Die einsame Bodybuilderin (eBook)

Storys
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2021 | 1. Auflage
256 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2555-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die einsame Bodybuilderin -  Yukiko Motoya
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»Das kraftvolle In-Erscheinung-Treten einer Künstlerin.« Kenzaburo Oe, japanischer Literaturnobelpreisträger.

Eine Hausfrau wird zur Bodybuilderin, aber ihrem arbeitssüchtigen Ehemann fallen die neuen Muskeln nicht einmal auf. Eine Verkäuferin in einer Boutique wartet stundenlang auf eine Kundin, die sich in der Umkleide verschanzt hat und die vielleicht auch ein Alien ist. Eine junge Frau bemerkt, wie sich das Gesicht ihres frischgebackenen Ehemanns plötzlich beginnt, ihrem eigenen anzugleichen.

In diesen 11 preisgekrönten Storys gewähren die Figuren einen Blick hinter die Kulissen ihrer scheinbar langweiligen Leben. Zum Vorschein kommt das Bizarre, das Groteske, das Fantastische, das Fremde. Und die - hinter all dem verborgen - Freiheit.

Yukiko Motoya ist die aufsehenerregende neue Stimme aus Japan, die die Sehnsucht nach dem Zauber des jungen Murakami endlich wieder stillt.

»Ich wünschte, ich könnte in Motoyas Buch leben. Ihre Wahrnehmung und ihre Weisheit lassen das alltägliche Leben magisch und aufregend erscheinen, und die merkwürdigsten Erfahrung fühlt sich plötzlich ganz vertraut an.« Etgar Keret.



Yukiko Motoya, geboren 1979, ist Dramaturgin, Autorin und Regisseurin. Sie hat zahllose Literaturpreise gewonnen, darunter den Kenzaburo-?e-Preis und Japans wichtigsten Literaturpreis Akutagawa. Ihr Bücher wurden ins Französische, Norwegische, Spanische, Chinesische und Englische übersetzt. »Die einsame Bodybuilderin« ist ihr erstes Buch auf Deutsch. Ursula Gräfe hat Japanologie, Anglistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main studiert. Seit 1989 arbeitet sie als Literaturübersetzerin aus dem Japanischen und Englischen und hat neben zahlreichen Werken Haruki Murakamis auch Autoren wie Sayaka Murata und Hiromi Kawakami ins Deutsche übertragen.

Die Umkleidekabine oder warum ich beim Anblick einer Picknickdecke immer lächeln muss


Sie war in die Umkleidekabine hineingegangen, also musste sie auch wieder herauskommen. Eine andere Möglichkeit gab es ja nicht.

Zumal sich nicht mehr als ein Teppich und ein Spiegel darin befanden.

Dennoch war die Kundin nun schon über drei Stunden in der Kabine.

Was machte sie die ganze Zeit? Was sonst, als Kleidungsstücke aus unserem Geschäft anzuprobieren? Ununterbrochen seit der Mittagszeit. Sooft ich mich durch den Vorhang erkundigte, wie weit sie denn sei, erhielt ich die gleiche Antwort. »Ich ziehe mich gerade um.« Wir sind angehalten, in solchen Fällen eine Weile nicht mehr nachzufragen. Denn es wäre peinlich, wenn die Kundin noch einmal sagen müsste, sie sei dabei, sich umzuziehen. Womöglich entstünde der Eindruck, man würde sie hetzen. Vermutlich deutete sie damit sogar den Wunsch an, in Ruhe gelassen zu werden.

Oder sie war in Wirklichkeit angezogen, traute sich aber nicht aus der Kabine, weil die Sachen ihr nicht standen und sie sich schämte. Diese Erfahrung war mir selbst nicht fremd. Es gab Kleidungsstücke, in denen ich mich, kaum hatte ich sie angezogen, so elend fühlte, dass ich am liebsten den Spiegel zertrümmert hätte, aus dem mein Abbild mir entgeistert entgegenglotzte. Unfassbar! Vielleicht lief ich schon immer herum wie eine Witzfigur! Es gab Klamotten, die das ganze bisherige Leben infrage stellten. Vielleicht war es eine einzige Ansammlung von Peinlichkeiten gewesen? Bei dem Gedanken zittern einem doch die Knie.

Anfangs dachte ich, so etwas müsse es sein. Unsere Boutique führte individuelle Markenartikel, die die Chefin im Ausland einkaufte, und so manche Kundin war voller Zweifel, wenn sie sich in dem großen Spiegel außerhalb der Kabine sah. Die Sachen waren natürlich auch nicht billig, und wir überredeten unsere Kundinnen aus Prinzip zu nichts, sondern gaben ihnen alle Zeit, die sie für ihre Entscheidung brauchten. Also rechnete ich ab und räumte im Lager auf, bevor ich die Kundin wieder ansprach.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, rief ich energisch durch den Vorhang, als ich es nicht mehr aushalten konnte.

