Ahasver (eBook)

Stefan-Heym-Werkausgabe

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
272 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-27822-9 (ISBN)

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Ahasver -  Stefan Heym
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Es ist die Legende des »ewigen Juden«: Weil er Jesus auf dem Weg zur Kreuzigungsstätte nicht vor seiner Haustür ruhen lässt, wird Ahasver, der Schuster von Jerusalem, verflucht, bis zu Jesus' Wiederkunft rastlos auf Erden zu wandern. Stefan Heym, einer der herausragendsten Schriftsteller der ehemaligen DDR, erzählt den Mythos neu: Bei ihm ist Ahasver ein gestürzter Engel, der die Hoffnung auf Befreiung der geknechteten Menschheit nie aufgibt und in immer neuer Gestalt für eine bessere Welt kämpft. Ein Roman voll sinnlicher Wucht, zwischen Legende, Lutherzeit und einem brillant karikierten Politleben der DDR.

Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In den 50er Jahren, gefährdet durch die Intellektuellenverfolgung des Senators McCarthy, kehrte er nach Europa zurück und fand Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt und gilt heute als einer der bedeutenden Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001.

Zweites Kapitel


Worin der junge Eitzen im Schwanen zu Leipzig einiges über die Zeitläufte erfährt und einen Reisekameraden erhält, der ihm fürs Leben bleibt

’s ist doch wohl was Übernatürliches an der Begegnung von zwei Menschen, wo der eine gleich weiß, dies ist für’s Leben, oder doch einen beträchtlichen Teil davon, und auch der andere spürt, da ist einer gekommen, der von Bedeutung für ihn sein wird.

Dabei könnt keiner rechtens behaupten, der junge Herr Paulus von Eitzen, der auf dem Weg nach Wittenberg ist, in Leipzig aber Station gemacht hat im Schwanen, war so ein Sensibler oder hätte gar das zweite Gesicht. Eher im Gegenteil. Trotzdem er noch Flaum trägt auf seinen Wangen, hat er schon was Vertrocknetes an sich, so als hätte er nie von den bunten Dingen geträumt, die unser einer gemeinhin im Kopfe hat, wäre er noch in den Jahren. Daher sind’s auch nicht etwa hochfliegende Gedanken oder die schönen Bilder der Phantasie, die er beim Eintritt des Fremden in die Gaststube unterbricht, sondern nüchterne Berechnungen, wieviel etwa ihm zufallen würde von der Erbtante in Augsburg, welcher er im Auftrag seines Hamburger Vaters, des Kaufmanns Reinhard von Eitzen, Tuche und Wolle, einen Besuch abgestattet hat.

Der Fremde hat sich umgeblickt in dem überhitzten Raum, in dem der Geruch von Schweiß und Knofel über den Köpfen hängt und der Lärm der Gäste ein gleichförmiges Geräusch bildet ähnlich dem des Wassers, das aus großer Höhe übers Gestein herabstürzt, nur dem Ohr weniger angenehm. Nun kommt er auf den jungen Herrn von Eitzen zugehinkt und sagt: »Gott zum Gruß, Herr Studiosus, ist’s Euch wohl recht«, und zieht einen Schemel heran und setzt sich neben ihn.

Der von Eitzen aber, obzwar mißtrauisch und sofort nach seinem Säckel schielend, das er innen am Leibgurt trägt, fühlt schon, daß er nicht so leicht loskommen wird von diesem da, und rückt ein wenig beiseite und sagt, auch weil der ihn sofort als Studiosus angeredet: »Kenn ich Euch nicht?«

»Ich hab so ein Gesicht«, sagt der Fremde, »da glauben die Menschen, sie hätten mich irgendwo schon gesehen, ein Allerweltsgesicht, mit einer Nase drin und einem Mund voll Zähne, nicht sämtlich gut, und Augen und Ohren, was so dazugehört, und einem schwarzen Bärtchen.« Und bläht, während er spricht, die Nüstern und verzieht die Lippen, so daß die Zähne sich zeigen, davon ein oder zwei schwärzlich verfärbt, und blinkt mit den Augen und zupft sich erst die Ohren, dann das Bärtchen, und lacht, doch ohne Freude darin, ein Lachen, das ihm eigen.

