Der Nachtwächter (eBook)

Roman
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2021 | 2. Auflage
544 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2807-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Nachtwächter -  Louise Erdrich
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Pulitzer Prize for Fiction 2021.

Kann ein Einzelner den Lauf der Geschichte verändern? Kann eine Minderheit etwas gegen einen übermächtigen Gegner, den Staat, ausrichten? »Der Nachtwächter«, der neue Roman der mit dem National Book Award ausgezeichneten Autorin Louise Erdrich, basiert auf dem außergewöhnlichen Leben von Erdrichs Großvater, der den Protest gegen die Enteignung der amerikanischen UreinwohnerInnen vom ländlichen North Dakota bis nach Washington trug. Elegant, humorvoll und emotional mitreißend führt Louise Erdrich vor, warum sie zu den bedeutendsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart gezählt wird - und zeigt, dass wir alle für unsere Überzeugungen kämpfen sollten und dabei manchmal sogar etwas zu verändern vermögen.

»Mir stockte der Atem, als ich begriff, was meinem Großvater von seinem Nachtwächter-Schreibtisch aus gelungen war.« Louise Erdrich.

»Ein meisterhaftes Epos. Nach der Lektüre ist man tief bewegt und vermisst diese Figuren, als wären sie echte Menschen.« New York Times Book Review.

»Mit diesem Roman ist Louise Erdrich auf der Höhe ihrer genialischen Schaffenskraft angelangt.« Washington Post.



Louise Erdrich, geboren 1954 als Tochter einer Ojibwe und eines Deutsch-Amerikaners, ist eine der erfolgreichsten amerikanischen Gegenwartsautorinnen. Sie erhielt den National Book Award, den PEN/Saul Bellow Award und den Library of Congress Prize. Louise Erdrich lebt in Minnesota und ist Inhaberin der Buchhandlung Birchbark Books.

Schmalz auf Brot


Pixie Paranteau tupfte Klebstoff auf einen Edelsteinrohling, um ihn zum Bohren zu fixieren. Sie nahm den vorbereiteten Stein mit der Pinzette auf und legte ihn auf der Bohrkarte in eine winzige Vertiefung. Wenn sie wütend war, neigte sie zur Perfektion. Ihr Blick wurde schärfer, die Gedanken konzentrierter, die Atmung ruhig. Den Spitznamen Pixie trug sie seit ihrer Kindheit wegen ihrer feenhaft schräg stehenden Augen. Seit dem Highschool-Abschluss versuchte sie alle daran zu gewöhnen, sie Patrice zu nennen. Nicht Patsy, nicht Patty, nicht Pat. Aber selbst ihre beste Freundin weigerte sich, Patrice zu sagen. Und ihre beste Freundin saß direkt neben ihr und platzierte ebenfalls winzige Edelsteinrohlinge in endlosen Reihen. Nicht ganz so schnell wie Patrice, aber am zweitschnellsten von allen Mädchen und Frauen. Bis auf das Summen der Deckenleuchten war es in der Halle still. Patrice’ Puls verlangsamte sich. Nein, sie war kein Feenwesen, auch wenn sie zierlich war und die Leute manchmal »Wawiyazhinaagozi« zu ihr sagten, was man übelwollend als »Ist die niedlich!« übersetzen konnte. Patrice war nicht niedlich. Patrice hatte eine Festanstellung. Patrice stand weit über lächerlichen Zwischenfällen wie der Fahrt ins Nirgendwo, zu der Bucky Duvalle und seine Kumpel sie mitgenommen hatten, die seitdem überall herumerzählten, wie willig sie etwas mitgemacht hätte, das nie stattgefunden hatte. Das nie stattfinden würde. Und wenn man Bucky jetzt ansah … Nicht, dass sie etwas damit zu tun gehabt hätte, was mit seinem Gesicht passiert war. So etwas tat Patrice nicht. Patrice wollte auch darüberstehen, das braune Erbrochene ihres versoffenen Vaters auf der Bluse zu finden, die sie zum Trocknen neben den Ofen gehängt hatte. Er war von einer seiner Sauftouren zurück, geiferte, spuckte, drängte, heulte, drohte ihrem kleinen Bruder Pokey und flehte Pixie um nur einen Dollar an, nein, einen Quarter, um einen Dime bloß. Nicht mal einen winzigen Dime? Wollte zwei Finger aufeinanderlegen und brachte sie nicht zusammen. Nein, sie war nicht diese Pixie, die das Messer versteckt und ihrer Mutter geholfen hatte, ihn auf ein Feldbett im Schuppen zu verfrachten, damit er schlafen konnte, bis er das Gift los war.