»Nein, alles in Ordnung«, kam die etwas schnippische Antwort. »Aber haben Sie nicht etwas Legereres? Das hier ist ja ein Cocktailkleid. Wo soll ich das denn anziehen?«

»Ich bringe Ihnen etwas.« Ich suchte ihr ein leichtes pastellfarben bedrucktes Seidenkleid heraus. »Das ist von einem Pariser Modelabel, das sich auf Modelle aus bedruckten Stoffen in schönen Farben spezialisiert hat.« Ich hatte meine Erklärung kaum beendet, als die Kundin auch schon die Hand aus dem Vorhang streckte und das Kleid samt Bügel an sich riss. Aus dem andauernden Geraschel schloss ich, dass sie es anprobierte. Was blieb mir übrig, als geduldig zu warten? Zu unseren Verkaufsprinzipien gehörte auch, dass eine Kundin während ihres gesamten Aufenthalts von einer Person bedient wurde. Es war nicht ganz einfach, unsere Modelle zu einem Look zu kombinieren, daher legten wir besonderen Wert darauf, im persönlichen Gespräch den besten Style für jede Kundin zu kreieren.

Dazu musste man zuerst herausfinden, welcher Typ, wie alt, wie groß. Welche Persönlichkeit. Allerdings war die betreffende Kundin hereingekommen, während ich einer Stammkundin eine Tasse Darjeeling servierte, und ich hatte von ihr nur ihre Hand gesehen, als sie den Vorhang der Umkleidekabine zuzog.

»Entschuldigen Sie, welche Kleidergröße tragen Sie?«

»Habe ich vergessen. An so was kann ich mich nie erinnern.«

Wahrscheinlich war sie außergewöhnlich schüchtern und hatte all ihren Mut zusammengenommen, um in unseren Laden zu kommen, weil sie etwas Bestimmtes aus unserem Sortiment in einer Zeitschrift gesehen hatte. Oder sie wollte sich nicht zeigen, weil sie Komplexe wegen ihres Gewichts oder ihrer Größe hatte, und hatte nun den richtigen Zeitpunkt verpasst, die Kabine unbeobachtet zu verlassen.

»Tragen Sie gern Hosen, oder bevorzugen Sie Röcke?«

»Manchmal trage ich Röcke und manchmal Hosen.«

Oder sie hatte erst kürzlich eine Schönheits-OP machen lassen und beim Umziehen war irgendetwas mit ihren Lippen passiert. Womöglich versuchte sie gerade verzweifelt, das Silikon wieder zu positionieren. Mir fiel ein, dass ich als Kind einmal von einer Frau gehört hatte, die auf einer Auslandsreise aus einer Umkleidekabine entführt worden war. Im Boden der Kabine hatte sich eine Art Falltür geöffnet. So war die Arme in die Hände von Menschenhändlern gefallen und verkauft worden. Vielleicht konnte ich meiner Kundin mit dieser Geschichte Angst machen? Und sie so dazu bringen, herauszukommen. Das wäre doch mal eine zwar unerwartete, jedoch taktvolle Art der Bedienung. Nicht so aufdringlich wie die direkte Aufforderung, sich vor den großen Spiegel hier draußen zu stellen.

»Sie schauen wohl auf dem Heimweg vom Büro bei uns vorbei?«, fragte ich gesprächsweise.

»Was hat das mit der Anprobe zu tun?«

Oder die Frau hatte schlechte Erfahrungen beim Anprobieren gemacht und drangsalierte jetzt aus Rache Verkäuferinnen? Sooft ich abends auf dem Heimweg das Klappern von Absätzen hinter mir hörte, wäre ich tatsächlich am liebsten in ein Mauseloch gekrochen. Bestimmt war das das schlechte Gewissen, weil ich jede Kundin, egal was sie anprobierte, zu ihrer »ausgezeichneten Wahl« beglückwünschte und behauptete, dies oder jenes würde ihr »ganz hervorragend« stehen.

Wir schließen um acht, aber sie kam einfach nicht aus der Kabine. Immer wieder sprach ich sie an, vergebens. Ich konnte ja schlecht einfach den Vorhang zurückziehen. »Lassen Sie sich nur Zeit«, sagte ich daher. Was blieb mir übrig, als zu warten? In der Kabine raschelte es, und die Kundin murmelte ständig »oh, nein« oder »ja, vielleicht« vor sich hin. Nacheinander ließ sie sich jedes Stück in jeder Größe und Farbe bringen. Auf der Suche nach den gewünschten Artikeln im Lager fragte ich mich, welcher Anlass es wert sein mochte, dass sie sich bei der Auswahl ihrer Garderobe derart abquälte. Ich ließ mir von der Chefin die Ladenschlüssel geben, weil ich wollte, dass die Kundin, auch wenn die anderen Verkäuferinnen gegangen waren, etwas Passendes für sich fand. Es kam vor, dass wir bis spätabends geöffnet hatten, da wir für Stammkundinnen jederzeit auf Abruf zur Verfügung stehen mussten.

