1959. Die sechzehnjährige Brit kann es nicht erwarten, das kleine Kaff Riekenbüren endlich hinter sich zu lassen und die große weite Welt zu erkunden. Erster Stopp: Sylt! Dort verliebt sie sich Hals über Kopf in den Hotelpagen Arne - und verbringt sogar eine Nacht mit ihm. Dass diese Nacht nicht folgenlos bleibt, erfährt Brit erst, als sie zurück in Riekenbüren ist. Die Eltern wollen sie zur Adoption zwingen, Arne hingegen verspricht, Brit zu heiraten und das Kind gemeinsam großzuziehen. Doch dann verschwindet er spurlos. Brit kehrt zurück auf die Insel, auf der die Luft nach Freiheit riecht und das Meer nach Neuanfang klingt - und begibt sich auf die Suche nach dem Vater ihrer Tochter und der Liebe ihres Lebens ...
Der fulminante Auftakt der Sylt-Saga von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Gisa Pauly
Gisa Pauly hat zwanzig Jahre lang als Berufsschullehrerin gearbeitet, ehe sie das Unterrichten an den Nagel hängte und sich ganz dem Schreiben widmete. 1994 erschien ihr erstes Buch »Mir langt's - eine Lehrerin steigt aus!«, darauf folgten zahlreiche Drehbücher und Romane. Mit den Sylt-Krimis über Mamma Carlotta erobert sie Jahr um Jahr die Bestsellerlisten und die Herzen der Leserinnen und Leser. Ihre historische Sylt-Saga rund um das »Fräulein Wunder«, erklomm sofort die Spitze der SPIEGEL-Bestsellerliste und hielt sich dort monatelang. Gisa Pauly zählt zu den erfolgreichsten Autorinnen im deutschsprachigen Raum.
Juni 1959, Riekenbüren
»Bi – ki – ni!« Erwartungsvoll blickte Brit ihren Vater an. Dieser jedoch setzte dieselbe Miene wie ihr Erdkundelehrer auf, der unter dieser Bezeichnung auf keinen Fall etwas anderes als eine Inselkette im Pazifischen Ozean verstehen wollte. »Mensch, Papa! Du musst doch schon mal von einem Bikini gehört haben!« Ihre Augen sprühten, hilfloser Zorn machte ihr rundes, weiches Gesicht schmal und hart. »Alle werden einen Bikini tragen, wenn wir auf Sylt sind.«
»Wenn das so ist, bleibst du zu Hause.« Edward Heflik humpelte zur Drechselbank und drehte seiner Tochter den Rücken zu, besonders breit, besonders unversöhnlich.
Im selben Augenblick wurde die Tür zur Werkstatt aufgerissen, Brits Mutter erschien auf der Schwelle mit hochrotem Gesicht, so strahlend, als hätte sie in der Lotterie gewonnen. »Sie funktioniert tatsächlich!« Wie ein Sportler einen Pokal, hielt sie eine elektrische Kaffeemühle triumphierend in die Höhe. Die war ihr von Edward zum Geburtstag geschenkt worden. »Ein Knopfdruck, und schon ist der Kaffee gemahlen.« Als sie weder von ihrer Tochter noch von ihrem Mann eine Reaktion erhielt, ließ Frida Heflik die Mühle entmutigt sinken. »Habt ihr schon wieder Streit?«
Brit schob ihre Mutter zur Seite und ging mit schnellen Schritten aus der Werkstatt. Und ob sie Streit hatten! Eigentlich hatte sie mit ihrem Vater nur noch Ärger. Er erlaubte ihr einfach gar nichts! Ständig hieß es: Was ist das für ein neumodisches Zeug? So was brauchst du nicht, das hatten wir früher auch nicht …
Kopflos rannte sie aus der Schreinerei, über den Hof, an dem Traktor vorbei, um den Anhänger herum, der gerade beladen wurde. Früher hatte die Schreinerei Wunder am Rande des Dorfes gelegen, heute stand sie mittendrin, weil Riekenbüren größer geworden war. Nur hinter dem Haus war alles so geblieben wie früher, das Land gehörte ja der Familie. Wenn sie auch nie Bauern gewesen waren, Landbesitz war immer gut. Das hatten schon die Vorfahren von Edward Heflik gewusst.
»Nun mal langsam, junge Deern«, rief Piet, der älteste Geselle, ihr nach. »Oder läuft das Fräulein Wunder schon wieder vor der Arbeit in der Küche davon?«
»Idiot«, flüsterte Brit vor sich hin. »Idiot!« Lauter wurde sie erst, als der Abstand groß genug war und niemand sie mehr hören konnte. »I – di – ot!«. Immer wieder, im Rhythmus ihrer Schritte. Wie sie es hasste, Fräulein Wunder genannt zu werden. Besonders dann, wenn der Spitzname so spöttisch gemeint war wie jetzt. Und erst recht, seit der Begriff »Fräuleinwunder« ständig in den Schlagzeilen benutzt wurde. Nur, weil die Schreinerei den Namen Wunder behalten hatte, obwohl schon seit zwei Generationen die Besitzer Heflik hießen, nachdem eine der Wunder-Frauen einen Heflik geheiratet hatte.
