Das letzte Bild (eBook)

Roman
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2021 | 2. Auflage
480 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43929-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das letzte Bild -  Anja Jonuleit
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Ein altes Phantombild - ein düsteres Familiengeheimnis Als Schriftstellerin Eva in der Zeitung ein Phantombild entdeckt, ist sie tief schockiert: Die Unbekannte hat frappierende Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Die Frau war in Bergen gewaltsam zu Tode gekommen, ihre Identität konnte nie aufgedeckt werden. Eine Reise nach Norwegen führt Eva Schritt für Schritt in die Vergangenheit einer Fremden voller Rätsel - und zurück in ihre eigene Familiengeschichte.   Kennen Sie bereits die weiteren Romane von Anja Jonuleit bei dtv? >Der Apfelsammler< >Das Nachtfräuleinspiel< >Novemberasche< >Rabenfrauen< >Herbstvergessene< >Die fremde Tochter<

Anja Jonuleit wurde in Bonn geboren. Sie arbeitete als Übersetzerin und Dolmetscherin, bis sie anfing, Romane und Geschichten zu schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie nahe Friedrichshafen.

Anja Jonuleit wurde in Bonn geboren. Sie arbeitete als Übersetzerin und Dolmetscherin, bis sie anfing, Romane und Geschichten zu schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie nahe Friedrichshafen.

Saint-Antoine, Frankreich, 1954


Im Grunde beginnt alles an dem Tag, an dem sie Juliette nach der Schule besucht, um sich die neue Schallplatte von Vera Lynn anzuhören. Da wird sie sich später eine gute Ausrede einfallen lassen. Denn eigentlich muss sie nach der Schule immer gleich nach Hause, wo Ann-Marie ihr die Arbeit für den Tag zuteilt. In letzter Zeit denkt Marguerite manchmal, dass die beiden sie wohl nicht nur aus Barmherzigkeit bei sich aufgenommen haben, wie sie das ständig betonen. Vielleicht geht es ihnen nur um eine billige Hilfe in Haus und Garten. Einen Plattenspieler besitzen ihre stocksteifen Zieheltern natürlich nicht, wohingegen Juliette sogar einen eigenen in ihrem Zimmer stehen hat. Auch nennt Juliettes Vater die neue Musik nicht ständig sittenlos, also besitzt Juliette sogar ein paar Platten von Bill Haley. Und nun hat ihr Vater ihr aus Paris die neue Scheibe von Vera Lynn mitgebracht.

Wie immer betritt Marguerite Juliettes Zimmer mit dem der luxuriösen Umgebung gebotenen Respekt. Wie gut Juliette es hat. All die hübschen Möbel: der Toilettentisch. Der große Spiegel mit dem Silberrahmen. Die hellgelben Seidenvorhänge. Nicht zum ersten Mal stellt sie sich vor, all das würde ihr gehören. Sie würde alles dafür geben, in so einem Haus, in so einem Zimmer leben zu dürfen. Vorsichtig lässt sie sich auf Juliettes weißem Himmelbett nieder, wobei sie jeden von Juliettes Handgriffen genau verfolgt. Wie sie den runden Lederkoffer aus dem Schrank nimmt, ihn auf den Tisch stellt und aufklappt, die Platte aus der Papierhülle nimmt und auf den grünen Plattenteller legt. Dann ist der feierliche Moment gekommen, in dem sie mucksmäuschenstill sein muss: wenn Juliette den Arm mit der Nadel hochnimmt und auf die Rille setzt.

Im nächsten Moment knistert es ein bisschen und dann erklingt eine elegante Melodie, die Töne schweben durch den Raum, Trompeten und Geigen, wie schön das ist, und dann fängt ein Chor an zu singen.

Aber was ist das? Was sind das für Worte?

Auf Wiederseh’n. Auf Wiederseh’n.

Erschrocken reißt Marguerite die Augen auf. Verständnislos blickt sie zu Juliette, die aber nichts Außergewöhnliches daran zu finden scheint. Dann ist der deutsche Part vorbei und Vera Lynn singt auf Englisch weiter. Doch bald kommt es erneut, dieses Auf Wiederseh’n, und auf einmal spürt Marguerite, wie ihr die Tränen in die Augen treten. Sie ballt die Hände zu Fäusten, presst die Lippen aufeinander, blinzelt. Immer wieder blinzelt sie und hofft dabei, dass Juliette sie nicht anschaut. Doch just in dem Moment treffen sich ihre Blicke. Und Juliette sieht, wie ihr die Tränen über die Wangen laufen.

