Vom Dorf um die Welt und zurück (eBook)

Eine Hommage an Friedrich Dürrenmatt in Geschichten von Lukas Bärfuss, Joanna Ba
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
320 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61230-1 (ISBN)

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Vom Dorf um die Welt und zurück -  Oliver Lubrich,  Reto Sorg
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Geschichten von Lukas Bärfuss (Schweiz), Joanna Bator (Polen), Hans Christoph Buch (Deutschland), Louis-Philippe Dalembert (Haiti), Lizzie Doron (Israel), Mathias Énard (Frankreich), Xiaolu Guo (China), Nedim Gürsel (Türkei), Josefine Klougart (Dänemark), Wendy Law-Yone (Burma), Wilfried N'Sondé (Kongo), Fernando Pérez (Kuba), Peter Stamm (Schweiz), Juan Gabriel Vásquez (Kolumbien), David Wagner (Deutschland).

Oliver Lubrich, geboren 1970 in Berlin, ist Professor für Komparatistik an der Universität Bern. Er ist Initiator und Projektleiter der Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur. Er veröffentlichte Bücher über ›Shakespeares Selbstdekonstruktion‹, ›Postkoloniale Poetiken‹ und ›Reisen ins Reich (1933–1945)‹.

DÜRRENMATTS RÜCKKEHR

So war denn Bern nur zu bewältigen, indem es mein Stoff wurde. Ich emigrierte nicht, als ich diese Stadt verließ, ich nahm Bern mit mir als den Stoff, aus dem sich eine Welt formen ließ, meine durch mich verwandelte Welt.

Friedrich Dürrenmatt

Rede zum Literaturpreis der Stadt Bern, 1979

Am 5. Januar 2021 wäre Friedrich Dürrenmatt hundert Jahre alt geworden. Zugleich ging die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur an der Universität Bern in ihr fünfzehntes Semester. Ein doppeltes Jubiläum, aus dessen Anlass wir die bisherigen Gastprofessorinnen und Gastprofessoren um neue Erzählungen baten: neue Erzählungen um Friedrich Dürrenmatt.

Was jedoch ist für eine solche Einladung die geeignete Vorgabe? Erzählungen über Dürrenmatt oder inspiriert durch seine Texte? Erzählungen über Bern oder über die Schweiz, welche die Gäste während ihres Aufenthalts kennengelernt haben? Oder Erzählungen, die ein Thema verhandeln, das für Dürrenmatts Schreiben zentral war? Ein solches Thema ist das Verhältnis des Dorfes (der Kleinstadt) zur Welt, des Kleinen zum Großen, des Eigenen zum Universalen, wie es Dürrenmatt umtrieb: das Dorf als Labor.

Eine Reise durch die gegenwärtige Weltliteratur – angeregt von Friedrich Dürrenmatt und ausgehend von Bern. Wofür aber steht Bern? Mit ihrer steinernen Altstadt, von der Aare umflossen, scheint die Bundesstadt ein besonders dauerhafter, traditionsfester Ort zu sein – seit Generationen verschont von jeder Art von Umsturz. Zugleich jedoch war und ist sie ein Labor kritischen Nachdenkens und künstlerischer Erneuerung. Im Kanton Bern wurde nicht nur Friedrich Dürrenmatt geboren, sondern auch Christian Kracht und Lukas Bärfuss. Hier lebten und wirkten Albrecht von Haller, Jeremias Gotthelf, Hermann Hesse, Hugo Ball und Gershom Scholem. Hier schrieb Walter Benjamin seine Dissertation, Robert Walser seine Mikrogramme. Paul Klee schärf‌te seine Kunst am »sanften Trug des Berner Milieus«, Albert Einstein entwickelte die Relativitätstheorie. Hermann Rorschach prägte das Konzept der modernen Persönlichkeit, Harald Szeemann das der Kunstausstellung, und Meret Oppenheims Brunnen sprengte die Vorstellungen von Kunst im öffentlichen Raum.