Der Schuppen, in dem die Gerätschaften untergestellt waren, lag nun hinter ihr, der Hof der Schreinerei lief in einer Wiese aus, die niemand brauchte. Früher hatten dort mal ein paar Ziegen gestanden, die für Ziegenkäse sorgen sollten, aber irgendwann keine Milch mehr geben wollten. Doch es fand sich niemand, der sie schlachten wollte, auch Edward Heflik nicht und seine ansonsten eher unerschrockenen Arbeiter auch nicht. »Ich schlachte kein Tier, das einen Namen hat«, hatte der Altgeselle gesagt, »und erst recht keins, das ich mal gekrault habe.« Da die drei Ziegen Rosi, Betti und Hilde hießen, hatten sie auf der Wiese stehen bleiben dürfen, bis ihnen die Beine wegknickten. Das war dann ausgerechnet Hilde widerfahren, als sie Hassos Bollerwagen, den der Vater ihm gebaut hatte, zum Erntedankfest ziehen sollte. Die Bestürzung war sehr groß gewesen. Mittlerweile waren auch Rosi und Betti gestorben, und die Wiese war leer. Edwards Vater hatte sie vor dem Krieg gekauft, als der frühere Besitzer in finanzielle Schwierigkeiten gekommen war. Sie war von keinem großen Nutzen, seit die Ziegen weggestorben waren, erst recht nicht.
Am Ende der Wiese stand das kleine Haus, in dem die Familie Mersel zur Miete wohnte. Ganz in der Nähe stand der Wohnwagen, den sich Brit demnächst mal genauer ansehen wollte. Aber nun hatte sie keinen Blick für diese unglaubliche Neuigkeit, die sie vor ein paar Tagen noch brennend interessiert hatte. Denn offenbar wohnten darin Leute aus dem Ruhrgebiet, die auf dem Land Urlaub machen wollten. Urlaub! Was für ein Wort! Ihr Vater hatte sich darüber lustig gemacht. Kein Mensch brauchte seiner Meinung nach Urlaub, das war nur was für verwöhnte Städter. Wer auf dem Land wohnte und jeden Tag die gute Luft genießen konnte, brauchte keinen Urlaub. Urlaub war auch so was Neumodisches, das Edward Heflik aus Prinzip ablehnte. Und überhaupt … zusammengepfercht in einem winzigen Wohnwagen – das sollte Urlaub sein? Völlig verrückt. Wenn schon, dann bestand Brits Vater darauf, dass nicht von Camping sondern vom Kampieren die Rede war. Musste man denn jedes Wort dem englischen Sprachgebrauch angleichen?
Brit rannte bis zum Teich, hinter dem die Grundstücksgrenze verlief. Ein zugewucherter Zaun zeigte an, wo das Land von Bauer Jonker begann. Nein, dieses neue Wort Urlaub gab es nicht im Sprachschatz der Hefliks. Aber eine Woche Sylt – war das nicht so etwas wie Urlaub? Eine Auszeit auf jeden Fall. War es das, woran sich ihr Vater so störte? Die Zwischenprüfung der Handelsschule hatte sie bestanden, sogar mit guten Noten, sie konnte sicher sein, auch die Abschlussprüfung im März zu bestehen. Grund, sich Urlaub zu gönnen? Nein, Edward Heflik fand es selbstverständlich, dass seine Tochter sich anstrengte, um eine Bildung zu bekommen, die den Frauen früherer Generationen vorenthalten geblieben war.
»Urlaub!« Sie ließ sich auf den kleinen Steg fallen, der bedenklich knirschte, zog die Sandalen aus, warf sie hinter sich und steckte die Füße ins Wasser. Eiskalt! Aber die Nordsee würde garantiert noch kälter sein.
