Tage in Tokio (eBook)
256 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-27393-4 (ISBN)
Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021) sowie dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand die ersten beiden Teile einer an Wolfgang Koeppen angelehnten Trilogie: 'Der Sandkasten' (2022) und 'Krähen im Park' (2023).
Ich sage, weil es in der Welt, aus der ich gerade gekommen bin, in dieser Situation peinlich wäre, einfach zu schweigen, wie großartig es ist, endlich hier zu sein, dass ich auf so viele Dinge neugierig bin, keineswegs nur auf Museen, Kunstschätze, Tempel und Gärten, genauso auf das Japan der Gegenwart, Wolkenkratzer, Einkaufszentren, die Metro, auf die berühmten Combini, über die ich erst neulich einen interessanten Roman – Die Ladenhüterin – gelesen habe, auf das Essen und natürlich auch auf die Arbeit mit den Studenten.
Meine Stimme klingt unangemessen laut, das, was ich sage, erscheint mir selbst konfus. Es kann an der Müdigkeit liegen, obwohl ich mich gar nicht müde fühle, trotz der Nacht im Flugzeug. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt geschlafen habe, erinnere mich an einen ausgedehnten Zwischenzustand mit geschlossenen Augen, dazwischen ein halb finnisches, halb japanisches Bordmenü, Rindergulasch und kalte Udon-Nudeln; später stumme Schnipsel eurasischer Fantasy-Action auf dem Bildschirm des Sitznachbarn.
»Der Boxkampf wird bestimmt auch interessant«, sagt Kumekawa-san.
»Darauf freue ich mich natürlich besonders. Es ist mein erster Kampf, live am Ring.«
Neben seiner Beschäftigung mit deutscher Gegenwartsliteratur ist Kumekawa-san ein bekannter Experte für Boxsport, außerdem Spezialist für Godzilla-Filme, Jazzenthusiast und Vorsitzender der japanischen Goethe-Gesellschaft. Vor gut einem Jahr, an unserem ersten gemeinsamen Abend in Berlin, haben wir länger über Ali, Foreman, Frazier und die aktuell besten Schwergewichtler Deontay Wilder, Tyson Fury, Luis Ortiz und Anthony Joshua gesprochen als über Kunst oder Literatur. Es ist ihm gelungen, Karten für den – aus japanischer Sicht – bislang wichtigsten Kampf des Jahrhunderts zu besorgen, der zugleich das Finale der World Boxing Super Series ist: Naoya Inoue gegen Nonito Donaire.
Der Zug fährt ein. Von außen ähnelt er einem ICE oder TGV. Innen herrschen gedeckte Farben, mattes Silber, fahles Grün, Brauntöne. Der Sitz ist bequem, aber nicht so, dass man nie wieder aufstehen möchte – ein gewöhnlicher Sitz in einem modernen Hochgeschwindigkeitszug.
Nachdem er sich in Bewegung gesetzt hat, folgt eine längere Ansage, erst Japanisch, dann Englisch. Ich frage mich, welchen Sinn der Satz »All seats are reserved« angesichts der Tatsache hat, dass mehr als die Hälfte der Plätze unbesetzt sind. Zum Schluss Chinesisch. Offenbar kommen so viele Touristen aus China, dass es den Behörden angeraten erscheint, sie direkt anzusprechen, damit sie keine schwerwiegenden Fehler machen und nicht verlorengehen. Ich muss die jüngsten politischen Entwicklungen in Ostasien verpasst oder falsch gedeutet haben, denn bislang war ich wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Beziehungen zwischen beiden Ländern angespannt sind, wegen konkurrierender Besitzansprüche auf diverse Inseln im Chinesischen Meer, der Unterstützung Chinas für Nordkorea, nicht zuletzt infolge der schwach ausgeprägten Bereitschaft der Japaner, sich kritisch mit der eigenen Rolle als Kolonialmacht und Kriegspartei auf dem chinesischen Festland während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen.
