Schatten in der Friedrichstadt (eBook)

Kriminalroman

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
336 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43904-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schatten in der Friedrichstadt -  Susanne Goga
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Mord im Zeitungsviertel November 1928: Der Journalist Moritz Graf stürzt vom Dach des Ullsteinhauses an der Kochstraße. War es wirklich ein Unfall? Oder wurde er hinuntergestoßen? Graf hatte offenbar an einer explosiven Geschichte gearbeitet. Doch worum es dabei ging, weiß niemand. Kommissar Leo Wechsler trifft bei seinen Ermittlungen auf den ebenso charmanten wie skrupellosen Clemens Marold, die Graue Eminenz des einflussreichen Hugenberg-Konzerns. Der Mann scheint überall zu sein und ganz Berlin zu kennen. Und bald stellt Leo fest, dass er sich einen einflussreichen Feind gemacht hat.

Susanne Goga lebt als Autorin und Übersetzerin in Mönchengladbach. Sie ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums. Außer ihrer Krimireihe um Leo Wechsler hat sie mehrere historische Romane veröffentlicht und wurde mit verschiedenen literarischen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Goldenen HOMER für >Mord in Babelsberg< und dem Silbernen HOMER für >Nachts am Askanischen Platz<.

Susanne Goga lebt als Autorin und Übersetzerin in Mönchengladbach. Sie ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums. Außer ihrer Krimireihe um Leo Wechsler hat sie mehrere historische Romane veröffentlicht und wurde mit verschiedenen literarischen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Goldenen HOMER für ›Mord in Babelsberg‹ und dem Silbernen HOMER für ›Nachts am Askanischen Platz‹.

2


Dienstag, 23. Oktober 1928

Oberkommissar Leo Wechsler saß gähnend am Frühstückstisch und ließ die Stimmen seiner Kinder über sich hinwegplätschern. Die letzte Nacht war lang gewesen: Er und seine Kollegen hatten einen Verdächtigen observiert und letztlich auch verhaftet, ein großer Erfolg in einem langwierigen Fall, aber er war erst in den Morgenstunden ins Bett gekommen.

»Wieso heißt dein Heft Der Herrenfahrer?«, fragte Marie ihren Bruder, während sie sich ein Brot mit Marmelade bestrich. »Frauen können das auch. Clärenore Stinnes fährt sogar Rennen und ist gerade dabei, einmal um die ganze Welt zu fahren. Das soll ihr erst mal einer nachmachen.«

Georg verdrehte die Augen. »Was weiß ich, die Zeitschrift heißt eben so.«

Er hatte kürzlich sein gespartes Taschengeld für einen ganzen Stapel dieser Hefte ausgegeben. Die Zeitschrift war im Mai eingestellt worden, und seitdem las er die alten Ausgaben Wort für Wort, als wollte er sie auswendig lernen. Er hatte sich schon immer für Autos interessiert und half einmal in der Woche in einer Autowerkstatt aus, um sein Taschengeld aufzubessern.

»In Amerika, in Oklahoma City, gibt es ein Hotel nur für Autos. Das ist sieben Stockwerke hoch. Könnt ihr euch so was in Berlin vorstellen?«

»Wie nett, dass die Autos auch mal Urlaub machen dürfen«, warf Marie ein, was ihr einen Rippenstoß eintrug.

»Jetzt hört auf mit dem Unsinn«, brummte Leo.

Clara stellte ein Körbchen mit gekochten Eiern auf den Tisch. »Ich finde Fräulein Stinnes großartig. Sie fährt einen Adler Standard 6, habe ich gelesen.« Sie vermittelte geschickt wie immer, dachte Leo und zwinkerte ihr zu.

»Wenn ich erst Chemikerin bin und eine Stelle an einer Universität oder in einer großen Firma habe, kaufe ich mir auch ein Auto«, verkündete Marie entschlossen.

Leo staunte immer wieder, wie unterschiedlich seine Kinder geraten waren. Die elfjährige Marie plante gern, sie liebte Chemie und alles, was mit Naturwissenschaften zu tun hatte, Exaktheit und feste Regeln verlangte. Ihr älterer Bruder Georg dagegen arbeitete lieber mit den Händen, und Leo fragte sich, ob es überhaupt lohnte, ihn Abitur machen zu lassen, da er offensichtlich davon träumte, Automechaniker zu werden. Andererseits würde er es womöglich bereuen, wenn er irgendwann auf den Gedanken käme, Ingenieur zu werden, um selbst Autos zu bauen.