Wie lässt sich die Dynamik dieses Ortes kultureller Verdichtung im Sinne Dürrenmatts künstlerisch fassen? Als kreative Ambivalenz eines Versuchsraums zwischen Stabilität und Innovation, Tradition und Moderne, Konservativismus und Kritik, Dorf und Welt? Für Dürrenmatt war seine Heimat – Konolf‌ingen, das Dorf seiner Herkunft, und Bern, die kleine Stadt, in der er studierte – ein Stoff, den er in die Welt brachte. Sein Besuch der alten Dame wurde verfilmt in den USA und im Senegal. Ihn, wie auch schon Robert Walser, motivierte die solide Selbstverständlichkeit des Feststehenden zu einer eigenen Betrachtungsweise, freilich um den Preis, sich hier nicht nur willkommen und zu Hause zu fühlen. Wer die Dinge, wie wir sie kennen, in ihrer Relativität zum Ausdruck bringt, macht das Vertraute fremd und öffnet die Tür für das Unheimliche.

Die Dürrenmatt-Gastprofessorinnen und -Gastprofessoren bringen nun umgekehrt Weltliteratur nach Bern – eine Weltliteratur, die sich heute nicht mehr auf Europa, die Neue Welt Amerikas und die Metropolen beschränkt. Die Gäste aus China und Israel, aus Burma, Kuba und dem Kongo stehen für eine kulturelle Verständigung jenseits von ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹, die heute besonders dringlich erscheint. Dieses alternative Konzept von ›Weltliteratur‹ ist ihr Bei‌trag zum Dürrenmatt-Jubiläum. Ihre Erfahrungen und Sichtweisen relativieren die ökonomisch und touristisch vorangetriebene Globalisierung, indem sie für das Besondere sensibilisieren. Sie und ihre hier versammelten Texte regen zum Nachdenken an: über Dürrenmatt, über Bern, über die Schweiz – und weit darüber hinaus: über die globalisierte Welt.

Einige Texte beziehen sich direkt auf Dürrenmatt. Mathias Énard (Frankreich) erzählt vom Bürgerkrieg in Bern im zehnten Jahr der Pandemie, ausgehend von Dürrenmatts Winterkrieg in Tibet. David Wagner (Deutschland) schildert seine eigenen Besuche bei der alten Dame. Bei Wendy Law-Yone (Burma) wird mit einer Geschichte von Dürrenmatt unter dramatischen Umständen ein Mensch am Leben gehalten. Lukas Bärfuss (Schweiz) setzt sich mit dem dörf‌lichen Milieu auseinander, aus dem Dürrenmatt stammte, und er lässt seinen Erzähler über dessen Provinzialität schimpfen, wie Dürrenmatt selbst über Provinzialität schimpf‌te – vielleicht die höchste Form der Hommage.

Andere Beiträge beziehen sich auf Bern und die Schweiz. Lizzie Doron (Israel) beschreibt eine Reise nach Bern, die zu einer verstörenden Begegnung wird. Joanna Bator (Polen) wählt die Aare beim Bärengraben als Schauplatz, an dem sich ihre Protagonistin das Leben nimmt. Juan Gabriel Vásquez (Kolumbien) erinnert daran, wie sich Stalins Tochter in Muri versteckte. Josef‌ine Klougart (Dänemark) schildert einen Aufenthalt in Bern als Zeit der Offenbarungen, die eine Biographie der Berge hervorbringt. Nedim Gürsel (Türkei) führt uns nach Istanbul und in die Vergangenheit des Osmanischen Reiches. Das Beinhaus von Leuk wird dabei zu einem Sinnbild für die Gewalt der Weltgeschichte.

Weitere Beiträge greifen das Motiv vom Dorf als Labor auf, indem sie in Dürrenmatts Sinn das Kleine und Eigene mit dem Großen und Universalen verbinden. Peter Stamm (Schweiz) beschreibt einen Weg aus der Provinz ins Fernsehen, von Blackburn und Cardif‌f auf die Bühnen der Welt. Louis-Philippe Dalembert (Haiti) verbindet eine Jugend in der Karibik mit den Traumwelten des internationalen Kinos. Xiaolu Guo (China) verhandelt männliche Gewalt im ländlichen China. Wilfried N’Sondé (Kongo) zeigt, wie die Proteste der »Black Lives Matter«-Bewegung eine junge Frau ermutigen, sich gegen häuslichen Missbrauch zu wehren. Hans Christoph Buch (Deutschland) erzählt die Brasilienexpedition von Maximilian zu Wied aus der Sicht seines Hofjägers. Anhand individueller Lebensläufe entwirft Fernando Pérez (Kuba) eine Chronik der kubanischen Revolution.

