Phon (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
336 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27159-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Phon - Marente de Moor
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'Vielleicht dreht sich das Leben ja darum, welche Geschichte wir beschließen zu erzählen.' - Der neue Roman von Marente de Moor
Manchmal klingt es wie Trompetenstöße. Dann, 'als würde Gott Möbel verrücken'. Die seltsamen Geräusche, die seit einiger Zeit am Himmel zu hören sind, verheißen nichts Gutes. Aber wann war es das letzte Mal gut, denkt Nadja. Was ist geblieben von dem Leben, das sie und Lew, ein idealistisches Zoologenpaar, sich in der Einsamkeit der westrussischen Wälder aufbauen wollten. Denn mit den Geräuschen kommen auch die anderen, dunklen Erinnerungen. Unverhohlen erzählt Nadja ihre verhängnisvolle Geschichte. Doch kann man ihr trauen? Ein flirrendes psychologisches Verwirrspiel, fesselnd bis zur letzten Seite. So sinnlich wie subtil dringt es in die dunklen Seiten der Natur und des Menschen.

 Marente de Moor, 1972 in Den Haag geboren, lebte nach ihrem Studium der Slawistik mehrere Jahre in St. Petersburg, wo sie als Korrespondentin für niederländische und russische Medien arbeitete. Für ihren Roman 'Die niederländische Jungfrau' (Suhrkamp, 2011) wurde sie mit dem AKO-Literaturpreis und dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet. Ihr Werk wurde bisher in über fünfzehn Sprachen übersetzt. Bei Hanser erschienen zuletzt ihre viel gelobten Romane Aus dem Licht (2019) und Phon (2021), für den sie den Jan-Wolkers-Preis und den Ferdinand-Bordewijk-Preis für das beste niederländischsprachige Prosawerk erhielt. 

1


Ich höre nichts, aber es wird schon langsam hell. Vor mir zeichnen sich die kleinen Kegel und Dreiecke auf der Tapete ab, hinter mir wartet das Zimmer. Mit den halb verdunkelten Fenstern und den kaputten Fensterbänken. Dem Samtstuhl, über dem mein Trägerkleid hängt, als hätte ich es noch an. Dem Esstisch, die vier Beine fest im Teppich, und dem Schrank mit den Porzellantieren und den drei übrig gebliebenen Kristallgläsern. Mit der Schwelle, die mich derartig zum Teufel wünscht, dahinter der Flur, in dem ich mich spiegle wie in einem schwarzen Teich. Dort im Flur stehen zwei Türen einen Spaltbreit offen, die eine führt zur Küche mit dem Abwasch, die andere in das Zimmer mit ihm drin.

Die Haustür ist fest verschlossen. Trotzdem schiebt sich das Eis von der Veranda über die Schwelle herein, und gegen die Veranda drängt der Garten, wo noch knapp dreißig Zentimeter Schnee liegen. Hinten im Garten kommt das Tor zum Weg, und wie an den meisten Tagen werden meine Schritte die ersten und die letzten auf ihm sein. Aber damit halten wir uns nicht lange auf, weiter gehts, vorbei an Scherpjakows Haus zur Linken, wo die Fenster stumpf und grau geworden sind wie die Augen eines Starkranken, und an der Bushaltestelle zur Rechten, die genauso verlassen ist. Schätzungsweise seit zehn Jahren, vielleicht noch länger. Seit dem Jahr jedenfalls, in dem die Busse fernblieben und unser einziger Nachbar wegzog. Dem Jahr, an das ich mich lieber nicht erinnere.

Scherpjakow der Freundliche, so nannten wir ihn. In dieser Gegend war sein Charakter genauso ungewöhnlich wie sein vollständiges Gebiss. Immerhin, er konnte sich erlauben, breit zu lächeln, so erklärten wir uns sein sonniges Gemüt. Und er hat nie getrunken, nicht mal, als seine Frau starb. Wir wissen nicht, weshalb er weggezogen ist, er hatte gerade das Schnitzwerk an seinem Dach frisch lackiert. Vielleicht war er ja in den letzten Bus gestiegen und konnte einfach nicht mehr zurück, vielleicht war das der Grund und sonst nichts.