Einen Augenblick lang sieht Juliette sie nur an. Dann läuft sie zur Tür hinaus und holt ihre Mutter.

»Was ist denn los?«, fragte Madame Dumont einige Momente später, während sie im Türrahmen steht, genauso steif wie Juliette.

Aber Marguerite kann nicht antworten. Sie weint jetzt unkontrolliert, die Tränen strömen ihr übers Gesicht, und je länger das Lied dauert, desto schlimmer wird es. Inzwischen steht auch Juliettes Vater in der Tür. Und so sehen alle drei Marguerite beim Schluchzen zu, der Vater bestürzt, die Mutter distanziert und Juliette mit gewohnt undurchdringlicher Miene.

Erst als die letzten Takte verklingen, kann sie aufhören zu weinen. Inzwischen hat Juliettes Mutter sich aus ihrer Erstarrung gelöst und reicht Marguerite ein Stofftaschentuch, mit dem sie sich die Augen abtupft und die Nase schnäuzt.

»Geht es dir nicht gut?«, fragt Juliettes Vater freundlich und tut ein paar Schritte auf sie zu, setzt sich neben sie. Marguerite schüttelt den Kopf und nickt gleich darauf.

»Doch, doch«, sagt sie hastig und lächelt mit geschlossenen Lippen, damit er die Lücke zwischen ihren Vorderzähnen nicht bemerkt. »Es geht mir gut. Das Lied hat mich nur traurig gemacht.«

Juliettes Mutter nickt und bietet ihr ein Stück Johannisbeer-Tarte an. Als Marguerite dankend ablehnt, dreht sie sich um und geht weg. Monsieur Dumont jedoch sitzt weiter neben ihr und sieht sie so komisch von der Seite her an, so als würde er die Wahrheit kennen.

 

Ein paar Tage später trifft sie ihn zufällig auf der Landstraße. Sie ist zu Fuß unterwegs, hat wie jeden Abend Eier und Milch in Saint-Émile bei den Martins geholt und ist nun auf dem Heimweg, als ein schwarzer Citroën sie erst überholt und dann zurücksetzt, um neben ihr zu halten. Es ist das Auto von Monsieur Dumont.

»Bonjour, Marguerite. Soll ich dich mitnehmen?«

Marguerite will erst ablehnen. Zu deutlich steht ihr die Blamage von neulich vor Augen. Doch es ist heiß und sie hat noch mindestens zwei Kilometer Fußmarsch vor sich. Und so steigt sie ein.

Monsieur Dumont fährt los. Durch die offenen Fenster weht der Duft nach Sommer herein, nach Getreide und Heu. Monsieur Dumont fragt sie nach allem Möglichen. Wie es in der Schule geht, was für Musik sie mag. Marguerite hat sich die Milchkanne zwischen die Füße geklemmt und hält den Deckel fest daraufgedrückt, während Monsieur Dumont ganz zwanglos mit ihr plaudert. Langsam taut sie auf und erzählt und sieht ihn dabei von der Seite an. Er sieht schön aus, denkt sie mit einem Mal, auch wenn er natürlich schon alt ist. Aber das gefällt ihr auch an ihm. Dass er ein richtiger Mann ist. Nicht so ein Jungspund wie Simon, dem sie alles erklären muss. Wie er sie küssen muss zum Beispiel. Monsieur Dumont scheint alles zu wissen. Alles zu verstehen.

Unvermittelt fragt er: »Das neulich mit dem Lied. Bei uns zu Hause. Was war da los?«

Marguerite erschrickt. Mit dieser Frage hat sie nicht gerechnet. Sie weiß nicht, was sie sagen soll.

Er fährt rechts ran, hält unter einer Salweide. Aus dem Augenwinkel sieht Marguerite, dass er sich ihr zuwendet. Als sie nicht reagiert, fasst er sie ganz leicht am Kinn und bringt sie dazu, ihn anzuschauen.

»Na los, du kannst es mir sagen. Lass mich dir helfen. Ich weiß, dass du es nicht leicht hast.«

Ganz sanft klingt seine Stimme, und dann legt er auch noch seine Hand auf ihre und drückt sie begütigend.