Der junge Eitzen verfolgt das lebhafte Mienenspiel des anderen, sieht aber auch dessen merkwürdig verkrümmten Rücken und verformten Fuß und denkt, nein, ich kann ihn doch wohl nicht kennen, denn an so einen erinnert man sich, der haftet im Gedächtnis; dennoch bleibt da ein Rest von dem, was sie in Frankreich déjà vu nennen, und er ist seltsam beunruhigt, besonders da der Fremde nun sagt: »Ich seh, Ihr seid auf dem Weg nach Wittenberg, das kommt mir gut zupaß, da will ich auch hin.«

»Woher wißt Ihr?« fragt Eitzen. »Es kommen ihrer viel durch Leipzig und steigen im Schwanen ab und reisen weiter in alle Richtungen.«

»Ich hab einen Blick dafür«, sagt der Mensch. »Die Leute staunen oft, was ich weiß, geht aber alles mit natürlichen Dingen zu, Erfahrung, versteht Ihr, junger Herr, Erfahrung!« Und lacht wieder auf seine Art.

»Ich hab einen Brief an Magister Melanchthon«, sagt Eitzen, als triebe ihn etwas, sich dem anderen aufzutun, »von meiner Erbtante in Augsburg, da ist der Magister Melanchthon vor einem Jahr gewesen und war bei ihr zu Gast und hat sich delektiert, sechs Gänge hat er in sich hineingeschlungen, obwohl, wie meine Tante sagt, er ganz dürr ist und niemand weiß, wo er’s wegstaut, sechs Gänge und eine Mehlspeise mit Apfelscheiben zum Nachtisch.«

»Ja, die geistlichen Herrn«, sagt der andere, »die können’s wohl in sich hineinstopfen, unser Herr Doktor Martinus Luther besonders, aber bei dem sieht man’s, er ist schon ganz rot im Gesicht immer, er frißt sich noch zu Tode.«

Der junge Eitzen, pikiert, verzieht den Mund.

Der Fremde klopft ihm beschwichtigend auf die Schulter. »’s ist nicht auf Euch persönlich gemünzt. Ich weiß, auch Ihr habt die geistliche Laufbahn gewählt, aber Ihr seid ein maßvoller Mensch, und so Ihr einst sterben werdet, hochbetagt, werden die lieben Englein leicht zu tragen haben, wenn Sie Euch himmelwärts nehmen.«

»Ich gedenk des Todes nicht gern«, sagt der junge Eitzen, »und meines eigenen schon gar nicht.«

»Was, nicht der ewigen Seligkeit?« Der andere lacht wieder. »Die doch Ziel und Streben jedes Christenmenschen sein soll, und wo man in ewigem Glanze schwebt, in unvorstellbaren Höhen, noch weit, weit, weit über dem Firmament?«

Das dreimalige »Weit« des Fremden läßt Eitzen erschauern. Er versucht das mit seinem Verstand zu begreifen, solch große Höhen und solch großen Glanz, doch reicht es dazu nicht aus in seinem beschränkten Hirn; wenn der junge Paulus von Eitzen sich überhaupt Vorstellungen macht vom ewigen Leben, dann ähnelt die Lokalität eher dem väterlichen Hause, nur viel, viel geräumiger und prächtiger, und der liebe Gott hat den schlauen Blick und die weltgewandte Manier des Kaufmanns Reinhard von Eitzen, Tuche und Wolle.

Jetzt läutet endlich die lang schon erwartete Glocke zum gemeinsamen Abendmahl. Ein Hausknecht, schwarze Rillen im Nacken, das ungewaschene Hemd offen über der schweißigen Brust, müht sich, die Tische zusammenzuschieben zu zwei Tafeln, an denen man hoffentlich bald speisen wird; die Kasten und Koffer der Reisenden werden zur Seite gestoßen, ihre Bündel, wo sie ihr Besitzer nicht sofort greift, im Bogen zur Wand geworfen, Staub wirbelt auf und Asche aus dem Kamin, die Leute husten und niesen.