Leo stützte den Kopf in die Hand und betrachtete seine Familie. Es war nett, ein bisschen später zum Dienst zu gehen, sodass sie Zeit für ein gemeinsames Frühstück hatten. Die Eier gab es wohl als kleines Extra, weil er den Fall abgeschlossen hatte.

»Wir haben den nächsten Vortrag übrigens auf den 13. November verlegt, sonst hätten wir den Raum nicht bekommen«, sagte Clara. Sie hielt seit einiger Zeit literarische Vorträge an der Freien Sozialistischen Hochschule. Leo wusste, dass sie vorher immer nervös war und sich wünschte, dass er mitkam. Allerdings hätte sie das nie laut gesagt, um ihn nicht zu bedrängen. Ein Kriminalbeamter musste immer mit unvorhergesehenen Dingen rechnen, die eine Verabredung zunichtemachten. Doch er würde sich das Datum in den Kalender eintragen und alles daransetzen, dass er Clara begleiten könnte.

 

Der Mann mit dem Bürstenschnitt und dem gezwirbelten Schnurrbart saß hinter dem größten Schreibtisch, den Clemens Marold je gesehen hatte. Er gestattete sich den boshaften Gedanken, dass die Maße des Tisches im umgekehrten Verhältnis zu Alfred Hugenbergs geringer Körpergröße standen und diese durch die Wucht des Mobiliars ausgleichen sollten. Die Tischplatte war so blank poliert, dass sich die Deckenlampe kaum verzerrt darin spiegelte, und es lagen nur wenige Akten darauf. Das mochte von Fleiß zeugen oder davon, dass der Mann viele Zuarbeiter hatte und sich selbst nicht um lästigen Papierkram kümmern musste.

Marold schaute sich um. Der Raum hatte mit seiner dunkel-gewichtigen Einrichtung und den gerahmten Bildern deutscher und ausländischer Würdenträger etwas von einem Allerheiligsten, in dem zwei Göttern gehuldigt wurde: Deutschland und Alfred Hugenberg, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

Ein Glück, dass sein Gegenüber nicht Gedanken lesen konnte. Es war bekannt, dass Hugenberg keinerlei Humor besaß, was seine Person betraf.

»Nehmen Sie Platz, Herr Marold.« Hugenberg deutete auf einen der Sessel.

Marold zog das schwere Möbelstück nach hinten und ließ sich darin nieder. Es war geradezu militärisch straff gepolstert, von Komfort konnte keine Rede sein. Doch das ertrug er gern, wenn er dafür in Hugenbergs Privatbüro bestellt wurde. Denn Clemens Marold ahnte, dass ihn kein Tadel des Konzernchefs erwartete, im Gegenteil.

»Erlauben Sie mir, Ihnen herzlich zu gratulieren, Herr Geheimrat. Der Vorsitz der Deutschnationalen Volkspartei ist ein Amt, in dem Sie segensreich wirken werden.«

Hugenberg drückte die Schultern durch. »Ich danke Ihnen. Es ist eine Bürde, ein solches Amt auszufüllen, aber ich betrachte es als Ehre und werde alles tun, um Deutschland zu dienen. Daher ehrt mich das Vertrauen, das die Parteivertreter in mich setzen.«

Marold musste ein Lächeln unterdrücken. Gerade eben hatte er den Artikel im Jungdeutschen gelesen, der den vielsagenden Titel »Hugenbergs Pyrrhus-Sieg« trug. Darin wurde berichtet, dass die Mehrheit des Geheimrats denkbar knapp ausgefallen war, vielleicht sogar nur eine einzige Stimme betragen hatte, obwohl es keinen Gegenkandidaten gab.

»Im Übrigen werden wir alle verleumderischen Behauptungen zurückweisen«, fügte Hugenberg hinzu, als hätte er nun doch Marolds Gedanken gelesen. »Sie haben womöglich gesehen, was dieses Schmutzblatt schreibt.« Er hielt eine Ausgabe des Jungdeutschen hoch und ließ sie verächtlich auf den Tisch flattern. »Das lasse ich mir nicht gefallen.«

»Selbstverständlich nicht, Herr Geheimrat.« Allmählich wurde Marold ungeduldig. Hugenberg hatte ihn wohl kaum herbestellt, um über die Berichterstattung einer unbedeutenden Tageszeitung zu debattieren.

