Ein Ort, der sich Zuhause nennt (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
480 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43915-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Ort, der sich Zuhause nennt -  Astrid Ruppert
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»Du sollst dein Glück doppelt leben!« Als die junge Charlotte Winter in die Fußstapfen ihrer Mutter Lisette tritt und 1936 in einer der feinsten Schneidereien Wiesbadens zu arbeiten beginnt, ahnt sie nicht, dass eine zufällige Begegnung ihr Leben komplett verändern wird. Von einer Sekunde auf die andere muss sie eine Entscheidung treffen, die ihr ihr großen Mut abverlangt. Ihre Tochter Paula und Enkelin Maya kennen Charlotte als stille, genügsame Frau und wissen nicht, dass sich hinter ihrem Schweigen ein großes Schicksal verbirgt. Welch Gefahren sie im nationalsozialistischen Deutschland auf sich genommen hat und wie sehr sie geliebt hat, das erfahren Paula und Maya erst nach und nach ... Im letzten Band der Trilogie erkennen die Winterfrauen, wie ihre eigenen Lebenswege untrennbar mit der Vergangenheit ihrer Mütter verknüpft sind.  

Astrid Ruppert studierte Literaturwissenschaft und arbeitete mehrere Jahre als Fernsehredakteurin, bevor sie freie Autorin wurde. Neben ihren Romanen schreibt sie auch regelmäßig erfolgreiche Drehbücher.

Astrid Ruppert studierte Literaturwissenschaft und arbeitete mehrere Jahre als Fernsehredakteurin, bevor sie freie Autorin wurde. Neben ihren Romanen schreibt sie auch regelmäßig erfolgreiche Drehbücher.

2007


Bist du glücklich? Wenn mich das heute Nachmittag jemand gefragt hätte, hätte ich erstaunt Ja gesagt. Vielleicht hätte ich dieses Ja sogar gesungen. Oder getanzt. Denn alles hatte sich so gut angefühlt. So richtig. Vielleicht sogar zum ersten Mal. Als ob sich Türen geöffnet hätten und ich plötzlich eine hellere Welt betreten hätte, in der so viel mehr möglich war. Eine Welt, in der alles, ja, sogar ich einen Platz hatte und einen Sinn. Was für ein tröstliches Gefühl: mein Leben als Aufwärtsbewegung!

Und dann stürzte meine Großmutter zu Boden, und alles war mit einem Schlag vorbei. Vielleicht gehörte ich eben doch nicht hinein, in diese hellere Welt. Nicht auf Dauer. Da hatte ich ein paar Stunden Glück gehabt, auf und ab blubberndes, buntes Glück, und jetzt verbrachte ich meinen dreißigsten Geburtstag im Wartebereich der Notaufnahme, unter grellem Neonlicht, innerlich zitternd. Mein Kopf war schwindelerregend leer, und die Ängste, die darin Karussell fuhren, hatten viel Platz. Omas Schwarzwälder Kirschtorte lag steinschwer in meinem Magen, und ich hatte Angst, dass dies die letzte Erinnerung an meine Oma sein könnte. Die Torte, das plötzliche Auftauchen des fremden Mannes mit dem seltsamen Namen, der Moment, in dem ihre Beine einfach wegknickten. Wie klein und zerbrechlich sie auf dem Wollteppich in der Diele gelegen hatte. Heute Mittag hatte Lukas’ Gegenwart mir den Tag noch verzaubert, aber jetzt war es mir unangenehm, dass Lukas hier war. Es war alles viel zu dicht. Dass er meine schwitzige kalte Hand hielt, dass er sah, wie sich Paulas Gesicht verschloss. Dass er sich plötzlich mitten in dieser Familienkrise befand. Wir hatten nur nachmittags zusammen mit meiner Mutter Paula und meiner Großmutter in Lerchenrod meinen Geburtstagskaffee trinken wollen, um uns dann zu verabschieden und in unsere herrliche unbeschwerte neue Liebe hineinzufallen, wie in ein prickelndes Bad. So hatte ich mir das vorgestellt. Das hier war das glatte Gegenteil von all dem. Konnte irgendetwas in meinem Leben einmal bleiben? So etwas wie dieses Glücksgefühl von heute Vormittag, als Lukas unangemeldet vor der Tür gestanden hatte und wir uns plötzlich in den Armen lagen und uns nur fragten, warum wir das nicht schon längst getan hatten. In diesem Gefühl wäre ich gerne verweilt.

