Wo die Hunde in drei Sprachen bellen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021
368 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-07265-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo die Hunde in drei Sprachen bellen - Ioana Parvulescu
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Ein Haus, die Bewohner und ihre Geschichten - 'Ioana Pârvulescus Roman macht Fernweh nach Heimat und Heimweh nach der Ferne.' Jan Koneffke
Das Tor ist der Mund, die Fenster sind die Augen - in der Vorstellung der kleinen Ana bekommt das Haus in der einstmaligen Johannisgasse im siebenbürgischen Kronstadt ein Gesicht, hat Gedanken und Gefühle. Zwei Erdbeben, zwei Weltkriege und einen Bombenangriff hat es heldenhaft überlebt und das Verschwinden seiner 'Geschwister' vis-à-vis auf Kosten eines Plattenbauhotels. Von den Bewohnern dieses Hauses über mehrere Generationen und mit mehreren Nationalitäten erzählt die gebürtige Kronstädterin Ioana P?rvulescu in ihrem ersten auf Deutsch veröffentlichtem Roman, dem es spielerisch gelingt, eine freudlose Zeit in einem permanenten Glanz erscheinen zu lassen.

Ioana Pârvulescu, geboren 1960 in Brasov, Rumänien, ist Professorin für neue Literatur an der Universität Bukarest. Darüber hinaus arbeitet sie als Lektorin und als übersetzerin aus dem Französischen (Milan Kundera, Asterix) und Deutschen. 2013 und 2018 wurde sie mit dem Literaturpreis der EU ausgezeichnet. Bei Zsolnay erschien ihr Roman Wo die Hunde in drei Sprachen bellen (2021) auf Deutsch.

Das Haus


Später hat mir jemand gesagt, das sei das Paradies schlechthin

Damals hatten die Häuser für mich ein Gesicht. Will sagen, ein menschliches Gesicht. So malte ich sie auch, stets mit zwei Fenstern, das waren die Augen, unten in der Mitte ein überwölbtes Tor, der Mund, missmutig. In die Augen setzte ich manchmal auch Topfpflanzen mit roten Blüten. Nie hatten sie eine andere Farbe: Meine Welt war einfach und wiederholte sich, ohne mich zu langweilen. Später hat mir jemand gesagt, das sei das Paradies schlechthin.

Natürlich erschienen mir die Häuser, wenn ich durch die Straßen meiner Geburtsstadt ging, verschieden, allerdings hatten sie alle ein menschliches Gesicht. Ich erinnere mich an ein großes, mit etwa acht Augen, von denen eins kaputt und verbunden war, weil es aber immerhin noch sieben ganze hatte, betrachtete ich es nicht als blind im Unterschied zu einem anderen, einem richtigen Piraten mit einem einzigen Auge, da das andere von Efeu bedeckt war. Das Hotel Aro wiederum, das uns den Rücken zukehrte, hatte von oben bis unten nichts als Augen. Nasen hatten die Häuser in meiner Kindheit keine, dadurch machten sie einen durchaus wohlanständigen Eindruck.