Heute Morgen hatte sie eine ihrer alten Blusen angezogen, war zur Straße vorgelaufen und zum ersten Mal bei Doris Lauder und Valentine Blue mitgefahren. Ihre beste Freundin hatte so einen poetischen Namen und gönnte ihr noch nicht einmal Patrice. Im Auto hatte Valentine vorn gesessen und gesagt: »Pixie, sitzt du gut auf der Rückbank? Ich hoffe, du hast es bequem.«

»Patrice«, sagte Patrice.

Keine Antwort.

Valentine! Da plauderte sie nun mit Doris Lauder über Kuchen mit Kokosraspeln. Kokosraspeln? Wuchsen etwa in tausend Meilen Umkreis irgendwo Kokosnüsse? Valentine. In ihrem orange-goldenen Tellerrock. Schön wie der Abendhimmel. Und drehte sich nicht ein Mal um. Reckte die Finger in ihren schicken neuen Handschuhen, damit Patrice sie bewundern konnte, aber bloß von hinten. Und dann tauschte sie sich mit Doris darüber aus, wie man Rotweinflecken aus einer Serviette entfernen konnte. Als hätte Valentine je eine Serviette besessen! Und hätte je Rotwein getrunken, außer heimlich, draußen. Behandelte Patrice, als ob sie sich kaum kannten, bloß weil Doris Lauder eine Weiße war, neu im Betrieb, eine Sekretärin, die mit dem Auto ihrer Familie zur Arbeit fahren durfte. Doris hatte Valentine angeboten, sie mitzunehmen, und Valentine hatte gesagt: »Meine Freundin Pixie wohnt auch auf dem Weg, könntest du …«

Und hatte sie teilhaben lassen, wie man es von einer Freundin auch erwarten würde, sie dann aber ignoriert und sich geweigert, ihren richtigen Namen zu benutzen, unter dem sie gefirmt war, der Name, unter dem sie – vielleicht war es peinlich, das zu denken, aber sie tat es trotzdem – es eines Tages noch weit bringen würde.

Mr Walter Vold schritt, die Hände hinter dem Rücken, die Reihe der Frauen ab und begutachtete lauernd ihre Arbeit. Alle paar Stunden verließ er sein Büro und inspizierte jede einzelne Station. Alt war er nicht, hatte aber hagere, steife Beine. Bei jedem Schritt schnellten seine Knie mit einem Ruck nach vorn. Heute ertönte dabei ein stockendes Kratzen. Von der Hose wahrscheinlich, die aus einem schwarz glänzenden, festen Stoff war. Das Quietschen von Schuhsohlen auf dem Boden. Er blieb hinter ihr stehen. Hob seine Lupe. Dann senkte er seinen schwitzigen Schuhkarton-Kiefer über ihre Schulter und verströmte muffigen Kaffee-Atem. Patrice arbeitete weiter, mit ruhigen Händen.

»Ausgezeichnete Arbeit, Patrice.«

Ha, seht ihr?

Er ging weiter. Kratz. Quietsch. Doch Patrice wandte nicht den Kopf, um Valentine zuzuzwinkern. Patrice kostete es nicht aus. Sie spürte, dass ihre Monatsblutung anfing, aber sie hatte einen sauberen gefalteten Stoffrest an ihrer Unterhose befestigt. Selbst das. Ja, selbst das.

Mittags versammelten sich die Frauen und die wenigen männlichen Fabrikarbeiter in einem Raum, der die Kantine darstellen sollte. Es gab eine Küche, aber es waren noch keine Köche angeheuert worden, die das Mittagessen hätten zubereiten können, also setzten sich die Arbeiterinnen an die Tische und aßen, was sie mitgebracht hatten. Manche hatten Brotbüchsen, andere Schmalztöpfe. Wieder andere brachten mit einem Stück Sackleinen bedeckte Teller. Aber das hieß meistens, dass sie teilen wollten. Patrice hatte einen gelben Siruptopf dabei, der bis auf das Metall blank geschrubbt und heute mit rohem Brotteig gefüllt war. Ja, mit Teig. Sie hatte auf dem Weg zur Tür danach gegriffen, von der Raserei ihres Vaters so erschüttert, dass sie fast rannte, und hatte vergessen, dass sie vorgehabt hatte, ihn vor dem Frühstück in der Pfanne ihrer Mutter auszubacken. Und gefrühstückt hatte sie auch nicht. Seit zwei Stunden zog sie schon den Bauch ein, um das Magenknurren zu unterdrücken. Valentine hatte es natürlich trotzdem bemerkt. Aber jetzt plauderte sie natürlich mit Doris. Patrice aß einen Happen Teig. Er schmeckte nicht schlecht. Valentine warf einen Blick in den Topf, sah den rohen Teig und lachte.

