Alles über Dostojewski (eBook)

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2021 | 1. Auflage
176 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2799-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alles über Dostojewski -  Klaus Städtke
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Fjodor Dostojewski - das Spiel mit Leidenschaften und Trieben.

Mörder, Masochisten oder hellsichtige Toren sind sie zumeist, die ungewöhnlichen Helden in den Werken des großen russischen Erzählers, darunter 'Schuld und Sühne', 'Die Dämonen' oder 'Die Brüder Karamasow', der 'großartigste Roman, der je geschrieben wurde' (Sigmund Freud). Klaus Städtke, der hervorragende Dostojewski-Kenner, führt uns durch eine Welt der Leidenschaften, des Machtstrebens, aber auch der inneren Wandlung. Seine gekonnten Nacherzählungen ziehen den Leser unweigerlich in den Bann dieser zeitlosen Meisterwerke mit ihren schockierenden Begebenheiten; in seinem Nachwort bringt er uns ihren Schöpfer nahe.

'Ohne ihn wüsste die Menschheit weniger um ihr eingeborenes Geheimnis, weiter als je blicken wir von der Höhe seines Werkes in das Zukünftige hinein.' Stefan Zweig.

Erweiterte Neuausgabe - mit den schönsten Briefen an die Ehefrau Anna Grigorjewna Dostojewskaja.



Klaus Städtke (1934-2019), Studium der Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, danach Sprachlehrer, Übersetzer und Dolmetscher. Mehrjährige Studien in Moskau und Leningrad. Ab 1972 Mitarbeiter am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin. 1988 verließ er die DDR und wurde 1989 als Professor an die Universität Bremen berufen, wo er bis 1999 Kulturgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas lehrte. Herausgeber und (Mit-)Autor u. a. von: Studien zum russischen Realismus des 19. Jahrhunderts, Berlin 1973; Dichterbild und Epochenwandel in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bochum 1996; Russische Literaturgeschichte, Stuttgart - Weimar 2002.

Der Doppelgänger


Als der Petersburger Titularrat Jakow Petrowitsch Goljadkin am Morgen in den Spiegel schaut, ist er erleichtert: Er sieht sein vertrautes Allerweltsgesicht, das sich, Gott sei Dank, über Nacht nicht verändert hat. Nachdem er genüßlich sein Geld – immerhin 750 Rubel – gezählt hat, macht er sorgfältig Toilette, ruft seinen Diener Petruschka, für den er eine Livree ausgeliehen hat, und fährt mit ihm in einer hellblauen Mietequipage zum Newski-Prospekt.

An einer Straßenkreuzung blicken ihm zwei Kollegen aus der Kanzlei verwundert nach, zeigen mit dem Finger auf ihn und rufen seinen Namen. Wenig später fährt in einem offenen Wagen auch noch der Abteilungschef Andrej Filippowitsch an ihm vorüber und scheint ebenfalls erstaunt über die Begegnung. Goljadkin fühlt sich unbehaglich in dieser für seine niedere soziale Stellung etwas übertriebenen, vielleicht sogar anmaßenden Aufmachung und gibt sich nicht zu erkennen: »Ich … ich bin eben einfach gar nicht ich, ganz einfach, ich bin ein ganz anderer!« Unsicher, was diese spontane Selbstverleugnung bedeuten könnte, besucht er seinen Arzt, Dr. Krestjan Rutenspitz. Der verwunderte Doktor fragt ihn zunächst vergeblich nach dem Grund seines unverhofften Besuchs. Goljadkin antwortet etwas verworren und beginnt sich zu rechtfertigen: er sei »nur ein kleiner Mensch«, »kein Ränkeschmied«, tue »nichts heimlich und hinterrücks«, trage »keine Maske« und sei »im Schönreden kein Meister«. Plötzlich aber bricht er in Tränen aus und gesteht: »Ich habe Feinde, die sich verschworen haben, mich zugrunde zu richten!« Vor Tagen habe er bei Olsufi Iwanowitsch einigen Gästen die Meinung gesagt, worauf man über ihn das Gerücht verbreitete, er habe einer Köchin die Heirat versprochen und seine Zusage nicht gehalten. Als Dr. Rutenspitz Näheres darüber erfahren möchte, weicht Goljadkin aus und verläßt hastig die Praxis.

Spätestens nach diesem Gespräch zwischen dem Arzt und seinem Patienten ahnt der Leser, daß mit dem Romanhelden etwas nicht stimmt. Am Morgen der besorgte Blick in den Spiegel, unterwegs die Idee der Selbstverleugnung und schließlich das verworrene Bekenntnis bei Dr. Rutenspitz verraten ein Bewußtsein, das die Wahrnehmungen der Außenwelt mit den offenbar von unklaren Ängsten und Schuldgefühlen erzeugten Bildern der inneren Vorstellung nicht mehr koordinieren kann.