An den Wänden des Tunnels blitzen in schnellem Rhythmus Neonleuchten auf, unterbrochen von kurzen Ausblicken auf dicht bewachsene Hügel, schmale Waldschluchten, von Efeu überwuchertes Buschwerk. Ein großer Parkplatz für Pendler zieht vorbei. Vielleicht sind es auch Stellflächen für frisch vom Band gelaufene Wagen eines Automobilwerks, wie ich sie von Bahnfahrten rund um Wolfsburg oder Rüsselsheim kenne.
Weitere Tunnel folgen, wechseln sich mit Bergkuppen, Sicherungszäunen, Schallschutzwänden ab, immer längere Ausblicke auf Steilhänge unmittelbar neben der Strecke. Nach einer Weile öffnet sich die Landschaft. Der Horizont ist weit, aber nicht unbegrenzt. Die Sonne steht vor wolkenlosem, durch die leichte Tönung des Fensters tiefblauem Himmel. Ein klarer Sommertag im Herbst, kraftvolle Farben, scharfe Schatten, nicht anders als bei vergleichbarer Wetterlage in Deutschland – warum auch? Es ist dieselbe Sonne, die knapp 9 000 Kilometer westlich von hier auf Berlin oder das Rheinland scheint – acht Stunden später und ganzjährig aus einem anderen Winkel: Tokio liegt auf demselben Breitengrad wie Nikosia auf Zypern oder Tanger in Marokko.
Zwischen bewaldeten Erhebungen erstrecken sich rechteckige Ackerflächen. Ich nehme an, dass es sich um Reisfelder handelt. Sie sind zu allen Seiten von niedrigen Wällen eingefasst, weil sie während einer bestimmten Wachstumsperiode vollständig unter Wasser stehen müssen. Hinter fernen Wipfeln tauchen hier und da die oberen Stockwerke vereinzelter Hochhäuser auf. Eine voluminöse Betonbrücke schlägt eine Schneise in den Wald. Es ist derselbe Typ, den man auch in Deutschland Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre gebaut hat. Einzelne Baumgruppen, Haine, satte Grüntöne in unzähligen Abstufungen, dazwischen kleinere Ansiedlungen, vermutlich Bauernhöfe und Handwerksbetriebe, die im weitesten Sinne für die Landwirtschaft tätig sind. Inmitten halbwilder Vegetation Fernwärmerohre, mächtige Strommasten, Überlandleitungen. Einen kurzen Moment lang meine ich, die Spitze einer modernistischen Pagode zu erkennen. Vielleicht ist es auch ein Wasserturm. Dann kleinere Industrieansiedlungen: Wellblechhallen, Containergebirge, ein Parkhaus.
»Die Landschaft ist interessant«, sage ich zu Kumekawa-san, meine aber eigentlich, dass ich mich darüber wundere, wie wenig sie sich von bestimmten Gegenden in Hessen oder dem Weserbergland unterscheidet, nur dass dort Mais, Weizen oder Hafer statt Reis angebaut werden.
Während ich aus dem Fenster schaue, so viel wie möglich aufzunehmen versuche, merke ich, dass meine Augen unablässig auf der Suche nach etwas Bestimmten sind, von dem ich nicht weiß, was es ist, das ich aber sofort erkennen würde, wenn es dort draußen in Sicht käme. Etwas nie Gesehenes, das mir zugleich vollkommen vertraut wäre – der unwiderrufliche Beweis, dass ich tatsächlich in Japan bin. Dazu die unausgesprochene Erwartung, dass daraufhin eine innere Wandlung einsetzen wird, wie man sie sonst erlebt, wenn man den geweihten Bereich einer alten Pilgerstätte betritt. Selbst die Pflanzen müssten eine andere Beschaffenheit, einen anderen Ausdruck haben.
»Du hast großes Glück, die Wettervorhersage ist sehr gut«, sagt Kumekawa-san. »Vorletzte Woche hatten wir noch den schwersten Taifun seit sechzig Jahren. Es gab viele Überschwemmungen überall.«
Ich habe im Radio davon gehört.
