Warnung vor Büchern. Erzählungen und Berichte (eBook)
384 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961870-8 (ISBN)
Hans Fallada (eigentlich Rudolf Ditzen, geb. 1893 in Greifswald) liebte, wie er etwa mit seinem Roman ?Kleiner Mann - was nun?? bewies, die epische Breite, schrieb aber auch zahlreiche Erzählungen und kurze Prosa-Arbeiten, die zum Teil über sein von Extremerfahrungen (Sucht, Armut) geprägtes Leben Auskunft geben. 1947 starb Fallada in Berlin.
Hans Fallada (eigentlich Rudolf Ditzen, geb. 1893 in Greifswald) liebte, wie er etwa mit seinem Roman ›Kleiner Mann – was nun?‹ bewies, die epische Breite, schrieb aber auch zahlreiche Erzählungen und kurze Prosa-Arbeiten, die zum Teil über sein von Extremerfahrungen (Sucht, Armut) geprägtes Leben Auskunft geben. 1947 starb Fallada in Berlin.
I Ich übe mich im Dialog
Ich übe mich im Dialog – Stimme aus den Gefängnissen – Tscheka-Impressionen – Stahlhelm-Gemüs – Was liest man eigentlich so auf dem Lande?
II Ansehen kostet ja nichts
Liebe Ordensgeschwister – Die Verkäuferin auf der Kippe – Rache einer Hamburgerin – Eine vom Mädchenklub – Wer kann da Richter sein? – Geschlagene Pferde, gehetzte Menschen – Mein Freund, der Ganove – Der Strafentlassene – Otsches Fluchtbericht – Besuch bei Tändel-Maxe – Liebe Lotte Zielesch – Ich rate Preisrätsel – Auch eine Kriegsgeschichte – Bei uns, in der Kleinstadt
III Das Medusenantlitz des Lebens
Vorweihnachtliche Betrachtungen – Geistesgegenwart – Im Auto zur Brandstätte – An der Schwale liegt ein Märchen … – Sieben Kinder spielen im Stadtpark – Der verlorene falsche Taler – Rückschau eines Kritikers
IV Der heimliche Dichter
Warnung vor Büchern – Gespräch zwischen Ihr und Ihm über Ernest Hemingway – Der heimliche Dichter – Ich bekomme Arbeit – Fröhlichkeit und Traurigkeit – Gegen jeden Sinn und Verstand – Frühling in Neuenhagen – Wie vor dreißig Jahren – Christkind verkehrt – Eine Königskrone geht auf Reisen (Die Krone von Bosambo)
V Das Todeshaus formt einen Dichter
Essen und Fraß – Meine Damen und Herren – Ja! – Aber … Nein, doch lieber nicht – Osterfest 1933 mit der SA – Noch einmal Osterfest 1933 mit der SA – Das Todeshaus formt einen Dichter – Kalendergeschichten – Deine Frau (Die Frau, die dein eigen ist). Eine Film-Idee – Wie ich Schriftsteller wurde
Anhang
Zu dieser Ausgabe
Nachwort
[15]Stimme aus den Gefängnissen
Ich habe vor kurzem nahezu fünf Monate Gefängnis in einer mittleren Strafanstalt Deutschlands verbüßt. Dabei habe ich eine Reihe von Beobachtungen gemacht, deren Mitteilung vielleicht nicht allein von dem Gesichtspunkt aus, dass jeder jeden Tag in Untersuchungshaft oder Strafhaft geraten kann, interessant erscheint. (Für Heuchler, die sich diese Gefahr leugnen, schreibe ich nicht.) Ich fühle mich ein wenig wie ein Reisender, der aus einem unbekannten Weltteil zurückgekehrt ist. Ich bin dort gewesen, wo die Seele seltsame Veränderungen erleidet oder, nach längerer Haft, schon erlitten hat, jene Veränderungen eben, die dem »Gebildeten« den »Gewohnheitsverbrecher« unverständlich machen. Den Verbrecher, der stiehlt, wie ein anderer arbeitet, ohne Erregung, selbstverständlich, wird man in der Literatur nicht finden. Er ist noch nicht entdeckt. Die Frage, ob er geworden ist oder von je so war, ist noch unentschieden.
Das Publikum beschäftigt sich kaum mit dieser Frage, es überlässt sie den Fachgelehrten: den Juristen und allenfalls noch den Psychiatern. Der Theologe, der sie auch für sein Arbeitsgebiet hält, geht von der sentimentalen Seite an die Sache heran, er spricht vom »Standpunkt des Lebens«, das »gerettet« werden muss. In seiner Ahnungslosigkeit für Seelisches wird er nie verstehen, dass solche Rettung unmöglich ist: psychische Veränderungen lassen sich nicht rückgängig machen, wie auf physischem Gebiete kein Arzt einem Arm, den ein Zahngetriebe verkrüppelte, seinen früheren Zustand zurückgeben kann. Man soll Schutzvorrichtungen am Getriebe anbringen, da liegt es.