»Ich habe vergessen, ihn zu backen«, sagte Patrice.

Valentine schaute sie mitleidig an, aber eine andere Kollegin, eine verheiratete Frau namens Saint Anne, lachte über Patrice’ Geständnis. Es machte die Runde, dass sie rohen Teig in ihrem Siruptopf hatte. Dass sie vergessen hatte, ihn zu backen oder zu braten. Patrice und Valentine waren die jüngsten Mädchen im Werk, gleich nach dem Schulabschluss waren sie angeheuert worden. Mit neunzehn Jahren. Saint Anne schob für Patrice ein Butterbrötchen über den Tisch. Jemand anderes reichte einen Haferkeks zu ihr durch. Doris gab ihr ein halbes Schinkensandwich. Patrice hatte einen Witz gerissen. Gleich würde sie darüber lachen und sofort den nächsten reißen.

»Du hast doch nie was anderes mit als Schmalz auf Brot«, sagte Valentine.

Patrice klappte den Mund zu. Alles schwieg. Valentine hatte sagen wollen, dass Schmalz auf Brot ein Arme-Leute-Essen war. Aber jeder mochte Schmalzschnitten mit Salz und Pfeffer.

»Das klingt lecker. Hat jemand so was dabei?«, fragte Doris. »Gebt mir doch ein Stückchen zum Probieren.«

»Hier«, sagte Curly Jay, die ihren Namen den Engelslöckchen verdankte, die sie als Kind gehabt hatte. Er war ihr geblieben, obwohl ihre Haare ganz glatt geworden waren.

Alle schauten Doris zu, wie sie das Schmalzbrot probierte.

»Gar nicht schlecht!«, verkündete sie.

Patrice schaute Valentine mitleidig an. Oder war es Pixie, die das tat? Jedenfalls war die Mittagspause vorüber, und ihr Magen würde sich bis zum Abend nicht mehr beschweren. Sie bedankte sich laut bei allen am Tisch und ging ins Bad.

In der Frauentoilette waren zwei Kabinen. Patrice erkannte Valentine an den braunen Schuhen mit den übermalten Kratzern. Sie hatten alle beide ihre Tage.

»O nein«, sagte Valentine hinter der Trennwand. »Oh, es ist schlimm.«

Patrice klappte ihre Handtasche auf, rang ein wenig mit sich und reichte eins ihrer gefalteten Stoffstücke unter dem Holz durch. Es war blitzsauber, weiß, gebleicht. Valentine nahm es ihr ab.

»Danke.«

»Danke, wer?«

Ein Zögern.

»Ich schulde dir meinen verdammten Dank, Patrice.« Sie lachte. »Du hast mir den Arsch gerettet.«

»Deinen flachen Arsch.«

Wieder Gelächter. »Deiner ist flacher.«

In der Hocke befestigte Patrice das nächste Tuch. Das benutzte wickelte sie in Toilettenpapier und dann in ein Stück Zeitungspapier, das sie eigens dafür aufbewahrt hatte. Als Valentine weg war, verließ sie die Kabine und versenkte das Bündel tief unten im Müllbehälter. Sie wusch sich mit Seifenpulver die Hände, rückte die Wäscheschoner unter ihren Achseln zurecht, glättete ihr Haar, zog den Lippenstift nach. Als sie herauskam, saßen die meisten anderen schon wieder auf ihren Plätzen. Schnell schlüpfte sie in den Kittel und schaltete ihr Licht an.

Als der Nachmittag zur Hälfte um war, begannen ihre Schultern zu brennen. Ihre Finger krampften, ihr flacher Arsch war taub. Reihenaufseherinnen ermahnten die Frauen regelmäßig, aufzustehen, sich zu strecken und die gegenüberliegende Wand anzuschauen. Dann rollten die Arbeiterinnen mit den Augen. Schauten noch einmal in die Ferne. Nachdem sie die Augen erfrischt hatten, bewegten sie die Hände, reckten die Finger, massierten die schmerzenden Knöchel. Schon ging es wieder an die zähe, hypnotische Arbeit. Unerbittlich kamen die...

Erscheint lt. Verlag 1.7.2021
Übersetzer Gesine Schröder
Sprache deutsch
Original-Titel The Night Watchman
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerikanische Ureinwohner • Bürgerrechte • Chippewa • emanipationsakt • First Nations • Gleichberechtigung • Indianer • Minderheiten • Native Americans • Pulitzer • Pulitzer Preis • pulitzer preis romane • Vertreibung
ISBN-10 3-8412-2807-0 / 3841228070
ISBN-13 978-3-8412-2807-9 / 9783841228079
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