Man muss sich nicht mit den Lehren des Zen-Buddhismus beschäftigt haben, um zu wissen, dass Erwartungen grundfalsch sind, insbesondere wenn sie die Wahrnehmung auf den verschwommenen Ebenen unterhalb von Reflexion und kritischem Verstand einfärben. Ganz gleich, ob sie sich als zutreffend oder abwegig erweisen, zerstören sie die Offenheit für das einmalige Erlebnis jedes Augenblicks – in vertrauter Umgebung ebenso wie in der äußersten Fremde. Die einschlägigen Zeitschriften, Ratgeber zu Psychologie, Lebensführung, Glück, veröffentlichen in regelmäßigen Abständen Artikel über die fatalen Folgen von Erwartungen für Liebe, Familie, Beruf und Freizeit. Nur das unvoreingenommene Bewusstsein in seiner fortwährenden Gegenwärtigkeit ermöglicht wirklich authentische Erfahrung, die einen beschenkt, bereichert und dankbar zurücklässt, während Erwartungen alles, was einem begegnet, vergiften.
Kumekawa-san sagt: »Bald beginnt auch die Verfärbung des Herbstlaubs, wahrscheinlich, wenn wir in Kyoto sind. Der November ist eigentlich die beste Zeit, um Japan zu besuchen.«
Natürlich kenne ich unzählige Fotos der zinnoberroten Ahornbäume, leuchtend gelben Ginkgos von Postkarten und Kalendern, doch in meiner inneren Vorstellung japanischer Landschaften kommen sie kaum vor, im Grunde sind sie mir viel zu bunt – wie mich auch die Kirschblüte nie interessiert hat.
Ich weiß nicht mehr genau, woher meine ersten Bilder japanischer Landschaften stammen, wahrscheinlich aus den Kunstbänden der Schulbibliothek: Nebel über den Bergspitzen von Sesson, Tōhakus Kiefern, die wie Geister aus dem Dunst auftauchen, Sesshūs schroff aus dem Meer ragende Felsen, eine Hütte am Hang, Tuschespuren, die zu Bäumen gerinnen, ein verlorener Nachen – all das hingeworfen in einer einzigen Bewegung, so selbstvergessen, als hätte der Wind die Hand des Malers geführt. Später Filmbilder, noch immer schwarzweiß, das tausendfach gebrochene Licht in Kurosawas Wäldern, Regen, der auf die Blätter prasselt und niemals enden will, aber dann von einem Moment auf den anderen doch vorbei ist, so plötzlich, wie er begonnen hat. Während der letzten Jahre schließlich Tausende Stunden virtueller Fahrten am Steuer von Google Streetview, um Romanschauplätze zu finden, die Atmosphären des gegenwärtigen Japan aufzusaugen, Stadtschluchten, verschlafene Vororte, Golfplätze, Shinto-Schreine, stille Bergtäler im Umland. Merkwürdigerweise sind mir selbst die Computerbilder immer weitaus japanischer erschienen als das, was gerade in hohem Tempo an mir vorbeirauscht.
Rechts jetzt leuchtend gelbe Rapsfelder und Birkenwald wie in Brandenburg. Allerdings fehlen die großen Weidetiere. Es scheinen weder Rinder, noch Pferde, noch Schafe gehalten zu werden. Ich staune, wie dünn die Gegend besiedelt ist, hier, zwischen Tokio und seinem zweitwichtigsten Flughafen, mitten im größten und bevölkerungsreichsten Ballungsraum der Welt.
Da, wo sich Firmen angesiedelt haben, sind teilweise japanische Schriftzüge auf den Dächern, an Hallenwänden, viele haben sich allerdings für...
Erscheint lt. Verlag | 20.9.2021 |
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Illustrationen | Matthias Beckmann |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Buddhismus • eBooks • Fremde Kulturen • Globalisierung • Japan • Keramik • Kultur • Matthias Beckmann • Reise • Tee • Teezeremonie |
ISBN-10 | 3-641-27393-5 / 3641273935 |
ISBN-13 | 978-3-641-27393-4 / 9783641273934 |
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Größe: 7,3 MB
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