[16]Ich bemerke noch, dass sich meine Beobachtungen und Angaben auf eine Strafanstalt mit einer Belegungsfähigkeit von etwa 130 Mann beziehen, in der im Allgemeinen nur Strafen bis zu einem Jahr vollstreckt wurden. Straf-, Haft- und Untersuchungsgefangene waren nicht in voneinander abgeschlossenen Abteilungen untergebracht.
1
Der Untersuchungsgefangene ist ein Gefangener, dessen Schuld erst bewiesen werden soll, bis zum Termin noch zweifelhaft ist. Die Haft soll ihn an der Flucht, an einer Verdunkelung des Tatbestandes hindern. Man sollte danach annehmen, dass solch, in der Gefängnissprache kürzer gesagt, Untersucher, außer der Beschränkung seiner Freiheit jedes nur mögliche Entgegenkommen findet, denn seine Haft ist ja immerhin möglicherweise unverdient.
Ich beweise: dem Untersucher geht es schlechter als dem Strafgefangenen!
Der Untersucher liegt fast stets auf Einzelzelle. Er sitzt Monate und Monate allein, mit keinem Menschen kann er ein Wort wechseln. Früh morgens wird er aus seiner Zelle gelassen und darf eine halbe Stunde in streng vorgeschriebenem Abstande von Vor- und Hintermann im Freihof spazieren gehen. Zwei Beamte passen dabei scharf auf, dass nicht ein Wort gewechselt wird. Wagt es jemand, wird er abgeführt und streng bestraft. Will der Untersucher arbeiten, so kann er auf seiner Zelle Taue mit den Fingern zu Werg zerzupfen, die tötendste, langweiligste Arbeit, die es gibt. Darf der Untersucher rauchen? Jawohl, Erlaubnis kann [17]ihm erteilt werden, ich habe aber nur in zwei Fällen erlebt, dass sie erteilt wurde. Wenn er Geld hat, darf er sich Lebensmittel besorgen lassen, aber welche Schwierigkeiten werden ihm dabei bereitet! Wie oft muss er erinnern, wie lange warten! Vor allem aber: Männer, von denen sich doch mancher unschuldig glaubt, müssen um jede Kleinigkeiten bitten, bitten, bitten, die ihnen ohne weiteres gewährt werden müsste.
Der Strafgefangene ist dagegen den ganzen Tag mit seinen Gefährten zusammen, er arbeitet draußen in der frischen Luft auf dem Holzhof, in Gärtnereien, auf Gütern, er schwatzt mit den andern, er sieht die Welt: Bäume, Straßen, Menschen. Der Untersucher hat die vier weißen Zellenwände und die blinde Scheibe seines Fensters, er hört das Schlüsselbund klappern, das ist seine Welt. Der Strafgefangene raucht fast täglich, auf den Gütern bekommt er reichlichere Kost, in der Anstalt häufig Zusatzportionen. Der Untersucher kann hungern.
Wenn die Untersuchung wenigstens schnell ginge, beschleunigt würde! Aber dieses endlose Verschleppen gehört zu den größten Unbegreiflichkeiten und Grausamkeiten, die denkbar sind. Es vergehen Wochen und Wochen von einer Vernehmung zur andern, Monate geschieht nichts, der Gefangene muss warten. Nur warten. Ich weiß schon: Sicher geschehen unterdes ungeheure Dinge mit den Akten, sie werden von Prenzlau nach Potsdam geschickt. Eine kommissarische Vernehmung. Frist bis da und da. Frist überschritten. Anmahnen. Der Gefangene wartet.
Der Strafgefangene weiß, den und den Tag werde ich frei sein, der Untersuchungsgefangene grübelt: Wer weiß? Er wartet.
[18]Mich selbst hat ein gnädiges Geschick vor der Untersuchungshaft bewahrt, aber wenn ich an manchen mir bekannten Untersucher denke, der nun schon im zehnten oder elften Monat seiner Haft lebt, packt mich eine grenzenlose Erbitterung gegen jene Herren Untersuchungsrichter, die vollständig vergessen zu haben scheinen, dass es Menschen sind, die dort warten, verzweifelnd und verzagend warten. Genügt es denn nicht, dass er pünktlich seinen Haftverlängerungsbescheid bekommt, der ihm mitteilt, wieviel Wochen er vorläufig weiter warten darf? Der Untersuchungsrichter denkt, es genügt.
Dann tritt das ein, was man in der Gefängnissprache »Spinnen« heißt: »X fängt an zu spinnen.« Beim Vorbeigehen hört man ihn reden in seiner Zelle, restlos, immerzu, nur um seine Stimme zu hören, er weint dazwischen, er bekommt Wutausbrüche. Der Gefangene wird verwarnt, er wird vorsichtig behandelt. Eines Tages ist er dann stumm geworden. Er spricht nicht mehr, er liest nicht einmal mehr sein eines Bibliotheksbuch in der Woche. Oft weigert er sich sogar, zur Freistunde zu gehen, er stellt seine Arbeit ein. Nun sitzt er allein oben in seiner Zelle, monatelang. Was tut er? Was denkt er?
