe ich besser mal wieder in die Küche«, sagte Edith.
»Ich werde es rahmen und in der Lobby aufhängen«, rief Brendan. »Das ist doch was, Edith! Der drittbeste Pie im gesamten Bundesstaat!«
Bereits in ihrem ersten Jahr im Pflegeheim hatte Edith begonnen, ihre eigenen Pies zu backen, nachdem sie festgestellt hatte, dass der Apple Cobbler – ein gekaufter, vorgefertigter Auflauf von einem Vertragslieferanten – ungewöhnlich oft in die Küche zurückkam, teilweise nicht angerührt, manchmal fehlten ein oder zwei Bissen, die sich halb zerkaut irgendwo anders auf dem Teller fanden. Einer der Bewohner, ein wunderbarer alter Muffelkopf namens Donald Gustafson, hatte den Kuchen mit einem Zettel zurückgeschickt, auf dem stand: SCHLUSS DAMIT.
Wenn man sieht, wie ein Mensch vom obersten Tritt einer Leiter fällt, denkt man auch nicht darüber nach, dass man sich die Arme brechen könnte, sondern streckt sie aus. Daran glaubte Edith.
Hätte sie gewusst, dass ihre Entscheidung eines Tages, Jahrzehnte später, alles verändern würde, was sie an ihrem Leben liebte, hätte sie es dennoch gemacht, denn aus der Küche des St. Anthony-Waterside kam der letzte Nachtisch, den seine Bewohner wahrscheinlich je essen würden. Wenn es nach Edith ginge, bekämen diese Menschen mindestens ein- bis zweimal pro Woche das Gefühl und den Geschmack von selbstgebackenem Pie auf der Zunge, oder zumindest den Duft in der Nase, während der Himmel sie von allem Sinnlichen auf dieser Welt entwöhnte. Das war das mindeste, was ein verflixter Mensch tun konnte.
Und wie es sich herausstellte, ging es tatsächlich nach ihr. Mit Hilfe von ein paar Extra-Dollar von Brendan und denen, die vor ihm auf dem Posten waren, als Zuschuss für die Zutaten servierte sie jetzt seit fast vierzig Jahren ihre selbstgebackenen Pies. Die meisten Bewohner fanden sie wohl ziemlich anständig, vielleicht einen Tick zu süß. Nicht, dass sie meckern würden. Edith wandte Brendan den Rücken zu. »Na, dann hoffen wir mal, dass sich die Aufregung bald wieder legt.«
»Lassen Sie uns hoffen, dass sie sich nicht legt! Das ist phantastisch! Sie sollten stolz sein!«
Brendan war noch immer nicht verheiratet und hatte keine Kinder, und jetzt, als Mann um die sechzig, würde das wohl auch nicht mehr passieren, also lebte er mehr denn je für seinen Job. Was jedoch nur dann ungünstig für Edith war, wenn es ihr Leben komplizierter machte. So wie jetzt.
Natürlich war Edith schon früher in der Zeitung gewesen. Ungefähr alle acht Jahre brachte der New Stockholm Explainer einen Artikel über sie, dessen Überschrift in etwa lautete »Pie-Lady serviert immer noch Kuchen«, zusammen mit einem Foto, auf dem sie stets verwirrt und alt aussah. Sie las die Artikel nie und bewahrte sie noch nicht einmal auf. Als am nächsten Tag gegen Mittag das Telefon klingelte, wusste sie, dass es Stanley sein und sie es ihm gegenüber nicht mal erwähnen würde.
Der Mann am anderen Ende der Leitung war jedoch sein Chef, Tom Clyde, und sie entschied, es auch ihm gegenüber nicht zu erwähnen.
»Edith«, sagte Mr. Clyde, »es hat einen Unfall gegeben. Also, zunächst einmal, Ihrem Mann geht es gut, er hat nur eine Gehirnerschütterung.«
Sie wusste, dass es Stanley gutging. Sie waren jetzt fast vierundvierzig Jahre verheiratet, und wenn er nicht mehr am Leben wäre, hätte sie das gespürt. Sie hätten ihn auf den Pluto schicken können, und sie wüsste, ob er es geschafft hätte. Aber ihr war auch klar, dass jederzeit etwas passieren konnte, und das schon bald.
»Was hat er jetzt wieder angestellt, Mr. Clyde?«
»Nun, er hat eine Wagenladung gefrorener Hamburger durch den Haupteingang eines Hardee’s in Sioux Falls gefahren. Normalerweise werden sie lieber über den Hintereingang beliefert, wurde mir gesagt.« Mr. Clyde hatte den gleichen trockenen Humor wie sein Cousin, Big Tom.
»Wurde jemand verletzt?«
»Gott sei Dank nicht. Ein paar Mülleimer und Picknicktische hätten wahrscheinlich lieber keine Bekanntschaft mit dem Lkw Ihres Mannes gemacht, aber das war’s auch schon.« Mr. Clyde seufzte und klang ein wenig traurig, als er...
Erscheint lt. Verlag | 28.7.2021 |
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Übersetzer | Kathrin Bielfeldt |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Lager Queen of Minnesota |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Amerika • Bier • Brauerei • Craft Beer • Dieb • Epos • Familie • Frau • Frauen • Generation • High School • IPA • Lager • Liebe • Minnesota • Mittlerer Westen • Saga • Schicksal • Waise |
ISBN-10 | 3-257-61019-X / 325761019X |
ISBN-13 | 978-3-257-61019-2 / 9783257610192 |
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