Um Mitternacht hatte sie jedes Stück aus dem Laden und dem Lager anprobiert. Wofür sie sich wohl entscheiden würde? Ich stellte eine Tasse Darjeeling neben das Sofa, denn meine Kundin würde nun gleich in ihren eigenen Sachen aus der Umkleidekabine kommen. Doch stattdessen rief sie nach mir. »Ich würde gern noch einmal das erste Kleid probieren«, sagte sie, »und auch alle anderen.« Um drei Uhr morgens konnte ich nicht mehr.

Als ich in aller Frühe auf dem Sofa aufwachte, war die Kundin noch immer in der Umkleide. Sie hatte die ganze Nacht versucht, etwas auszuwählen! Wie unbeholfen und unentschlossen die Arme war! Allmählich tat sie mir richtig leid. Ich rannte zu einer Bäckerei in der Nähe, die schon ab sechs geöffnet hatte, und stellte ihr einen Bagel und einen Milchkaffee vor den Vorhang. »Ich habe Ihnen etwas zum Frühstück geholt«, sagte ich. Sie antwortete nicht, aber da die Tüte unversehens verschwunden war, tat sie sich vermutlich an meinen Gaben gütlich.

Bevor meine Kolleginnen eintrafen, frischte ich mein Make-up auf und zog mich um. Ich hatte immer etwas zum Wechseln im Spind. »Ist das etwa die Kundin von gestern?«, fragten sie verblüfft.

»Ja, sie hat mich gebeten, den Laden heute Morgen etwas früher zu öffnen«, erklärte ich. Glücklicherweise fragten sie nicht weiter nach. Irgendwann gegen Mittag hatte sie sämtliche Sachen, die ich aus dem Lager geholt hatte, zum zweiten Mal anprobiert. Aber noch immer hatte sie nichts gefunden. Also fuhr ich mit dem Wagen zum nächsten Outletcenter und erstand eine Auswahl für sie. Alle Kundinnen, die nach und nach in den Laden kamen, überließ ich meinen Kolleginnen. Da wir zwei weitere Umkleidekabinen hatten, schien meine seltsame Kundin auch nicht weiter aufzufallen.

Die Sachen, die ich für sie gekauft hatte, gefielen ihr nicht, also beschloss ich, die Kundin in eine andere Boutique zu bringen. Unsere Chefin dekorierte mit Vorliebe den Laden um, weshalb unsere Umkleidekabinen mobil waren. Sie hatten Rollen und ein Seil, an dem man sie ziehen konnte.

Ich sagte einer Kollegin Bescheid, dass ich kurz unterwegs sei, und schlang mir das Seil um die Schulter. Die Kabine war ein wenig schwer, aber irgendwie schaffte ich es, sie auf die Straße zu bugsieren. Ich hatte mit neugierigen Blicken gerechnet, wenn ich das Ding durch die Gegend zog, aber niemand achtete auf mich. Vermutlich dachten die Leute, ich transportiere eine Kulisse für irgendein Event oder für Filmaufnahmen. Meine komplizierte Kundin jammerte, ich bräuchte mir doch nicht solche Mühe zu machen. »Keine Sorge! Wir werden schon noch das richtige Outfit für Sie finden!«, beruhigte ich sie. »Denn ich will, dass Sie diese Umkleidekabine mit einem Lächeln verlassen!«

Nach all den Anstrengungen wollte ich etwas ganz Besonderes für meine Kundin finden. Ich zog sie in Richtung meiner Lieblingsboutique. Dazu mussten wir einen ziemlich steilen Hang hinauf in die Oberstadt. Die Passanten, die ich um Hilfe bat, fragten neugierig, was denn hinter dem Vorhang sei. »Eine unserer geschätzten Kundinnen«, erklärte ich.

»Das ist mal ein...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2021
Übersetzer Ursula Gräfe
Sprache deutsch
Original-Titel Arashi no Pikunikku; Irui kon'in tan
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Absurd • akutagawa preis • Erzählungen • Etgar Keret • Gary Shteyngart • Japan • japanische Autoren • Japanische Literatur • kafkaesk erzählungen • Kenzaburo Oe • lonesome bodybuilder • murakami ähnlich • Softskull • Surrealismus
ISBN-10 3-8412-2555-1 / 3841225551
ISBN-13 978-3-8412-2555-9 / 9783841225559
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