Tagebuch eines Hilflosen (eBook)

Skizzen aus dem Amerika Donald Trumps
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2021 | 1. Auflage
929 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-0030-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tagebuch eines Hilflosen -  Francis Nenik
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Literarische Zeitgeschichtsschreibung, die uns alle angeht: vier Jahre lang begleitete Francis Nenik die Präsidentschaft Donald Trumps. Ein genialer Seismograf, dessen Fühler bis ins Epizentrum der Macht reichen. Am 20. Januar 2017, dem Tag von Donald Trumps Inauguration, beginnt Francis Nenik ein einzigartiges Schreibvorhaben. Er will diese bizarre Präsidentschaft in seinem Tagebuch begleiten. Genau vier Jahre später werden es 1461 Einträge sein: einer für jeden Tag dieser Amtszeit. Nenik geht es aber nicht nur um Donald Trump. Er nimmt die gesamte Administration in den Blick, um die politischen Veränderungen in den USA zu analysieren und die schrittweise Transformation des Landes genau zu beschreiben. Immer wieder widmet er sich deshalb auch scheinbar abseitigen Themen, geht auf wenig bekannte historische Ereignisse ein und scheut sich bei aller Kritik an Trump auch nicht, die politische Kultur auf der anderen Seite des Spektrums kritisch zu hinterfragen. Durch die täglichen Tagebucheinträge entsteht zugleich eine Poetologie, die die Geschichte nicht von ihrem Ende her erzählt, sondern während sie geschieht. Nenik nutzt dabei die Möglichkeiten des Schriftstellers, arbeitet mit Aphorismen und Alliterationen und verfasst literarische Essays zu politischen Entscheidungen. Zugleich bedient er sich auch wissenschaftlicher und journalistischer Mittel und Formen, arbeitet mit Behördendokumenten, Studien und Archivmaterial. Nenik gelingt es so, das Kaleidoskop einer Ära zu zeichnen. Ein Buch, das uns im Rückblick dabei helfen wird, zu verstehen, was vor unser aller Augen passiert ist.

Francis Nenik, 1981 geboren, wuchs in einem kleinen sächsischen Dorf auf und lebt heute abwechselnd in Leipzig und seinem Heimatort. Sein Debütroman 'XO' erschien im Jahr 2012. Es folgten weitere Romane und erzählende Sachbücher. Zuletzt erschien bei Spector Books 'Seven Palms. Das Thomas-Mann-Haus in Pacific Palisades' sowie bei Voland & Quist seine 'Reise durch ein tragikomisches Jahrhundert'.

Francis Nenik, 1981 geboren, wuchs in einem kleinen sächsischen Dorf auf und lebt heute abwechselnd in Leipzig und seinem Heimatort. Sein Debütroman "XO" erschien im Jahr 2012. Es folgten weitere Romane und erzählende Sachbücher. Zuletzt erschien bei Spector Books "Seven Palms. Das Thomas-Mann-Haus in Pacific Palisades" sowie bei Voland & Quist seine "Reise durch ein tragikomisches Jahrhundert".

»Jeder sollte das Tagebuch eines anderen führen.«

Oscar Wilde

20.01.2017


Inauguration: Der Vogel hebt ab und deutet den eigenen Flug, seine Tätigkeit wird nur auf der zerbügelten Haut seines von innen gegerbten Gesichts den Charakter eines Opfers tragen.

21.01.2017


Noch immer protestieren Millionen Menschen gegen Donald Trump. Dagegen, dass er die Wahl gewonnen hat, dass er Präsident ist und dass er überhaupt ist, wie er ist. Und doch: Auf der Rückseite der Proteste lauert bereits die Gewöhnung. Sie wartet auf ihren Einsatz. Es wird noch ein wenig dauern, bis sie hervortreten kann. Aber das macht nichts. Sie ist geduldig, denn sie weiß: Ihr Tag wird kommen, so wie er gekommen ist. Das Normale ist das Machbare plus Zeit.

22.01.2017


Donald klagt, die Presse fördere den Zwiespalt. Er erkennt das an seinen Haaren. Der Spliss hat zugenommen. Melania ist Haircare kaufen gegangen: Damit wird er das Land einen.

23.01.2017


Washington D. C., 8 Grad, Regen, dazu eine Sturmwarnung vom Nationalen Wetterdienst. Das muss sich ändern! Papier und Tinte werden’s richten. Sturmwarnungen verfasst in Zukunft das Oval Office. Alles in trockenen Tüchern. Superpower-Montag.