Den weiteren Vormittag verbringt Goljadkin mit Besorgungen, bestellt teuren Schmuck, Stoffe und diverse Modeartikel, verspricht anzuzahlen und abzuholen, hat aber schließlich nur Kleinigkeiten im Wert von einem Rubel und fünfundfünfzig Kopeken gekauft. Als er in einem Restaurant zu Mittag ißt, trifft er wieder die beiden Kollegen, denen er schon am Morgen begegnet war. Vor ihren Fragen nach seiner stutzerhaften Aufmachung weicht er mit vagen Andeutungen aus. Nach dem Essen befiehlt er Petruschka, zur Ismailow-Brücke zu fahren, zum Haus seines ehemaligen Gönners Olsufi Iwanowitsch, der zum Geburtstag seiner Tochter Klara ein Fest gibt, zu dem viele Gäste geladen sind. Dort versucht er, »mehr tot als lebendig«, sich Zutritt zu verschaffen, wird aber von der Dienerschaft abgewiesen und schließlich gezwungen, das Haus zu verlassen.

Der Erzähler bedauert, das glanzvolle Ereignis der Geburtstagsfeier nicht gebührend würdigen zu können – »Oh, wäre ich doch ein Dichter … dann, meine verehrten Leser! Dann würde ich Ihnen in leuchtenden Farben mit kühnem Pinsel diesen ganzen hochfeierlichen Tag zu schildern versuchen« –, und wendet sich wieder seinem Helden zu. Goljadkin hat inzwischen einen zweiten Versuch unternommen, doch noch auf das Fest zu gelangen. In einem dunklen Winkel des Hauses wartet er auf eine Möglichkeit, sich unauffällig unter die Gäste zu mischen. »Nicht aus eigener Kraft, sondern gleichsam einer fremden folgend«, befindet er sich plötzlich im Ballsaal und steht unverhofft vor Klara. Zwar möchte er augenblicklich in den Boden versinken und sich »noch in dieser Nacht erschießen«, bringt aber doch eine Gratulation zustande. Dann erstarrt er plötzlich. Das beredte Schweigen der Anwesenden und die wütenden Blicke ringsum erklären ihm seine Lage: Man will ihn loswerden. Er aber, »als wisse er selbst nicht, was er tat«, führt Klara zum Tanz, kommt dabei ins Stolpern. Man drängt ihn gewaltsam zum Ausgang, und mit letzter Kraft stürzt er aus dem Haus. Der Versuch, seine verletzte Ehre – man erinnere sich an die verworrenen Andeutungen bei Dr. Rutenspitz – am selben Ort und um jeden Preis wiederherzustellen und, wenn möglich, die Gunst Klaras zu gewinnen, ist gescheitert. Er hat alles auf eine Karte gesetzt und verloren. Nach dem Rausschmiß fühlt er sich »erschlagen und tot«. Das Wetter, eine Petersburger Novembernacht, ist grauenvoll. Auf dem Heimweg macht Goljadkin den Eindruck, als wolle er vor sich selbst davonlaufen. Am liebsten hätte er sich »auf der Stelle vernichtet, in Staub und Nichts verwandelt«.

Der Widerspruch zwischen seinem skandalösen Verhalten auf dem Fest und dem nachfolgenden Gefühl, ins Nichts versinken zu müssen, erhellt den Hintergrund der zu vermutenden seelischen Störung. Goljadkin fürchtet nichts so sehr wie eine Entlassung aus dem Dienst und die damit verbundene soziale Deklassierung. Sehnlichst wünscht er sich hingegen beruflichen Aufstieg und persönliche Anerkennung. In diesem Dilemma zwischen Furcht und Begehren treten ihm die anderen einerseits als Feinde und Konkurrenten entgegen, zum anderen als vorgesetzte und unantastbare Autoritäten, deren Gunst man gewinnen und sich erhalten muß. Auf der Grundlage dieser Einstellung malt ihm seine überhitzte Phantasie ein trügerisches Bild der Umwelt, ein Bild, das nach dem Fest zusammenfällt und seine Identität und persönliche Integrität »in Staub und Nichts« verwandelt.