Unser Haus war in derselben Stadt geboren wie ich. Zusammen wohnten wir auf der Strada Vladimir Maiakowski, und diesen Namen konnte niemand richtig schreiben. Die einen schrieben ihn mit zwei chi, andere mit chi und k, viele setzten ein y ans Ende. Nur für die ganz Alten war der Name Maiakowski ganz einfach Sfântu Ioan, sodass unser Haus mitsamt Dachboden und Keller, was man nicht für möglich gehalten hätte, zweimal im Leben die Adresse änderte: Einmal um 1950 war es von der Sfântu Ioan auf die Maiakowski umgezogen, dann zog es 1990 von der Maiakowski zurück auf die Sfântu Ioan. Mit den Augen stand es nicht zum Besten, es hatte eins zu viel oder eins zu wenig, wie man es nahm: zwei im Erdgeschoss, etwas nah beieinander, und drei in der ersten Etage. Wenn man genauer hinsah, hatte auch das Ziegeldach zwei Glubschäuglein, von denen eines seltsamerweise am Abend erleuchtet war. Sein Mund war schmal und stand senkrecht, so, dass er zur Not ein Auto schlucken konnte. Das allerdings kam selten vor, wenn Gäste aus einer anderen Stadt kamen, gewöhnlich fraß er nur Menschen, vier Familien und uns, die vier Kinder des Hauses. Das waren zwei Mädchen und zwei Buben, Geschwister und Cousins, in der Reihenfolge ihrer Ankunft auf der Welt: Dina, Doru, Matei und Ana. Ana bin ich, wie du weißt. Dina hatte ein ovales Gesicht mit weißer Haut, gerahmt von kastanienbraunen Haaren, mandelförmige blaue Augen und geschwungene Wimpern. Sie war schön und schien über den Dingen zu schweben. Doru kam in denselben Farben daher wie seine Schwester, allerdings war er kurzgestutzt und redete weniger als sie, dabei geriet er, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hatte, kurz ins Stottern, was uns überhaupt nicht auffiel. Er aber lenkte von sich aus unsere Aufmerksamkeit darauf, freuten wir uns doch alle sehr, wenn wir mit einer ungewöhnlichen Eigenheit brillieren konnten. Mein Bruder Matei hatte grüne Augen und einen scharfen Blick, den er von Großvater geerbt hatte, dazu Einfälle, die für die ganze Gruppe ausgereicht hätten, stets war etwas Neues dabei. Er war wie Quecksilber. Dina war sieben, Doru fünf, Matei zwei Jahre älter als ich. Ich selbst hatte zu jener Zeit ein Vollmondgesicht, runde schwarze Augen, und rannte ihnen hinterher, ohne irgendetwas zu begreifen. Morgens spuckte uns das Haus alle durch denselben Mund aus, in der Reihenfolge, in der wir zum Kindergarten oder zur Schule mussten, die zufällig mit der Reihenfolge übereinstimmte, in der wir zur Welt gekommen waren. Ich war als Letzte gekommen und ging als Letzte.

Drinnen, im Bauch des Hauses, geschahen merkwürdige Dinge. Am schwersten zu verstehen war, dass wir nicht alle, Alte, Erwachsene und Kinder, im selben Haus wohnten, dieses nahm nämlich jeweils die Form der Generation an, die es gerade beherbergte. Für die Alten, die es vor sehr langer Zeit gekauft hatten, war das Haus eine Welt für sich, voller untergegangener Lebensarten: Betten mit algengleich geschwungenen Rahmen und Schränke mit ebensolchen Kanten, ein hoher, kristallen schimmernder venezianischer Spiegel, der die beiden Weltkriege unbeschadet überdauert hatte, silbernes Besteck mit verschlungenen Initialen auf den Griffen, ein Gefäß mit in Elfenbein geschnitzten Najaden, Bilder von weißen Schneefeldern, entblätterten Bäumen und schwarzen Vögeln, die mir etwas düster erschienen, Kleider mit allerhand Knöpfchen, Schlaufen und Rüschen wie winzige Fächer, Servietten und Tischtücher mit gestickten Säumen und Monogrammen, Bänder, die zu Fliegen gebunden wurden, ein Spazierstock, eine Hemdbrust. Und jede Menge Hüte, die wir anprobierten und die uns über die Augen rutschten. Steckte man die Nase in den Schrank, hatte man sie gleich voller Parfüm und Stärke. Die Worte der Alten schienen ebenfalls mit Säumen, Falten, Parfüm und Monogramm versehen. Irgendwann hörte ich sie mit immer weiter gesenkter Stimme von Goldfüchslein reden, ich spitzte die Ohren, weil ich meinte, es ginge um Tierchen, die ich nur zu gern gesehen und gestreichelt hätte, aber ich fragte nicht nach.

