Guldenberg (eBook)

Roman

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
284 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76774-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Guldenberg - Christoph Hein
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In dem kleinen Städtchen Bad Guldenberg ist die Welt noch in Ordnung. Jedenfalls, bis im Alten Seglerheim eine Gruppe minderjähriger Migranten untergebracht wird. Die Guldenberger sind sich einig: Diese Fremden passen einfach nicht in den Ort und sorgen nur für Unruhe. Mehr und mehr heizt die Stimmung sich auf, es kommt zu Pöbeleien, und als dann noch das Gerücht die Runde macht, eine junge Frau sei vergewaltigt worden, sind sich alle schnell einig, dass es einer der jungen Migranten gewesen sein muss. Und das wollen die Guldenberger nicht hinnehmen ...

Christoph Heins neuer Roman zeichnet das Sittengemälde einer Gesellschaft, die aus den Fugen gerät. Von Menschen, die sich als Opfer sehen und dabei Täter werden. Von Rassismus, wie er uns jeden Tag überall begegnet.



<p>Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad D&uuml;ben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universit&auml;t Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universit&auml;t Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksb&uuml;hne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle <em>Der fremde Freund / Drachenblut</em>.<br /> Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind <em>Spiegel</em>-Bestseller.</p>

2


Adil war nach Bad Guldenberg gekommen, weil jener Mann es so bestimmte, den er mit Herr Schmitt anzusprechen und der ihm seine Papiere abgenommen hatte. Er hatte Herrn Schmitt gebeten, ihn nach Berlin zu schicken, wo der Freund seines großen Bruders wohnte, aber der Mann hatte abgelehnt: »Guldenberg, verstehst du? Ich sage dir doch, du kommst nach Guldenberg. Die haben freie Plätze. Es soll ein schöner Ort sein. Dort wird es dir gefallen.«

Adil hatte weiter darauf gedrängt, nach Berlin zu dürfen, aber Herr Schmitt hatte nur den Kopf geschüttelt. Wieso er ihn duzte, wusste Adil nicht. Immerhin war er schon siebzehn und sah sogar älter aus. In seinem Sprachführer hatte er gelesen, dass Deutsche andere Erwachsene, die sie nicht kennen, zunächst siezten. Es sei eine Frage des Respekts. Die Anrede »Du«, so stand in dem Buch, sei nur bei Kindern und guten Freunden angebracht; oder man duzte jemanden, wenn man ihn geringschätzte.

Bereits am nächsten Morgen packte er seine Sachen und nach dem Mittagessen kam der kleine Bus, der ihn und fünf weitere junge Männer zu ihren neuen Quartieren bringen sollte. Nach Guldenberg kam außer ihm nur Enis, die anderen vier wurden in eine andere Stadt gefahren.

Er und sein älterer Bruder Tarek hatten bis nach Berlin reisen wollen, wo ein Freund Tareks lebte, bei dem sie hätten unterkommen können, und Adil hatte überlegt, einfach trotzdem zu versuchen, irgendwie nach Berlin zu kommen. Aber er hatte keine Adresse von Tareks Freund, er kannte nur seinen Vornamen oder vielleicht auch nur den Necknamen, Yassir, wie sein Bruder ihn genannt hatte, sein älterer Bruder, sein toter Bruder Tarek. Berlin, hatte er gehört, sei riesengroß, noch größer als Paris oder Beirut, wie sollte er da einen Yassir finden, den er nur einige Male bei Tarek gesehen hatte und der sich möglicherweise gar nicht an ihn erinnerte.

So hatte er die Entscheidung von Herrn Schmitt resigniert angenommen, war mit seinem Rucksack und der neuen Tasche mit den Begrüßungsgeschenken in den Bus gestiegen, hatte sich in die letzte Reihe gesetzt und sein Gepäck auf den Nebensitz gestellt. Er wollte keinesfalls, dass dieser Enis sich zu ihm setzte. Die anderen würde er wahrscheinlich nie wiedersehen, da erübrigte sich jedes Gespräch mit ihnen.