Im nächtlichen Schneetreiben gewahrt er plötzlich eine Gestalt, die ihm entgegenkommt, vorübergeht und erneut auftaucht. Dieser Unbekannte, der ihm in seine Wohnung folgt und schließlich vor ihm auf seinem Bett sitzt, ist kein anderer als sein Doppelgänger. Als dieser am nächsten Morgen auch zum Dienst in der Kanzlei erscheint, rätselt Goljadkin zunächst noch, »wer der wirkliche Herr Goljdakin und wer der nachgemachte sei, wer der alte und wer der neue, wer das Original und wer die Nachbildung«. Angst befällt ihn, und er beginnt an seiner Existenz zu zweifeln. Der Bürovorsteher erkundigt sich besorgt nach seiner Gesundheit, während die Kollegen die sichtbare Ähnlichkeit zwischen den beiden Goljadkins im übrigen gelassen zur Kenntnis nehmen. Man erinnert sich an siamesische Zwillinge oder an eigene Erlebnisse (»Meine Tante hat sich kurz vor ihm Tod auch doppelt gesehen«). Der Held versucht sich abzulenken, genießt nach Arbeitsschluß das Winterwetter auf dem Newski- Prospekt und versichert sich ständig seiner ihm noch verbliebenen moralischen Identität, bis der Doppelgänger erneut auftaucht und um ein Gespräch bittet. Goljadkin lädt ihn zu sich nach Hause ein, läßt sich dessen Lebenslauf, »eine ganz gewöhnliche Geschichte«, erzählen, bewirtet ihn, trägt ihm seine Freundschaft an und läßt ihn am Ende sogar bei sich übernachten.

Doch am nächsten Morgen in der Kanzlei ist die freundschaftliche Annäherung vom Abend zuvor vergessen. Als Goljadkin die von ihm bearbeiteten Papiere ins Büro des Chefs bringen will, reißt ihm der andere die Akte aus der Hand, legt sie selber vor und wird von Andrej Filippowitsch gelobt. Der verwirrte Goljadkin fühlt sich erniedrigt und gedemütigt. Soll er sich rächen oder vielleicht die ganze Angelegenheit um seine Person einfach ignorieren? Doch der Doppelgänger läßt sich nicht abschütteln. Als er sogar im Restaurant erscheint und seine Rechnung durch Goljadkin begleichen läßt, schreibt ihm dieser einen Brief, in dem er sich beschwert: »Ihr hartnäckiges Bestreben, geehrter Herr, mit aller Gewalt in meine Existenz und in meinen Lebenskreis einzudringen, übersteigt alle Grenzen der Höflichkeit und des einfachen Anstandes.« Petruschka soll bei Wachramejew, dem Sekretär der Kanzlei, die Adresse des anderen ermitteln und den Brief übergeben. Erst in der Nacht kehrt Petruschka, völlig betrunken, zurück. Mit einiger Mühe bringt Goljadkin heraus, daß man seinem Diener als Adresse des Doppelgängers seine eigene genannt hat. Außerdem ist da noch ein Brief von Wachramejew. Der Sekretär kündigt Goljadkin die Freundschaft und beschuldigt ihn, vor Zeiten die ehrbare Köchin Karolina Iwanowna durch ein nicht gehaltenes Heiratsversprechen beleidigt zu haben. Dieser weist energisch alle Vorwürfe zurück und fügt in dunkler Andeutung hinzu, daß Personen, die durch ihre Anmaßung andere aus ihrer Stellung zu verdrängen suchen, entweder ins Irrenhaus kommen oder vom Gesetz belangt werden können.

Die Erlebnisse des Tages haben Goldjakin »bis auf den Grund seines Seins« erschüttert. In der Nacht träumt er von einer vornehmen Gesellschaft, in der er sich auszeichnet, so daß ihn alle liebgewinnen. Doch diesen Triumph zerstört der auch hier auftauchende Doppelgänger. Vor dem Haus weigern sich die Droschkenkutscher, ihn, »einen Menschen, der doppelt dasteht«, zu fahren. Er flüchtet zu Fuß und sieht sich von einer Reihe Doppelgänger verfolgt, die ganz Petersburg überfluten, bis ein Polizist sie in das nächstbeste Schilderhaus stopft.

Als er gegen Mittag endlich aufwacht, eilt er ins Büro, um Neues über sich und seine Lage zu erfahren, doch ohne Erfolg. Dabei sieht er, daß sein Doppelgänger das Wohlwollen der Vorgesetzten und Kollegen längst gewonnen hat. Goljadkin versucht sich zu rechtfertigen, zunächst vor seinem Abteilungschef, dann beim Bürovorsteher, der jedoch alle gegen...

Erscheint lt. Verlag 20.9.2021
Reihe/Serie Für Eilige
Für Eilige
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
Schlagworte Brüder Karamasow • Der Idot • Der Spieler • Die Dämonen • Dostojewski • Erniedrigte und Beleidigte • Klassiker • Leben und Werk • Russische Literatur • Schuld und Sühne • Weltliteratur
ISBN-10 3-8412-2799-6 / 3841227996
ISBN-13 978-3-8412-2799-7 / 9783841227997
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