Da fängt sie wieder an zu weinen und währenddessen brechen die Worte aus ihr heraus, erst stockend, dann immer fließender. Am Ende hat sie ihm alles erzählt.

Wie sie damals weggelaufen ist, mit Ninis Puppe. Wie der Mann sie im Wald gefunden und in das deutsche Krankenhaus nach Lamorlaye zurückgebracht hat. Doch als sie ankamen, war das Haus leer gewesen. Alle Deutschen waren fort, auch Nini und die Mutter.

»Dann wurde ich zuerst in einem Waisenhaus untergebracht. Und irgendwann bin ich zu den Roussels gekommen.«

Sie senkt den Blick. Er ist irritiert, das sieht sie ihm an. Vielleicht denkt er, sie würde ihm einen Bären aufbinden? Schon bereut sie es, ihm alles erzählt zu haben. Und was, wenn er es Juliette weitersagt und die es in der ganzen Schule verbreitet? Marguerite weiß nur zu gut, wie die Leute hier über die Deutschen denken, über die Boches. Sie weiß auch, was die Boches hier gemacht haben. Und da spielt es für die Leute bestimmt keine Rolle, dass Marguerite damals noch ein Kind war, ein kleines noch dazu. Die Deutschen sind die Feinde, die Besatzer, die großes Leid über die Familien gebracht haben.

Ängstlich tastet sich ihr Blick nach oben. Zu ihrer Erleichterung sieht Monsieur Dumont immer noch freundlich aus, freundlich und auch ein bisschen besorgt. Jetzt lächelt er ganz traurig. Und dann hebt er die Hand und streicht ihr zaghaft übers Haar. Sie ist so erleichtert, dass sie schon wieder heulen muss, was ist nur los mit ihr, so viel geheult hat sie seit damals nicht, seitdem sie mit sechs Jahren von heute auf morgen ihre Mutter und ihre Schwester verloren hat.

»Aber … hat man denn nie versucht, deine Familie zu finden? Ich meine, da gibt es doch diese Suchanträge beim Internationalen Roten Kreuz … Hat nie jemand so einen Antrag für dich gestellt?«

Unter Schluchzen schüttelt sie den Kopf und sagt mit tränenerstickter Stimme: »Ich habe doch die Puppe gestohlen.«

»Was?«

»Ich habe meiner Schwester die Puppe weggenommen. Und irgendwie …«

Da nimmt er sie in den Arm und hält sie. Er hält sie fest und spricht beruhigend auf sie ein. Dass alles gut werde. Dass er ihr helfen werde. Dass es doch Mittel und Wege gebe.

Und endlich, endlich lässt das Beben nach. Ihre Muskeln entspannen sich, sie wird ganz weich, nachgiebig in der Erschöpfung, die auf einen Weinkrampf folgt. Ruhig atmet sie jetzt, bemerkt, dass er nach Tabak riecht, nach Holz und ganz leicht nach Rasierwasser.

Da löst er sich von ihr und sagt: »Wenn du einverstanden bist, nehme ich Kontakt zu den Behörden in Lamorlaye auf. Vielleicht kann man mir dort sagen, was das damals für ein Krankenhaus gewesen ist. Mit ein bisschen Glück gibt es irgendwo alte Personalakten, mit denen sich die Spur deiner Mutter nach Deutschland zurückverfolgen lässt.«

Marguerite hängt an seinen Lippen. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Das würde er für sie tun.

In dem Moment hören sie ein Motorengeräusch. Ein Trecker, der näher kommt. Monsieur Dumont sieht in den Rückspiegel und will gerade den Motor anlassen, als Marguerite ihm die Hand auf den Arm legt und sagt: »Bitte. Sie dürfen es keinem verraten, auch nicht Juliette. Niemand hier darf wissen, dass ich in Wirklichkeit eine Deutsche bin.«

Als Antwort lächelt er.

»Keine Sorge, Marguerite. Das bleibt unser Geheimnis.«

 

 

 

Eine ganze Weile lang saß Eva noch am Küchentisch, bevor sie die Zeitung zusammenfaltete, den Umschlag mit der Druckfahne nahm und in ihr Schreibzimmer im Wintergarten ging. Sie blickte hinaus auf die...

Erscheint lt. Verlag 2.8.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Familiengeheimnis • Familiengeschichte • Frauenunterhaltung • