Die Wellenreiter (eBook)

Geschichten aus dem neuen Deutschland
eBook Download: EPUB
2021
288 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-26824-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Wellenreiter - Wladimir Kaminer
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Das neue Buch des SPIEGEL-Bestsellerautors - mit Lesevergnügen-Garantie!
Deutschland steht kopf, und Wladimir Kaminer macht daraus Geschichten mit Humor und Hintersinn ...

Wladimir Kaminer hat Deutschland auf zahllosen Reisen bis in den letzten Winkel erkundet. Doch plötzlich erkennt er Land und Leute kaum wieder - der schön geordnete Alltag steht plötzlich kopf. Statt das Verrückte im normalen Leben zu entdecken, beobachtet er nun eine Normalität, in der alles verrückt ist: Weihnachten ohne Märkte, Kreuzfahrten ohne Landgang und Pfeile am Boden, die uns den Weg durch eine veränderte Welt weisen sollen. Da braucht man jemanden, der einen zwischendurch zum Lachen bringt. Mit Wladimir Kaminer als Reisebegleiter durch dieses neue Deutschland ist eine große Portion Humor garantiert ...

Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Mit seiner Erzählsammlung »Russendisko« sowie zahlreichen weiteren Bestsellern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands.

Kontaktpersonen der Kategorie II in ihrer natürlichen Nahfeldexposition


»Wer hat das geschrieben?«, rief meine Tochter aus dem Bad. »Eine künstliche Intelligenz? Ich kann mir nicht vorstellen, dass so etwas Langweiliges und Ödes von einem Menschen aus Fleisch und Blut verfasst wurde, einem Menschen mit Herz und Seele! Und mit Bart!«

Nicole las Das Kapital von Karl Marx in der Badewanne. Sie hatte es bei Dussmann im Sonderangebot gekauft, Ledereinband, kleine Schrift, 768 dünne Seiten, die permanent nass wurden. Das Buch war eigentlich für eine Kommunisten-Freundin als Geburtstagsgeschenk gedacht, aber dann hatte Nicole beschlossen, es erst einmal selbst zu lesen, obwohl sie bereits einen Stapel ungelesener dicker Bücher von ihren Freunden zu ihrem eigenen Geburtstag bekommen hatte: über die Herrschaft der alten weißen Männer, über die Zukunft, die weiblich war, und über Black Lives Matter. Lauter Diskurse, die junge Herzen heute höherschlagen ließen.

Fast alle aus dem Freundeskreis meiner Tochter hatten im September Geburtstag, als wären sie nicht von guten Eltern, sondern vom Weihnachtsmann. Nicole selbst sollte in diesem September 24 Jahre alt werden, aber die große Party war ausgefallen. Wegen Corona. Einige Freunde hatten Angst, andere mussten in Quarantäne. »Ich bleibe 23«, sagte Nicole, »wegen Corona fällt sowieso alles aus.« Sie hatte ihre Bachelor-Arbeit fertig geschrieben und sich für ein Masterstudium in Ethnologie immatrikuliert, doch den Master gab es dieses Jahr nur als Onlineangebot. Wer brauchte den Master in einem Onlinesemester? Also schimpfte sie über Karl Marx und ging in einer russischen Bar kellnern. Seit ein paar Wochen hatten sie dort einen neuen russischen Koch, der wie Karl Marx aussah, nur glatt rasiert.

»Du weißt doch, Papa, in jedem alten russischen Film gibt es diesen einen Typen, der die ganze Zeit schweigend am Tisch sitzt, melancholisch in die Ferne schaut und eine Zigarette nach der anderen raucht. Das ist unser neuer Koch!«, erzählte mir Nicole. Der alte war wegen Corona ausgefallen. Es war ja so viel ausgefallen. Die Menschen hatten entweder Angst oder Fieber, oder sie wurden vom Gesundheitsamt in eine zweiwöchige Quarantäne gesteckt, weil sie von jemandem, den sie gar nicht kannten, als Kontaktpersonen identifiziert worden waren.

»Sag nichts Schlechtes über Karl Marx!«, rief ich zurück. »Der ist in meinen Augen ein Prophet. Er hat vorausgesehen, dass der Kapitalismus eine Sackgasse ist und uns alle irgendwann zugrunde richtet. Er hat sogar Corona vorausgesehen, wie sonst wäre sein prachtvoller Schnurrbart zu erklären? Der Schnurrbart ist ein natürlicher Gesichtsschutz gegen Infektionen. Deine eigenen Viren bleiben darin stecken, und die fremden verlaufen sich darin. Deswegen haben die Polen so wenig Infizierte, weil so viele von ihnen Bart tragen.«

An der Ostsee waren im August in Heringsdorf alle Partys ausgefallen, während die Polen gleich um die Ecke völlig atemlos durch die Nacht feierten. Die deutsche Jugend lief also jeden Abend zum Tanzen über die Grenze nach Paprotno.

»Ein Bart schützt doch nicht vor Viren, er ist eher ein Virenfänger und -behälter!«, widersprach mir die Tochter. »Im Bart bleibt alles stecken. Die Polen haben wenig Infizierte, weil sie einfach weniger testen. Und Karl Marx hatte keine Ahnung von Corona. Er hat bestimmt als Kind nie vom Weihnachtsmann Besuch bekommen, weil ihm seine Eltern diese Weihnachtsmannlüge ersparen wollten. Das hat ihn sehr gekränkt, denn jedes Kind braucht etwas Geheimnisvolles, woran es glauben kann. Dieses Kindheitstrauma wollte er später mit überflüssigem Haarwuchs überwinden. Er wollte sein eigener Weihnachtsmann sein«, meinte Nicole.

»Na gut«, sagte ich, »oft sind es eben die Möchtegern-Weihnachtsmänner, die kommen, um uns zu warnen. Und er hat die Menschen gewarnt, der Kapitalismus sei ein System, das auf Ausbeutung und Versklavung aufgebaut ist, das Geld nur des Geldes wegen produziert und dem sich keiner entziehen kann. Es wird unter seiner eigenen Last, dem Elend, der Knechtung und Ausbeutung, die es hervorbringt, einstürzen und uns allen um die Bärte fliegen. Alle wissen das, alle nicken zustimmend und machen trotzdem weiter, noch einmal und noch einmal, bis ihnen das Geld ausgeht oder sie sterben. Und dann kommen die Nächsten und machen genauso weiter. Auch jetzt in der Corona-Zeit beschäftigten sich die meisten mit der Frage, wann sie zu ihrem alten Leben zurückkehren und endlich wieder so weitermachen können wie vorher, als wäre nichts gewesen. Nur das interessiert sie.«

Das Land bereitete sich gerade auf die zweite Welle vor. Die Bundeskanzlerin forderte die Einführung einer bundesweiten Warnampel und ein härteres Eingreifen in das innerstädtische Partyleben. Wenn es so weitergehe wie bisher, hätten wir zu Weihnachten 20 000 Infizierte täglich, warnte sie. Die Aussagen der Politiker klangen widersprüchlich. »Wir sehen Licht am Ende des Tunnels«, sagten sie: Die zweite Welle sei zwar unausweichlich und sogar bereits da, wir könnten sie aber verhindern, obwohl wir bereits mittendrin wären und nichts Gescheites dagegen unternehmen könnten. Auf uns warteten ein paar ruhige Monate. München ohne Oktoberfest, Weihnachten ohne Märkte, Karneval ohne Umzüge, der russische Impfstoff Sputnik »Los geht’s« V und ein langes glückliches Leben im Homeoffice.

Die Russen prahlten bereits seit Wochen mit ihrem neuen Impfstoff. Sie impften alles und jeden. Vor allem waren sie darauf scharf, namhafte ausländische Gäste mit ihrem Vakzin zu beglücken. Gérard Depardieu hatte als Mitglied der Risikogruppe sofort eine ganze Kiste davon nach Hause geliefert bekommen. Angeblich hatten sich auch der Schauspieler Steven Seagal und der Italiener Prodi dieses Sputnik spritzen lassen. Prodi meinte später in einem Interview, eine Woche nach der Impfung hätte er plötzlich Russisch verstehen und Putin toll finden können. Böse Zungen hatten schon früher erzählt, die russische Führung wolle mit diesem Impfstoff das heikle Problem der Präsidentschaftswiederwahl 2024 ein für alle Mal lösen. Man munkelte, jeder, der sich auf die Impfung einließe, würde sie alle drei Jahre erneuern müssen, und zwar mit exakt demselben Stoff. Den würden sie aber nur bekommen, wenn sie den Präsidenten unterstützten. Es wäre für den Kreml eine enorme Erleichterung, die Wahl nicht mehr manipulieren zu müssen, sondern die Menschen wie in demokratischen Ländern einfach frei wählen zu lassen. Sollte doch jeder selbst entscheiden: Wollte er Putin oder einen qualvollen Tod. So erklärte der Volksmund die Großzügigkeit des Staates bei der Impfstoffverteilung.

Meine Herbstlesereise war nicht gänzlich ausgefallen, denn jede Stadt hatte sich bemüht, ein eigenes Hygienekonzept zu entwickeln. In den riesigen Stadthallen, in denen früher Tausende zusammen gefeiert hatten, durften jetzt nur noch 200 Menschen gemütlich beisammensitzen, mit gebührendem Abstand und Maske, versteht sich. Jeder hatte Platz für fünf und musste seinem Nächsten nicht auf die Glatze niesen. Nach dem Lockdown im Frühling waren die Kulturmotoren wieder ein wenig angesprungen, doch das Kulturauto blieb immer wieder stehen. Es war allen klar, dass jede Veranstaltung die letzte sein konnte. Es reichte ja schon, wenn einer hustete – schon war Schluss mit lustig.

In Lamspringe musste ich zwei Lesungen hintereinander abhalten, weil die Anzahl der verkauften Karten nicht mit dem Hygienekonzept des Schafstalls in Einklang zu bringen war. In Bad Elster wurde ich zu meiner eigenen Verwunderung zum Ehrenkünstler des König Albert Theaters ernannt, ich bekam einen Blumenstrauß und eine Urkunde. Seit vielen Jahren veranstaltete ich in diesem wunderschönen Theater schon Lesungen, war aber noch nie zum Ehrenkünstler ernannt worden. Wahrscheinlich lag es daran, dass sich nur ganz wenige Künstler trauten, im Jahr der Pandemie auf die Bühne zu gehen. In Hamburg hatte ich einen Auftritt in der berühmten Elbphilharmonie, dem neuen Hamburger Wahrzeichen von unsäglicher Schönheit und Eleganz. Die Wände im Saal waren von innen etwas provokativ mit erotischen halbkugeligen Tälern dekoriert, was die Menschen zum permanenten Anfassen der Wände animierte. An jenem Abend sollte ich Geschichten zum Thema Musik lesen und eine Russendisko veranstalten, die aber natürlich ins Wasser fiel. Wegen Corona. Also tanzte ich allein auf der Bühne, erzählte und las Musikgeschichten vor.

Die Hygienemaßnahmen in der Elbphilharmonie waren weitaus schärfer als in den ländlichen Gegenden. Man durfte nicht zu zweit in den Fahrstuhl steigen, mein Manager durfte die Garderobe nicht betreten, ich selbst sollte meine Maske erst auf der Bühne abnehmen und wegen der Schmierinfektionsgefahr möglichst nichts anfassen. Bereits bei der Tonprobe kam es zu einem Problem.

»Sie haben den Mikrofonständer angefasst«, sagte die nette Gastgeberin zu mir. »Jetzt dürfen ihn unsere Techniker nicht mehr berühren. Sie müssen nun allein mit dem Stativ zurechtkommen. Schaffen Sie das?«

Diese Strenge war aus der Not geboren, es war nämlich allen klar: Wir hatten nur eine Chance, bis der erste Zuhörer nieste. Danach würde die Philharmonie sofort geschlossen, und das Hamburger Wahrzeichen von Schönheit und Eleganz müsste eine zweiwöchige Zigarettenpause einlegen. Schnell weg hier, dachte ich.

Mein nächster Termin war zum Glück jenseits der verseuchten Großstädte auf dem Land in Nordrhein-Westfalen. Dort hatte ich in der Orangerie eines Wellnesshotels mit großem Park und viel frischer Luft eine Lesung. Alles an dieser Anlage wirkte jungfräulich gesund. Der Park prahlte...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte buch bücher • Bücher über Deutschland • eBooks • Familiengeschichten • humorvolle bücher bestseller • Kollegen Geschenk Kleinigkeit • lustig • lustige • Neuerscheinungen Bücher 2021 • Roman • Russendisko • vladimir kaminer • witzige Geschenke
ISBN-10 3-641-26824-9 / 3641268249
ISBN-13 978-3-641-26824-4 / 9783641268244
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