24.01.2017


Donald Trump verbringt seine ersten Tage im Weißen Haus damit, eine Vielzahl von Durchführungsverordnungen zu unterzeichnen. Es ist die reinste Fließbandarbeit. So viel hat er in seinem ganzen Leben noch nicht geschrieben. Aber er hat auch viel vor. Er will die Mexikaner ausmauern. Will den von Obama gestoppten Bau der Keystone XL Pipeline wieder aufnehmen und Rohöl aus Kanada quer durchs Land und sämtliche Naturschutzgebiete transportieren. Will aus dem Transpazifischen Partnerschaftsvertrag aussteigen, um Einfuhrzölle für ausländische Produkte erheben zu können. Und er will sämtlichen Organisationen, die auch nur über die Möglichkeit von Schwangerschaftsabbrüchen informieren, die Entwicklungsgelder streichen. Und zwar komplett. Finanzielle Abreibung für medizinische Abtreibung sozusagen. Und damit das auch alle verstehen und sich auch in hundert Jahren noch an Donald Trumps großes Streichkonzert erinnern, saß er gestern Abend wieder an seinem schweren Eichenholzschreibtisch, dem sogenannten »Resolute Desk«, und signierte sein radikal-resolutes Anti-Abtreibungs-Papier. Umringt war er dabei von einem Dutzend Männer – diverse Berater und Stabschefs, dazu Vizepräsident Mike Pence, Trumps Schwiegersohn Jared Kushner und noch einige mehr. Sie alle nickten, als Trump das Memorandum signierte. Frauen waren keine zugegen. Aber warum auch? Die Betroffenen werden wie immer nicht gefragt.

25.01.2017


Im Weißen Haus treffen sich weiße Männer mit weißem Haar um Obamacare so weiß wie möglich auszuradieren. In den Kohlegruben von Kentucky bereuen derweil weiße Männer mit schwarzen Lungen ihre Wahl. Wenn Obamacare fällt, platzen ihre Gesundheitsversicherungen wie unter Hochdruck stehende Lungenbläschen. Graue Tage für sie.

26.01.2017


The New Furor spricht: »Der Anfang meiner Worte ist das Ende eurer Welt!«

I: ex

IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII

M: k. o.

27.01.2017


Trump ist der Retter des Fernsehens. Er bezieht seine Informationen aus dem TV und reagiert darauf via Twitter. Er hat die Nachrichtenkette umgekehrt. Aber das ändert nicht das Geringste. Das Ereignis ist ER – und wie rum ER die Kette hält, ist egal. Hauptsache, ER hält sie in der Hand.

28.01.2017


Am Ende des Tages ist Donald Trump auch nur ein alter Mann, der Angst davor hat, dass seine Welt eine andere werden könnte.

29.01.2017


Als Präsident wohnt Trump zwar im Herzen Washingtons, die Leute dort scheinen ihn aber nicht gerade in ihre Herzen geschlossen zu haben. Bei der Präsidentschaftswahl hat er in der Stadt nur 4,09 % der Stimmen geholt. Das ist das schlechteste Ergebnis, das ein Kandidat der Republikaner jemals in Washington D. C. erzielt hat. Andererseits: So viel besser waren die meisten anderen auch nicht. Seit 1992 haben alle republikanischen Kandidaten in Washington D. C. weniger als 10 % der Stimmen geholt. Und auch davor sind sie niemals auch nur in die Nähe eines Sieges gekommen. Das beste Ergebnis hat Richard Nixon für die Republikaner eingefahren, der 1972 exakt 21,56 % der Stimmen gewann. Wenn das »D. C.« nicht schon »District of Columbia« hieße, könnte man es also mit »Democratic County« übersetzen. Aber Trump wird das nicht weiter jucken, denn erstens ist er Präsident, zweitens kann er sich durch das Ergebnis in Washington weiter als Stachel im politischen Herzfleisch des Establishments inszenieren und drittens hat er die 90,86 %, die Hillary Clinton in Washington erzielt hat und die landesweit den Rekordwert für die Demokraten darstellen, anderswo locker getoppt. Und zwar mehrfach. Um genau zu sein, hat Trump in sechs Countys 91 % oder mehr geholt. Am höchsten war die Zustimmungsrate in Roberts County in Texas, wo 94,58 % der Leute ihr Kreuz bei Trump gemacht haben. Überhaupt hat er 2.623 der 3.112 Countys gewonnen und damit so viele, wie seit Ronald Reagan 1984 überhaupt keiner mehr.

30.01.2017


Trumps Landwirtschaftsminister heißt Sonny Perdue. Eine perfekte Wahl, wenn es darum geht, der Verschleierung der Tatsachen Rechnung zu tragen, denn nichts verbirgt die gnadenlose Fratze der Agrarindustrie besser als ein gutmütiges Großvatergesicht. Ökologische Landwirtschaft, Unterstützung kleiner Farmen, Tierschutz, Arbeitnehmerrechte, Maßnahmen gegen den Klimawandel – damit ist es aus und vorbei. C’est perdue.