Der junge Herr von Eitzen, gefolgt von seinem neuen Freund, der sich an ihn geheftet, begibt sich zur Mitte der oberen Tafel; dort werden später die Schüsseln stehen, das weiß er, und dort gebührt ihm als Sohn aus wohlhabendem Hause ein Platz. Macht ihm auch keiner streitig, am wenigsten der neue Freund mit dem Hinkefuß und dem kleinen Puckel. Zu Eitzens anderer Seite setzt sich einer, der hat keine rechte Hand; Eitzens Auge fällt auf den Armstumpf, die rote, knotige Haut über dem Knochen; wie soll ein Mensch seine Speise schlucken können mit dem Ding da vor der Nase, aber jetzt sitzen die Gäste schon zu Tisch, eng verkeilt, kein freies Plätzchen mehr. Auch beobachtet ihn der neue Freund, grinst spöttisch und flüstert ihm zu: »Sind viele gewesen damals, die die Hand erhoben gegen die Obrigkeit; die wollten hoch hinaus; der Kerl hat Glück noch gehabt, daß man ihn nur um die Hand gekürzt hat und nicht um den Kopf.«

Der junge Eitzen, dem anfänglich nicht ganz geheuer gewesen angesichts des vielen Wissens des Fremden, hat die Scheu nun verloren; wundert sich nur noch, wie alt der wohl sei, denn die Zeit, da man sich erhob gegen die Obrigkeit und dafür um die Hand oder den Kopf kürzer gemacht ward, ist fast schon ein Menschenalter her; doch der neue Freund läßt seine Jahre nicht erkennen, könnt fünfundzwanzig sein oder fünfundvierzig. Nun zieht der ein Messerchen aus der Tasche, das zierlich gearbeitet ist, der Griff aus rosa Koralle und zeigend ein nacktes Weib en miniature, perfekt bis in die Einzelheiten; der junge Eitzen errötet; so, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und ein Knie angehoben, hat die Hur dagelegen, die ihm das Vögeln beigebracht nach drei, vier vergeblichen Versuchen; aber diese auf dem Messergriff ist viel schöner noch, und eine solche Kostbarkeit trägt der andere in seiner Tasche, und sieht dabei gar nicht aus wie einer, der Geld hat im Überfluß.

Inzwischen hat der Knecht die Tischtücher aufgelegt aus grobem Leinen, das lange nicht gewaschen und die Menüs zumindest der vergangenen Woche zeigt: Flecke getrockneter Suppe, ein paar Fädchen Fleisch, und anderes, das von irgendwelchem Fisch herrühren mag; man breitet die Ränder des Tischtuchs über den Hosenlatz und den Schoß, mancher schiebt sie sich sogar in den Gurt: besser das Tuch verdreckt als die Hose. Der junge Eitzen beäugt die Holzschale, die man ihm hingestellt hat, den Holzlöffel, den zerbeulten zinnernen Becher, und sieht sich um im Kreis, wer wohl die französische Krankheit hat oder die spanische Krätze; aus dem Maul stinken so gut wie alle und jucken sich unterm Arm und am Knie und kratzen den Schädel, vielleicht aber auch nur aus Langeweile, denn die Suppe läßt auf sich warten und der Wein auch; man hört den Wirt in der Küche mit den Weibern schimpfen, dabei hat es geheißen, der Schwanen sei der besseren Gasthäuser eines und alle wären hier immer zufrieden gewesen. Dafür beginnen die Zoten zu fliegen von einer Seite der beiden Tafeln zur anderen, über Herrn Pfarrer und seine Köchin, und wie sie’s so arg getrieben. Das wieder ärgert den jungen Eitzen, denn er nimmt seinen Glauben ernst und weiß, seitdem Herr Doktor Martinus Luther seine Thesen anschlug zu Wittenberg, haben die Pfarrer ihre Köchinnen immer brav geehelicht.

Bis die Suppe doch gebracht wird, eine große runde Schüssel, sogar mit Fetzen von Fleisch und Fett darin. Nach dem lauten Gedränge beim Einschenken, auch der mit dem Armstumpf entwickelt großes Geschick mit der Kelle, ist nur noch das Schnaufen und Schlürfen zu hören, und das leise Lachen von Eitzens puckligem Nachbarn, der zu ihm sagt: »Seht Ihr, junger Herr, ’s ist doch nicht viel anders mit dem Menschen als mit dem Vieh, und man fragt sich so manches Mal, was...

Erscheint lt. Verlag 10.5.2021
Reihe/Serie Stefan-Heym-Werkausgabe, Romane
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte DDR • eBooks • ewiger Jude • Gesamtausgabe • gestürzter Engel • Jerusalem • Judentum • Märchenbuch • Roman • Romane • Schuster • Werkausgabe
ISBN-10 3-641-27822-8 / 3641278228
ISBN-13 978-3-641-27822-9 / 9783641278229
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