Hinter der Bushaltestelle liegt das Stück Land, das einmal ein Acker war und auf dem jetzt noch zwei Dutzend kleinere und größere Gebäude stehen, unter anderem eine Schule, die Bäckerei und die Krankenstation. Dahinter ist der Komplex der alten Batteriefabrik. Völlig leer und verlassen und innen wie außen schmutzig grau. Ich glaube, es liegt daran, dass die Zeit zu schnell verstreicht. Immer schneller fliegen die Tage dahin, und die Zeit versucht abzubremsen, dabei wird Staub aufgewirbelt. Weiter gehts, zum Sumpf. Der hat noch nie jemandem was gebracht, jedenfalls nicht in Friedenszeiten. In diesem Land ist der Sumpf für die Mücken und Feinde da, und wenn die erst ausgerottet sind, ist er zu nichts mehr gut, dann stinkt er bloß noch ein bisschen vor sich hin wie ein Veteran im Vollrausch auf dem Küchensofa. Hinter dem Sumpf kommt der Fluss, mit ein paar Seitenarmen. Bis zur Bezirksgrenze erstreckt sich Kilometer um Kilometer sterbenslangweiliger Wildnis, und ein ganzes Stück weiter in Richtung Südosten kommen wir schließlich zu der Hauptstadt, die noch eine Reihe tausend Jahre alter Städte in der Hinterhand hält. Weiter, weiter, Kuppeln, Pforten, Festungen, eine ganze Menge Steppe, Wälder mit immer höheren Bäumen, Dörfer mit immer schweigsameren Menschen, die Uhr rennt voraus, es wird immer später, oder sollte ich sagen immer früher?, jedenfalls rücken von Osten her sieben Zeitzonen an mein Bett heran. Und vor mir also diese kleinen Kegel und Dreiecke. Die Tapete habe ich selbst an die Wand geklebt, eine Woche nach dem Einzug. Was ich mir dabei gedacht habe? Sie ist nur für den Moment, bald kommt eine bessere drüber. Jedenfalls nicht, dass der Moment einunddreißig Jahre dauern würde und ich heute noch auf diese Tapete schaue.

Die nächsten fünf Minuten bleibt es still, alles schläft. Der Zug zieht nur nachts durch unseren Wald, wie die Füchse und Dachse. Das, was hinter der Wand liegt, beruhigt mich. Der ordentlich aufgeschichtete Holzvorrat, der Bach mit den Hechten, Forellen und Flusskrebsen, der Wald, den wir immer den Märchenwald nannten, weil es dort noch lange nach der Saison gute Pilze gab. Sie erhalten uns am Leben, obwohl es uns offiziell seit 2012 nicht mehr gibt. Wir sind aus den amtlichen Registern gestrichen, und als Einwohnerzahl hinter dem Namen unseres Dorfes steht null. Und sonst, was ist da sonst noch? Die große Straße. Asphalt und Schienen. Den schwarzen See, so heißt er wirklich, und die Minen, die die Partisanen im Moos verteilt haben in der Hoffnung, dass ein Deutscher drauftritt. Mit dem Auto braucht man eine Stunde nach Europa, zu den Letten. Den anderen. Hundertfünfzig Kilometer vor dem Bug und neuntausend im Rücken, meinen Standort zwischen den einen und den anderen kann man nicht gerade als ausgewogen bezeichnen.

Ich bleibe reglos liegen, streiche über das Laken hinter mir. Nein, diese Zeiten sind vorbei. Lew liegt nicht mehr hier, sondern dort, im Arbeitszimmer, seine trockenen Hände auf der Decke und die feuchten Beine darunter. Vielleicht schläft er noch, wie alles andere in unserem lachhaften Laden. Um diese Tageszeit regt sich nur der Boden samt dem, was da schmilzt und kriecht, Dunst aus der Erde, der alles bewässert. Neuerdings findet die Schöpfung hier jeden Morgen statt. Jeden Tag reißt Gott die letzte Seite aus seinem Heft und fängt wieder von vorn an. Ich wünschte, ich könnte es hören, aber für Geräusche muss man hochschauen. Dann hört man, von oben nach unten und in dieser Reihenfolge: Zwitschern, Krächzen, Summen, Rascheln, Flattern, Wiehern, Bellen, Blöken, Fauchen, Gackern und, dicht über dem Boden, Knurren. Der Rabe, der jetzt auf der Fensterbank rumtappt, ist wichtig. Nicht zu übersehen. Er ist fast so groß wie das Fenster und hundert Jahre alt. Man sieht es, wenn er etwas sagen will, dann reißt er den Schnabel auf, noch bevor sich die Wörter in seiner Kehle aufplustern. Heraus kommt fast nur Geschimpfe; »Arschloch«, sagt er, und »Hau ab«. Aber nicht jetzt, jetzt sieht er mich mit einem Auge an, klopft kurz danach ans Fenster. Es heißt, Vögel würden an Scheiben klopfen, weil sie ihr Spiegelbild für einen Rivalen halten, noch so eine Theorie, die ungeprüft durch die Hörsäle zieht, aber wer an diesem Ort lebt, weiß, dass das Land den Tieren gehört und dass die immer was von einem wollen. Jetzt also von mir, der Letzten hier mit Grips im Kopf. Als ich den Raben das erste Mal an die Scheibe klopfen hörte, hielt ich seinen Schnabel für den Knöchel eines Menschen, so kräftig und rhythmisch klang es. Ich zog den Vorhang auf, er machte mir klar, dass er was fressen wollte, und ich spurte. Hätte ich nicht tun sollen. Seither weckt er mich jeden Morgen zweimal, mit einer halben Stunde Abstand, und da er jetzt zum zweiten Mal klopft, muss es sieben Uhr sein.