Fünfzehn Autorinnen und Autoren und ihre Übersetzerinnen und Übersetzer finden in dieser Anthologie zusammen – wie in einer virtuellen Videokonferenz oder in einem gedruckten Literaturfestival. Seitdem die Gastprofessur 2013 eingerichtet wurde, kam in jedem Semester ein internationaler Gast nach Bern, um vier Monate lang eine Lehrveranstaltung zu geben. Es sind vierzehn Gäste in fünfzehn Semestern, denn weil die Lehre an der Universität durch die Corona-Pandemie beeinträchtigt wurde, verlängerte Mathias Énard, um im folgenden Semester eine weitere Vorlesung zu geben. Hans Christoph Buch hielt außerhalb der Gastprofessur eine »Berner Poetikvorlesung« über Boat People, die anschließend als Buch erschien.

An der Universität Bern spielen Autorinnen und Autoren der Gegenwartsliteratur eine feste Rolle im Literaturunterricht. Sie bringen ihre eigenen Themen mit, die sie in ebenso eigenen Unterrichtsformen vermitteln – eine kreative Erfrischung für die Studierenden ebenso wie für die Dozierenden in Zeiten fortschreitender Verschulung und Bürokratisierung nach der Bologna-Reform. Man sollte nicht Literatur studieren, ohne jemals einer Schriftstellerin oder einem Schriftsteller zu begegnen. Eine kritische Literaturwissenschaft findet nicht im Elfenbeinturm statt, und sie ist mehr als ein Zulieferer für die Kultur- und Bildungsverwaltung.

In seiner Dystopie vom Winterkrieg in Tibet hat Friedrich Dürrenmatt das zerstörte Bern als eine Alptraumlandschaft beschrieben und damit das Vertraute radikal fremd gemacht:

»Zu meiner Heimatstadt gelangte ich auf der leeren Autobahn wandernd. Je mehr ich mich ihr näherte, desto menschenleerer wurde das Land. Kilometerlang war die Autobahn schon von Gras überwuchert, es hatte den Beton gesprengt, auch kam ich an Autoschlangen vorbei, die von Efeu überwuchert waren. […] Als ich die Stadt erreichte, waren ihre Vorstädte Ruinen: sinnlos gewordene Einkaufszentren, ausgebrannte Hochhäuser. […] Die Universität war eine Ruine, der Raum des Philosophischen Seminars verkohlt, die Fensterseite eingestürzt, die Bücher der Bibliothek eine schwarze zusammengepappte Masse. […] Hinter einem Tisch saß eine dicke alte Frau mit einer Nickelbrille und aß Torte. […] ›Wo ist der Stadtkommandant?‹, fragte ich. Sie aß. ›Die Armee hat kapituliert‹, sagte sie. ›Es gibt keinen Stadtkommandanten mehr. Es gibt nur noch die Verwaltung.‹«

An dem Ort, wo er studierte, lehren in Dürrenmatts Namen nun seine Schriftstellerkolleginnen und -kollegen aus aller Welt. Mit ihnen, in ihren Arbeiten kehrt Dürrenmatt gleichsam nach Bern zurück.

Die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur wurde eingerichtet mit Unterstützung durch die Stiftung Mercator Schweiz. Sie wurde verstetigt gemeinsam mit der Burgergemeinde Bern. Die vorliegende Anthologie wurde ermöglicht durch die Förderung der Charlotte Kerr Dürrenmatt-Stiftung, der Ursula Wirz-Stiftung, der Ernst Göhner Stiftung, der Stiftung Pro Scientia et Arte und der Burgergemeinde Bern. Die Herausgeber danken namentlich Olivia Höhener und Stefan Brunner (Stiftung Mercator Schweiz), Patrizia Crivelli,...

Erscheint lt. Verlag 27.10.2021
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 100. Geburtstag • &gt • Bern • Black lives matter • David Wagner • Der Besuch der alten Dame&lt • Dorf • Emmental • Fernando Pérez • Friedrich Dürrenmatt neu • >Der Besuch der alten Dame< • Hans Christoph Buch • Hommage • Joanna Bator • Josephine Klougart • Juan Gabriel Vásquez • Lizzie Doron • Louis-Philippe Dalembert • Lukas Bärfuss • Mathias Énard • #metoo • metoo • Nedim Gürsel • Peter Stamm • Schweiz • Weltliteratur • Wendy Law-Yone • Wilfried N´Sondé • Xiaolu Guo
ISBN-10 3-257-61230-3 / 3257612303
ISBN-13 978-3-257-61230-1 / 9783257612301
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