31.01.2017


Man kann die Tatsache, dass Trump zum Präsidenten gewählt worden ist, auch als Sieg des amerikanischen Pragmatismus über die europäische Moralphilosophie lesen.

01.02.2017


Ich habe mir einen Anagramm-Generator gebaut und ihn gefragt, was ich mit »Donald Trump« tun kann. Er hat mir eine Trilogie des potenziellen politischen Aktionismus geschrieben:

Teil 1:

Darn Mud Plot.

Das Dreckskomplott verwünschen.

Teil 2:

Damp Lord Nut.

Herrn Dummnuss schwächen.

Teil 3:

Punt Mad Lord.

Den verrückten Herrscher wegkicken.

02.02.2017


Es ist für mich unvorstellbar, wie die Welt in vier Jahren, nach dem Ende von Trumps Präsidentschaft, aussehen wird. Aber noch viel unvorstellbarer ist für mich, wie die Einträge in diesem Tagebuch dann aussehen werden. Es scheint, als erfordere das Abbild einer Zeit mehr Vorstellungskraft als die Zeit selbst. Aber warum auch nicht? Alle Historiografie ist ein Sich-Distanzieren. Schritt hält der Schreibende nur mit sich selbst. Das Imaginäre ist die geschichtsmächtigste Kraft.

03.02.2017


Die USA nehmen Bootsflüchtlinge aus Lagern der Australier auf. Laut Donald Trump wird das Heimatschutzministerium jeden Einzelnen genau untersuchen. Eines werden sie aber bei keinem finden: die Menschenwürde. Die haben ihnen die Australier schon genommen.

04.02.2017


Langsam verwesende Körper unter Maßanzügen. Überzüchtete Gehirne, die sich austoben wollen. Wall Street. Neue Freiheit. Statt Anklage die Anti-Klagemauer. Die Gebetszettel lesen sich alle wie Dekrete aus dem Weißen Haus.

05.02.2017


Tagebücher sind die Annalen des kleinen Mannes.

06.02.2017


Vielleicht war das Bild, das wir über Jahre hinweg von Amerika hatten, nur ein Traum, ein Produkt reinen Geistes und schlechten Gewissens, und jetzt, wo Amerika unter Trump auftaucht wie ein urzeitliches Tier aus einem Sumpf, wie ein wabernder Batzen Fleisch aus einem kochenden Sud, da können wir es nicht glauben und hoffen, dass das Fleisch nur die Überreste jenes Tieres darstellt, das man lange vor unserer Zeit geschlachtet hat, und dass das Bild, wie dieses Monster aus dem Morast kriecht, nur in unserem Kopf existiert.

07.02.2017


Menschen mit psychischen Störungen dürfen nach einer Entscheidung des Kongresses künftig wieder Waffen kaufen. Die National Rifle Association jubelt – und die psychisch Kranken auch. Wer eine multiple Persönlichkeitsstörung vorweisen kann, bekommt beim Kauf eines Sturmgewehrs gleich noch eins dazu.

08.02.2017


Betsy DeVos ist seit gestern Bildungsministerin der Vereinigten Staaten. Ihre Wahl war denkbar knapp, am Ende stand es im Senat 50:50, und nur weil die Stimme des Vizepräsidenten in solchen Fällen doppelt zählt, hat sie den Job bekommen. DeVos war (und ist) vor allem bei den moderaten Republikanern umstritten, nicht nur, weil sie eine extrem eifrige, um nicht zu sagen eifernde Verfechterin von Privatschulen ist, sondern weil sie möglichst viele dieser Schulen unter erzkonservative christliche Führung bringen will. Im Wahlkampf hatte sich DeVos für den hoffnungslosen Jeb Bush eingesetzt und Trump als »Eindringling«...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amtsenthebung • Aufzeichnungen • barack obama • Bill Clinton • Bürgerkrieg • Demokraten • Demokratie • Donald Trump • Fake News • Faschismus • Georege Bush • Hillary Clinton • Kapitalismus • Mauer • Mexiko • NRA • Politik • postfaktisch • Präsident • Rassismus • Rechtspopulismus • Republikaner • stephen bannon • The Apprentice • Twitter • USA • Vereinigte Staaten von Amerika • Wahl • Weißes Haus
ISBN-10 3-7518-0030-1 / 3751800301
ISBN-13 978-3-7518-0030-3 / 9783751800303
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