Enis war mehr als zwei Jahre jünger als er und eigentlich noch ein Kind, jedenfalls benahm er sich wie ein Baby. Obwohl er fünfzehn war, heulte er jeden Abend in seinem Bett. Er könne nicht einschlafen, habe er erklärt, als die Zimmernachbarn seiner Heulerei überdrüssig geworden waren. Jede Nacht flennen, das machten vielleicht Mädchen oder kleine Kinder, aber doch kein Fünfzehnjähriger. Mit Enis wollte er nichts zu tun haben, und er würde ihm auch in diesem Guldenberg aus dem Weg gehen. Enis war zwar ein Landsmann, aber er kam aus dem Norden, und deren Sprache verstand ohnehin kein Mensch.

Der Busfahrer musste in Guldenberg zwei Mal anhalten und nach dem Weg fragen. Schließlich parkte er vor einem zweistöckigen Haus am Stadtrand. Er stieg aus und sprach mit zwei Frauen, die aus dem Haus traten. Dann kam er mit einer der beiden Frauen zurück, sie stieg mit ihm in den Bus, lächelte die Jugendlichen an und las dann zwei Namen von einem Zettel ab, die Namen von Adil und von Enis. Sie sagte, sie wären jetzt in ihrem neuen Quartier angekommen, dem Alten Seglerheim, und bat die beiden, mit ihrem Gepäck auszusteigen. Als sie auf der Straße standen, wurde die Tür hinter ihnen geschlossen, der Bus fuhr los, um die übrigen jungen Männer irgendwo anders abzuliefern.

Die Frau gab Adil und Enis die Hand und sagte, sie heiße Marikke Brummig, aber sie sollten nur Marikke zu ihr sagen, hier würden sich alle beim Vornamen nennen.

»Ist das in Ordnung für euch?«

Beide nickten.

»Und das hier ist Ezra. Sie kommt aus Jerewan, aus Armenien, und spricht Arabisch. Sie ist nicht immer bei uns, sie kommt an zwei Tagen pro Woche. Wenn es sprachliche Probleme gibt, kann sie uns helfen. Und sie wird euch auch etwas Deutschunterricht geben.«

»Inshallah«, sagte Ezra und lächelte die beiden Jungen an.

»Mashallah«, erwiderte Adil, und Enis nickte lediglich verlegen.

»So, dann kommt ins Haus, damit ich euch euer Zimmer zeigen kann. Dann könnt ihr gleich die anderen kennenlernen. Die sind auch alle so alt wie ihr. Ihr teilt euch ein Zimmer. Einverstanden?«

»Ich allein schlafen«, sagte Adil.

»Das geht leider nicht, Adil. Das Alte Seglerheim ist bestens ausgestattet, aber wir sind ja kein Hotel. Wir haben vier Schlafräume, ein Zweibettzimmer, zwei für drei Betten und eins für vier. Und für euch zwei habe ich eins der Dreibettzimmer hergerichtet. Das dritte Bett ist vorläufig noch leer, aber wir bekommen noch zwei weitere Einquartierungen.«

»Ich gehen nicht mit Enis in ein Zimmer.«

»Warum nicht? Kommt ihr nicht miteinander aus?«

Er antwortete nicht. Das konnte er sich, wie er meinte, sparen, sie und die anderen würden noch früh genug mitbekommen, dass dieses Baby jede Nacht heulte.

»Na schön. Dann schläfst du, Enis, in dem anderen Dreibettzimmer, und du, Adil, hast für zwei oder drei Tage das Zimmer ganz für dich allein. So – ihr habt sicher Hunger?«

Adil und Enis nickten und liefen Frau Brummig und Ezra hinterher, die ihnen ihre Zimmer zeigten. Ezra übersetzte ihnen die Erklärungen von Marikke Brummig, die die beiden nicht verstanden.