»Marold, Sie sind nun seit Jahren bei uns im Haus und haben sich vorbildlich bewährt, sowohl was politische als auch finanzielle Fragen angeht. Aber meine Ziele sind höhergesteckt. Geld ist nicht das, wonach ich strebe, sondern die nationale Gesundung unseres Vaterlandes. Zu diesem Zweck habe ich in den vergangenen Jahren einen schlagkräftigen Apparat geformt, der sich auf alle Bereiche der Presse und der damit verbundenen …«

Hugenberg, alles andere als ein begnadeter Redner, war für seinen hölzernen Umgang mit der deutschen Sprache in Wort und Schrift berüchtigt. Ihm zuzuhören erforderte Marolds ganze Disziplin.

»Wie Sie wissen, ist die WiPro eines unserer besten Pferde im Stall. Inzwischen drucken weit über tausend deutsche Zeitungen jeden Tag unsere Artikel, sodass man sagen kann, wir bestimmen, was die Leute in der Provinz lesen.«

Oh ja, das war ein besonders cleverer Schachzug gewesen, dachte Marold. 1916 hatte Hugenberg die Übernahme des einflussreichen Zeitungsverlags August Scherl in die Wege geleitet, in dem auflagenstarke Blätter wie der Berliner Lokal-Anzeiger erschienen, und war Aufsichtsratsvorsitzender geworden. Vor sechs Jahren dann hatte er die sogenannte »Wirtschaftsstelle für die Provinzpresse« gegründet, ein trockener, für Hugenberg typischer Begriff, hinter dem sich jedoch ungeheure politische Macht verbarg. Zeitungen im ganzen Reich erhielten täglich sauber verpackte, vorgefertigte Matrizen, aus denen sie nur noch ihre Druckvorlagen erstellen mussten. Die WiPro lieferte ihnen politische Leitartikel, Sportberichte und Unterhaltung, sodass sich die Zeitungen lediglich um den Lokalteil selbst kümmern mussten. Damit sparten sie Geld und Personal. Aber es bedeutete auch, dass die Leser dieser zahlreichen Zeitungen nur erfuhren, was Hugenberg und seine DNVP sie wissen lassen wollten. Im Reich gab es in vielen Orten nur eine einzige Zeitung, sodass es für Hugenberg und seine mächtigen Geldgeber ein Leichtes war, die politischen Ansichten in die von ihnen gewünschten Bahnen zu lenken. Hinzu kam noch die Wochenschau, produziert von der Ufa, die seit letztem Jahr ebenfalls Hugenberg gehörte.

»Nun, da ich Vorsitzender der DNVP bin, werden noch ganz andere Gestaltungsmöglichkeiten auf mich und meine Freunde zukommen.« Er hielt kurz inne und räusperte sich. »Wie Sie wissen, ist im August mein geschätzter Weggefährte Herr Dr. Brüder verstorben, mit dem Sie auch zusammengearbeitet haben.«

Marold neigte pietätvoll den Kopf. »Ein schwerer Verlust für den Konzern, Herr Geheimrat.«

»Und auch für mich persönlich, sein Tod hat mich schwer getroffen. Bei meinen Bemühungen um den Parteivorsitz habe ich festgestellt, wie sehr mir Brüder fehlt. Und nun, da ich in dieses hohe Amt gelangt bin, brauche ich jemanden im Konzern, dem ich ebenso vertrauen kann, wie ich ihm vertraut habe. Einen Mann, der im Pressewesen erfahren ist und das Dickicht der Politik nicht scheut. Ich musste nicht lange überlegen, um mich für den mir als am besten geeignet erscheinenden Mann zu entscheiden.« Er legte eine wirkungsvolle Pause ein. »Hiermit übertrage ich Ihnen, Herr Dr. Marold, mit sofortiger Wirkung die Direktion der Zentralstelle der Redaktionen des August Scherl Verlags und damit die Verantwortung für die politische Ausrichtung und Berichterstattung unserer Zeitungen. Sie sind mir direkt unterstellt und nehmen nur von mir Handlungsanweisungen...

Erscheint lt. Verlag 16.2.2022
Reihe/Serie Leo Wechsler
Leo Wechsler
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Anne Stern • Babylon Berlin • Berlin • Berlin-Krimi • Berlin Roman • Cabaret • Fräulein Gold • Gereon Rath • historischer Berlin-Krimi • historischer Krimi • historischer krimi berlin • Historischer Kriminalroman • historischer Krimi Neuerscheinung • Historischer Roman • Historische Spannung • Hugenberg • Journalisten • krimi berlin • Krimi Neuerscheinungen • krimi-serie berlin • Leo Wechsler • Polizei • Presse • Schlachtensee • unterhaltsamer Krimi • Volker Kutscher • Weimarer Republik • Zeitung • Zeitungsviertel • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-423-43904-1 / 3423439041
ISBN-13 978-3-423-43904-6 / 9783423439046
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