»Verdammt!«

Hört, der Mensch hat sein erstes Wort gesprochen.

»Nadja!«

Das bin ich. Die Frau. Die sich umdreht und das Fenster erkennt, den Stuhl, die Lumpen, Gläserschrank, Porzellan, Schwelle, Flur, Haustür, Schnee, Gerümpel, Matsch, und sieht, was sie alles erwartet. Nur den Spiegel hatte sie vergessen, und ihren Körper darin. Manchmal hofft sie, dass es an ihrem im Lauf der Jahre geschärften Blick liegt, daran, dass ihr Urteil hart geworden ist und nicht das Fleisch mürbe wie die ausgewaschenen Fundamente eines Speicherhauses. Bepackt wie ein Lastesel, so ergeht es allen Landfrauen dieser Welt. Bestimmt sagen die Leute: Die da, das ist eine Hexe. Sie darauf: Gar keine schlechte Idee.

»Nadjucha!«

Ich kann nicht antworten. Meine Stimme wacht später auf als der Rest von mir. Dreht sich da drinnen noch mal auf die andere Seite, schweigt mürrisch. Eines Tages wird sie überhaupt nicht mehr aufstehen, weil ich schlicht nichts mehr zu sagen habe über diesen lachhaften Laden. Ich stampfe also auf den Boden, und alles gerät in Bewegung: meine Brüste im Spiegel, meine Gläser im Schrank, meine Tiere in ihren Nachtquartieren. Nur mein Mann bleibt liegen und schreit. Wie so viele schreit er, weil er nichts zu sagen hat, weniger als früher jedenfalls.

»Nadja! Hast du schon nach dem Wasser geschaut?«

Oje, der Tag hat begonnen. Fragt sich nur, warum. Weshalb wird in diesem von Gott und der Welt verlassenen Nest nicht mal ein Tag vergessen? Einfach so zwölf Stunden übersprungen, damit ich gleich wieder bei der Nacht ankomme. Kann mir mal einer erklären, warum ich zum zehntausendsten Mal das Trägerkleid über den Kopf ziehe, in meine stinkigen Schlappen schlüpfe, den Zopf hochstecke? Das sieht eh keiner. Was ich heute putze, ist morgen wieder schmutzig, was ich heute füttere, hat morgen wieder Hunger. Was würde wohl passieren, wenn ich liegen bliebe? Dann bräche einfach ein neuer Tag an, ohne dass es...

Erscheint lt. Verlag 23.8.2021
Übersetzer Bettina Bach
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Foon
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter • Autarkie • Bären • Betrug • Biologie • Drogen • Eifersucht • Evolution • Experiment • Familie • Fledermaus • Forschung • Geheimnis • Geräusche • Glasnost • Glaube • Jahreszeiten • Jugend • Körper • Landleben • Leben • Liebesgeschichte • Natur • Niederlande • #ohnefolie • ohnefolie • Phantasie • Politik • Psychologie • Rätsel • Religion • russische Mythologie • Russland • Schönheit • Schuld • Sowjetunion • Spannung • St. Petersburg • Tiere • Trauer • Traum • Trauma • Unfall • Verbannung • Verdrängung • Wald • Widerstand • Wildnis • Zoologie • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-446-27159-7 / 3446271597
ISBN-13 978-3-446-27159-3 / 9783446271593
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