Paula tigerte unruhig auf dem Gang auf und ab, während wir warteten, dass endlich ein Arzt kam, um uns zu sagen, was mit Oma passiert war. Ich war nicht in der Lage herumzulaufen wie sie, ich saß reglos auf einem dieser Krankenhausstühle, auf dessen Sitzfläche aus Kunststoff ich allmählich festklebte. Seit Oma auf dem Boden gelegen hatte, so klein und krumm und blass, fühlte ich mich schwach. Meine Oma war nie krank, und wenn sie wirklich einmal krank war, dann tat sie trotzdem so, als wäre nichts. Sie gehörte in diese Generation, für die ein Bett nur zum Schlafen da war. Da legte man sich doch am hellen Tag nicht hinein. Nicht, wenn man krank war, und schon gar nicht, um es mal gemütlich zu haben, zu lesen oder einen Schlechtwettertag wegzulümmeln. So etwas gab es im unerschütterlichen Leben meiner Oma nicht. In ihrem Leben hielt man durch. Sie hatte einen Krieg erlebt, was war dagegen schon ein bisschen Fieber, eine Grippe? Und dann hatte sie doch etwas so sehr erschüttert, dass ihre Beine einfach wegknickten und sie dann viel zu lange mit geschlossenen Augen auf dem Boden lag. Wer war dieser Fremde, der plötzlich vor der Tür gestanden hatte und bei dessen Anblick meine Großmutter in sich zusammengesackt war, als hätte ein Marionettenspieler plötzlich die Fäden losgelassen? Ich bin’s, der Muck. Was immer das auch bedeutete.

Paulas Schritte klackten unruhig auf dem Krankenhausflur auf und ab. Irgendwann blieb sie vor mir stehen.

»Hast du diesen Namen schon mal gehört? Ich habe ihn noch nie gehört. Muck! Was ist das überhaupt für ein Name?«

»Irgendjemand von früher? Ein Spitzname?«

Ich hatte ja auch keine Ahnung.

»Es gab niemanden im Dorf, der so hieß.«

»Vielleicht eine alte Liebe?«

»Meine Mutter und eine alte Liebe? Das glaubst du doch selbst nicht.«

Meine Mutter und meine Großmutter hatten sehr unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema Liebe. Meine Mutter hielt sich an dem Gedanken fest, dass man eine große Liebe auch mehrfach suchen und leben konnte, meine Großmutter hatte sich in ihrem Leben lieber auf eine ruhige, beständige Zuneigung zu meinem Großvater verlassen. Meine Mutter hatte das schon immer als viel zu klein empfunden und benutzte in dem Zusammenhang auch schon mal Worte wie kläglich oder armselig. Wie ich selbst zum Thema Liebe stand, war mir noch nicht so klar. Ich hatte durchaus romantische Träume, die bisher jedoch meist an der Realität gescheitert waren. Irgendwie schien meine Vorstellung von Liebe nicht richtig in mein Leben hineinzupassen. Ich glaube, mir fehlte das Vorbild für die glückliche Beziehung, die ich gerne führen würde. Die wechselnden Lieben meiner Mutter und ihr daraus resultierendes Himmelhoch-jauchzend-zu-Todebetrübt hatten in meinem Leben für viel Unruhe gesorgt und nicht unbedingt zur Nachahmung eingeladen. Vielleicht fühlte ich mich meiner Oma in dieser Hinsicht sogar näher. Obwohl es auch nicht gerade erstrebenswert war, sich so eine kleine stille Zuneigung zu wünschen. In meinem Alter sollte man doch Großes hoffen, Leidenschaft ersehnen, Hand in Hand im Gegenlicht lachend über Wiesen rennen. So endeten Liebesfilme. Aber ich wünschte, es gäbe einen Film, der genau damit anfing und mir erzählte, wie es weitergehen könnte. Denn genau das interessierte mich am meisten, ob es möglich war, eine Liebe zu leben, die groß war und trotzdem beständig.

»Es scheint jedenfalls um etwas sehr Wichtiges zu gehen, wenn es sie so erschüttert, oder?«

Die Schritte verstummten. Paula war vor uns stehengeblieben.

»Ich weiß nicht, ob ich jetzt noch irgendwelche Geheimnisse meiner Mutter wissen will. Sie hat früher nie geredet, dann braucht sie jetzt auch nicht mehr damit anzufangen.«