In Adils Zimmer standen ein einfaches Holzbett und ein Doppelstockbett aus Metall. Er warf seinen Rucksack auf das Holzbett und stellte die Tasche auf den Tisch. Die beiden Frauen zeigten ihnen die anderen Räume des Hauses, den Speiseraum, das Bad und den Aufenthaltsraum. Und dann gab es noch einen verglasten Raum, von dem aus man über eine große Wiese auf einen See blicken konnte.

»Hier saßen früher die Leute vom Segelclub beisammen. Bevor sie in das größere Vereinsheim umgezogen sind. Ich nenne es das Gartenzimmer.«

Dann stellte sie ihnen zwei weitere Mitarbeiterinnen vor, Josephine und Friederike, zwei ihrer Schutzengel, wie Frau Brummig sagte, und vier ihrer Mitbewohner, die anderen waren gerade in der Stadt unterwegs. Frau Brummig und die drei Frauen strahlten sie aufmunternd an und redeten unaufhörlich auf sie ein, die vier Mitbewohner dagegen musterten sie misstrauisch und schwiegen.

Der Speiseraum lag neben der kleinen Küche, auf dem Tisch standen zwei Schalen und ein Korb mit Pitabrot. Frau Brummig forderte die beiden Neuankömmlinge auf, sich zu setzen, und bat Friederike, die aufgewärmte Suppe zu bringen.

Nach Einbruch der Dunkelheit waren die anderen vier Bewohner des Heims zurückgekommen. Die zehn jungen Männer saßen im großen Aufenthaltsraum, rechts auf den beiden Sesseln und den Stühlen am Tisch die syrischen Jugendlichen, auf der großen Eckcouch links die vier jungen Afghanen. Der Fernseher lief, aber der Ton war abgedreht, stattdessen plärrte Popmusik aus dem Radio. Einige folgten dem Fußballspiel im Fernsehen, drei saßen über ihre Lehrbücher gebeugt, nur zwei der jungen Afghanen unterhielten sich leise miteinander.

Enis hatte es sich in einem der Sessel bequem gemacht und sah fern. Ab und zu versuchte er mit einem der anderen Syrer ins Gespräch zu kommen, doch man antwortete ihm kaum, an einem Gespräch war keiner interessiert.

Adil saß in dem anderen Sessel und starrte vor sich hin. Irgendwann fragte er unvermittelt laut auf Arabisch in die Runde: »Wie ist es? Was ist hier? Was kann man machen?«

Für einen Moment wurde es ganz still im Raum, nur die Stimme der Sängerin aus dem Radio war zu hören, und es dauerte einige Sekunden, bevor jemand reagierte.

»Nichts«, sagte der Älteste der syrischen Jungs, »nichts ist hier. Nichts kann man machen.«

Und dann schnaubte er verächtlich.

»Verstehe«, sagte Adil. »Aber was macht ihr? Lernen, nur lernen immer?«

Einer, der über ein Buch gebeugt gewesen war, sah auf und meinte: »Du kannst in die Stadt gehen und dich von den Deutschen dumm anreden lassen. Wenn du Pech hast, hauen sie dir eine rein. Schau dich immer gut um, wenn du aus dem Haus gehst. Und nie allein gehen, niemals. Was hier los ist, erlebst du ab abends, wenn es dunkel ist, wenn sie ...

Erscheint lt. Verlag 10.5.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bestseller bücher • buch bestseller • DDR • Deutsche Demokratische Republik • Generationenroman • Glückskind mit Vater • neues Buch • Ostdeutschland • Sachsen • Spiegel-Bestseller-Liste • ST 5248 • ST5248 • suhrkamp taschenbuch 5248 • Wendeverlierer • Wiedervereinigung
ISBN-10 3-518-76774-7 / 3518767747
ISBN-13 978-3-518-76774-0 / 9783518767740
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