Ihr Vater hatte gelacht, als zum ersten Mal junge Leute bei ihm erschienen und ihn baten, auf seiner Wiese ihr Zelt aufschlagen zu dürfen. Wenn sie keinen Dreck machten und ihre Notdurft dort verrichteten, wo es sonst die Ziegen getan hatten, störte es ihn nicht weiter. An einem Abend war er dann zu den drei jungen Männern gegangen, um nach dem Rechten zu sehen, und hatte von ihnen erfahren, dass dieses Campen in Mode gekommen war. Das hatte sich bis Riekenbüren noch nicht herumgesprochen. Staunend hörte Edward Heflik, dass man Geld damit machen konnte, wenn man Fremden gestattete, auf dem eigenen Grund und Boden zu kampieren, und sich gleichzeitig darüber gefreut, dass er das ungenutzte Weideland hinter seinem Haus nie verkauft hatte. Natürlich musste man dann auch einiges zur Verfügung stellen: Toiletten und Waschgelegenheiten zum Beispiel und Parkplätze, wenn die Camper mit Autos kamen und einen Wohnwagen hinter sich herzogen. »Wohnwagen?« Edward Heflik hatte gelacht, als er zum ersten Mal davon hörte. Aber dann hatte er sehr nachdenklich vor sich hin geblickt, einen ganzen Abend lang, und am nächsten Tag verkündet, dass er einen neuen Weg gefunden habe, Geld zu verdienen. »Ein zweites Standbein kann nicht schaden.«
Brit starrte in den Himmel, ohne die Vögel zu sehen, die sich einen Schlafplatz suchten, ohne zu merken, dass die Kronen der großen Bäume sich nicht mehr bewegten. Der Wind war eingeschlafen, aber ihr Zorn war noch hellwach. Über Riekenbüren entstand die Ruhe, die es nur sonntags und nach Feierabend gab. Alle Maschinen waren abgestellt worden, Stimmen waren auch nicht mehr zu hören. Nachdem ihr Vater die Gesellen nach Hause entlassen hatte, sprach er selbst auch immer ruhig und leise. Nur gelegentlich knatterte ein Motorroller, der einem jungen Arbeiter gehörte, der heimfuhr. Aber in diesem Augenblick war nichts zu hören. Nur Stille.
Eine Stille, die Brit schon seit Langem in den Ohren wehtat. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als ein Kofferradio, das diese Stille zunichtemachen konnte. Aber diesen Geburtstagswunsch hatte ihr Vater ihr rundweg abgeschlagen. Er hielt alles für überflüssig, was es nicht auch früher schon gegeben hatte. Dass er seiner Frau eine elektrische Kaffeemühle geschenkt hatte, war ein kleines Wunder. Vielleicht sogar ein echter Liebesbeweis.
Brit hatte lange betteln müssen, bis ihr Vater die Erlaubnis für die Fahrt nach Sylt gegeben hatte. Nicht, weil kein Geld im Haus war, wie das bei einigen Klassenkameradinnen der Fall war, deren Väter im Krieg geblieben oder schwer versehrt zurückgekommen waren. Nein, sie hatten ja Glück gehabt, ihr Vater war aufgrund seiner Behinderung ausgemustert worden. Er hatte Haus und Hof über die Kriegsjahre retten können. Aber da, wo die Frauen genötigt waren, den Unterhalt für die Familie zu verdienen, ging es ärmlich zu. Frauen verdingten sich als Erntehelferinnen, als Hausmädchen, Putzhilfen, sie hatten meist nichts gelernt. Nur die Klassensprecherin in der Handelsschule hatte eine Mutter, die Goldschmiedin war. Aber ihr Geld verdiente sie dennoch als Hilfsarbeiterin in einer Fabrik, weil keiner der Juweliere im Umkreis eine Frau einstellen wollte.
Nein, der Grund für die Skepsis von Edward Heflik, wenn es um die Sylt-Reise seiner Tochter ging, war nicht das Geld. Er besaß eine gut gehende Schreinerei, die schon seit Generationen die Familie ernährte, sie waren zwar nicht reich, hatten aber nie Geldsorgen gehabt. Vielmehr verstand Edward Heflik nicht, was das Wort Erholung zu bedeuten und was es mit einer Reise an die Nordsee zu tun hatte. Außerdem gehörte es sich für eine junge Frau einfach nicht zu verreisen, selbst dann nicht, wenn es sich um eine schulische Unternehmung handelte,...
Erscheint lt. Verlag | 8.3.2022 |
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Reihe/Serie | Die Sylt-Saga | Die Sylt-Saga |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. - 21. Jahrhundert • 2022 • 50er Jahre • 60er Jahre • Bestseller • Bestsellerautorin • Café • Deutsche Geschichte • Deutschland • Dynastie • eBooks • Familiensaga • Frauen • Frauenromane • Frauenschicksal • Gastronomie • Gefühl • Geschichte • Historische Liebesromane • Historische Romane • Hotel • Kaffeehaus • Liebe • Liebesroman • Liebesromane • Luxus • Mamma Carlotta • Mutter • Neuerscheinung • Romantik • Schicksal • Schwangerschaft • Starke Frauen • Sylt • Tochter • Tragik • Urlaub • Wirtschaftswunder |
ISBN-10 | 3-641-27677-2 / 3641276772 |
ISBN-13 | 978-3-641-27677-5 / 9783641276775 |
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