Das war typisch für meine Mutter. Paula hatte furchtbare Angst, dass ihre Mutter ihr etwas erzählen könnte, was sie nicht hören wollte. Schon immer warf sie ihr vor, nie wirklich von sich erzählt zu haben, und vor allem nie davon erzählt zu haben, was sie während des Krieges gemacht und gedacht hatte. Und weil sie so beharrlich darüber schwieg, befürchtete Paula, dass ihre Mutter auch viel zu verschweigen hatte. Die beiden hatten sich eingerichtet in einem Zustand, in dem sie nicht viel voneinander wussten, in dem Paula sich mit Omas Standardantwort zufriedengab: Ach Kind, es waren schlimme Zeiten. Das kann man sich heute gar nicht vorstellen. Sie rüttelte nicht mehr an der Tür, hinter der sich vielleicht andere Erinnerungen, andere Geschichten verbargen. Genauso gab Oma sich mit kürzesten Antworten von Paula zufrieden. Wenn sie fragte, wie es ihr ginge, und Paula mit einem knappen gut antwortete, dann reichte ihr das. Irgendwann hatten sie sich in dieser Art von stenografischer Kommunikation eingerichtet. Und wenn ich ehrlich war, machte ich dabei mit und verschwieg ihnen auch das meiste, was es über mich zu sagen gab.

Paulas Schritte hallten weiter durch den kahlen Flur. Das gleichmäßige Ticken der großen Uhr und Paulas Ledersohlen gaben einen Rhythmus vor, gegen den mein Herz in doppeltem Tempo anschlug. Lukas und meine Hand waren jetzt wahrscheinlich komplett und für immer aneinandergeklebt. Es musste so unangenehm für ihn sein. Wahrscheinlich wusste er nicht, wie er meine Hand höflich loslassen sollte, und ich beschloss, uns zu erlösen. Ich murmelte etwas von Toilette, und es gelang mir tatsächlich, meine schwitzige Hand aus Lukas’ Hand zu lösen. Bestimmt kam der Arzt genau in dem Moment, in dem ich hinter der Tür zu den WCs verschwand. Das war ja immer so. Also beeilte ich mich, seifte meine Hände trotzdem gleich zweimal ein und spülte einmal warm und einmal kalt ab, bevor ich sie auch noch doppelt gut abtrocknete. Wenigstens meine Hände waren jetzt wieder in Ordnung, auch wenn der ganze Rest von mir sich schlecht fühlte. Und ausgerechnet heute trug ich dieses Kleid. Es gab wohl kaum etwas Unpassenderes, das man unter dem Neonlicht einer Krankenhausnotaufnahme tragen konnte, als ein hundert Jahre altes Seidenkleid, dessen Stoff allmählich brüchig wurde. Ich hätte gerne etwas an, was man nach Verlassen des Krankenhauses bei sechzig Grad waschen konnte und was mich stabil und kompetent fühlen ließ. In dem Kleid fühlte ich mich verletzlich, empfindlich wie die alte Seide. Meine Urgroßmutter Lisette war davon überzeugt gewesen, dass ein einziges Kleid ein Leben verändern kann. Tatsächlich hat dieses grüne Seidenkleid, das mein Urgroßvater Emile ihr zu ihrem achtzehnten Geburtstag vor genau hundertundeins Jahren geschenkt hatte, ihr Leben damals komplett auf den Kopf gestellt: Nachdem Lisette das Kleid anprobiert und darin die schönste Version ihrer selbst gefunden hatte, lief sie kurz darauf mit Emile, ihrem damaligen Hausschneider, davon. Sie ließ Familie, Villa, Korsett, Stand und alle damit zusammenhängenden Erwartungen hinter sich und landete mit ihrem grünen Seidenkleid in Freiheit, in wilder bunter Fülle und in einer sehr, sehr großen Liebe, die das Leben von uns Winterfrauen noch immer überstrahlte. Oder überschattete. Je nachdem, von welcher Seite man das betrachtete. Als ich das Kleid heute Morgen übergestreift hatte, hatte ich mich auch ganz wunderbar gefühlt. Aber die wunderbaren Gefühle hatten in meinem Leben wohl wirklich nur eine kurze Haltbarkeitsspanne.

Oma lag bleich in ihrem weißen Krankenhausbett...

Erscheint lt. Verlag 17.11.2021
Reihe/Serie Die Winter-Frauen-Trilogie
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1970er Jahre • Buchgeschenk Frau • Familiengeschichte • Familienroman • Familiensaga • Feminismus • Frauenschicksal • Frauenunterhaltung • Fünfzigerjahre • Generationenroman • Geschenk Frauen • Geschenk für Frauen • Hessen • Hippie-Zeit • Künstlerleben • Lisette Winter • London • Mütter • Mutter-Tochter-Verhältnis • Nachkriegszeit • Roman Emanzipation • Roman Frauen • Roman für Frauen • Roman Neuerscheinung 2021 • Schmöker • Taunus • Töchter • Trilogie • Widerstand • Wiesbaden • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-423-43915-7 / 3423439157
ISBN-13 978-3-423-43915-2 / 9783423439152
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