Es geschah, dass ein Untersucher, der so zehn Monate in Einzelzelle gelegen hatte, in eine neu eingerichtete Gemeinschaftszelle für Untersuchungsgefangene verlegt wurde. Man glaubte, er würde glücklich sein. Er flehte, in seine Zelle zurückzudürfen. Er konnte die Gesichter der Menschen nicht mehr ertragen, ihr Sprechen nicht, nicht ihren Geruch. Wird er je wieder »draußen« unter anderen Menschen leben können? Welche Veränderungen sind in ihm vorgegangen!
[19]Jeder kann jeden Tag verhaftet werden. Aller Sache ist es, von der ich schreibe, nicht die einzelner, fremder Menschen. In den Gefängnissen die Leute sind nicht anders wie du, sie leiden wie du, sie möchten leben wie du. All dies hat, so umgrenzt, gar nichts mit den großen Worten wie Gerechtigkeit zu tun. Es ist eine rein praktische Frage, die jeden angeht.
2
Doch auch das Leben des Strafgegangenen ist schwer und dunkel genug. Gewiss, es gibt eine kleine Gruppe, die sich wohl fühlt, für die Strafe überhaupt keine Strafe ist. Es sind das in der Hauptsache junge Burschen vom Lande mit wenig entwickelter Intelligenz und geringem Trieb zum andern Geschlecht, ihre ganze Sorge konzentriert sich darauf, dass sie auch genug zu essen bekommen.
Zu ihnen treten die Walzenbrüder, die meist wegen Bettelei ihre sechs Wochen »abreißen«. Sie, die teilweise sehr oft vorbestraft sind (ich lernte einen kennen, der seine 43. oder 44. Strafe verbüßte), stehen der Strafhaft mit heiterer oder brummiger Gelassenheit, jedenfalls mit Gelassenheit gegenüber. Für ihre Einstellung scheint mir eine Frage kennzeichnend, die der eben erwähnte Rekord-Vorbestrafte an einen Untersucher, einen halb verzweifelnden älteren Beamten richtete: »Na, du bist wohl auch ein bisschen zur Erholung hier?« Das war kein Witz, ihm war es ernst mit dieser Frage. Für den Stromer ist das Gefängnis eine Erholung.
Aber das ist die Minderzahl, die andern leiden schwer genug. Und auch hier machen, wie bei den [20]Untersuchungsgefangenen, sinnlose, gedankenlose Grausamkeiten des Reglements das Schwere unnötig schwerer.
Warum darf ein Strafgefangener nur alle vier Wochen einen Brief absenden und empfangen? Ausnahmen sind statthaft, müssen aber in jedem einzelnen Fall erbeten werden, ihre Bewilligung ist ungewiss.
Warum darf er nur ein Bibliotheksbuch in der Woche bekommen? Gewiss, er soll arbeiten, aber, wenn er seine Arbeit getan hat, warum soll er da nicht lesen dürfen? Da sitzt er nun mit einem Kriegsecho, einem Roman von der Mahler oder gar einem jener elenden Traktätchen, die ein völlig verlogenes Hirn geschrieben haben muss, und liest es nun zum dritten Mal Wort für Wort, Satz für Satz, Seite für Seite – muss sein Hirn da nicht revoltieren?
Die lyrischen Dichter haben Unrecht: Kein Gefangener in einer preußischen Strafanstalt darf, das Gesicht gegen die Stäbe seines Gitters gepresst, dem Zuge der Wolken nachschauen oder sein Herz an Baumwipfeln erfreuen. Das Reglement verbietet das. Zum ersten ist sein Fenster aus geripptem, milchigem Glase, durch das kein Gegensand zu unterscheiden ist, dann aber darf er gar nicht auf sein Bett klettern und oben durch den freien Raum des Klappfensters spähen. Das wird streng bestraft. Ich habe selbst erlebt, dass ein Gefangener für diese Sünde mit drei Tagen schweren Arrests belegt wurde. Fluchtversuche werden mit schwerem...
Erscheint lt. Verlag | 7.5.2021 |
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Reihe/Serie | Reclams Universal-Bibliothek | Reclams Universal-Bibliothek |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Carsten Gansel Fallada • Deutsch • Deutsch-Unterricht • gelb • gelbe bücher • Hans Fallada Anekdoten • Hans Fallada Berichte • Hans Fallada Erstveröffentlichung • Hans Fallada Erzählungen • Hans Fallada Literatur • Hans Fallada Reden • Hans Fallada Wiederentdeckung • Klassenlektüre • Kleiner Mann was nun • Lektüre • Literatur Klassiker • Literatur Nachkriegsdeutschland • Literatur Nachkriegszeit • Literatur Stunde Null • Nachkriegsliteratur • Reclam Hefte • Reclams Universal Bibliothek • Rudolf Ditzen • Schullektüre • Trümmerliteratur • Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-15-961870-6 / 3159618706 |
ISBN-13 | 978-3-15-961870-8 / 9783159618708 |
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