Für die Erwachsenen, die Kinder der Alten, war das Haus ein Schrecken, ebenso wie wir, die Kinder der Erwachsenen, und sie waren kaum jemals zufrieden, weder mit ihm noch mit uns. Auch die Erwachsenen waren Kinder im selben Haus gewesen. Jetzt wollten sie es verändern, es herrichten, es ausbessern: Mal ging es ums Dach, durch das es hereinregnete, mal um die abblätternde Farbe im Treppenhaus, um die eine oder andere Tür, die nicht mehr schloss, weil sie von der Feuchtigkeit gequollen war, um alte Rohrleitungen, den verstopften Kanal, die Mäuse auf dem Dachboden, kurzum, sie gönnten ihm keine Ruhe, und das Haus zahlte mit derselben Münze zurück, es ließ ihnen seinerseits keine Ruhe. Sie sagten, es sei alt, es sei von vornherein nicht gut geplant worden, wir hätten keinen Platz. Nicht zu reden davon, dass sie dauernd etwas daraus verkauften — es tat einem in der Seele weh. Sie sagten, sie hätten keine Wahl. Sie sagten, man sollte nicht an Dingen hängen. Sie sagten, sie bräuchten Geld. Sie sagten: »Hauptsache, gesund!«

Für uns Kinder hingegen war das Haus stets frisch und anziehend, ein Ort der Entdeckungen, makellos, unendlich und unsterblich. Damals wusste ich allerdings auch von den Menschen noch nicht, dass sie sterben, wie denn dann von Häusern, Städten, Kulturen oder Sternen. Aber das Leben war gerade im Begriff, mir zu zeigen, dass es anders ist. Ein Leben lang habe ich gelernt: Nichts ist wirklich so. Jedenfalls zog jeder, der ein Alter verließ, um in ein anderes einzutreten, auch in ein anderes Haus. Will sagen, aus dem einen unsichtbaren in ein anderes unsichtbares.

Die Sommerferien rückten näher. In unseren Familien war die Stimmung seit einer Weile angespannt, aus heiterem Himmel gab es Streit, und unsere Großtante Magda, eine Frau, die stärker war als Männer, obwohl ihre Hand ganz heftig zitterte, als hackte sie in einem fort Auberginen, hatte ich einige Male mit geröteten Augen ertappt. Alle nannten wir sie Tante, behalt diese Einzelheit bitte im Sinn, denn von nun an werde ich sie nur so nennen. Ihr Mann wiederum, Onkel Ionel, mit immer noch schwarzem Schnurrbart und weißem Bürstenhaar, der zwei Stimmen hatte, eine fröhliche und eine ärgerliche, hatte in letzter Zeit eine dritte hinzubekommen, eine verbitterte:

»Verdammter Mist! Was machen wir bloß mit diesem Schimmel?« Dabei zeigte er auf die Treppe, wo sich an der Wand ein feuchter Fleck Stufe um Stufe nach oben zog wie ein Schatten.

So eindrucksvoll, wie sie waren, er und seine Stimmen, hätte man nicht gedacht, dass er dermaßen schwächeln könnte, aber unter allen in dem Haus war er der Empfindsamste. Immerhin schlug er manchmal mit der Faust auf den Tisch, dass es zum Fürchten war. Dann schürzte die Tante ihre schönen Lippen, warf ihm einen bestimmten Blick zu und ging aus dem Zimmer. Die beiden wohnten im Erdgeschoss, und da sie keine Kinder hatten, zogen sie meine Cousine auf. Dina hatte zwei Mütter und zwei Väter, was oft genug zu Verwirrungen führte.

Als Antwort hatte Onkel Ionel den Seufzer seiner Frau erhalten, dann lachte sie nervös auf mit ihren Lippen wie die einer Schauspielerin — um den Mund ähnelte sie Jane Fonda, und sprach eine paar unverständliche Worte ohne Monogramm:

»Ersticken sollen sie dran!«

Ich erschrak. Was Schimmel hieß, wusste ich nicht, vor meinen Augen aber ging etwas vor sich, was aussah, als schwitzten oder weinten die Wände. Wieso schwitzte unser armes Haus? War ihm warm geworden? Hatte es Angst?

Um diese Frage zu...

Erscheint lt. Verlag 26.7.2021
Übersetzer Georg Aescht
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Original-Titel Inocentii
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Dana Grigorcea • Eginald Schlattner • Erdbeben • Generationen • Hotel • Iris Wolff • Juden • Karpaten • Kommunismus • Kronstadt • Minderheiten • Nachbarn • #ohnefolie • ohnefolie • Plattenbau • Rumänien • Siebenbürgen • Sozialismus • Ungarn • Weltkrieg
ISBN-10 3-552-07265-9 / 3552072659
ISBN-13 978-3-552-07265-7 / 9783552072657
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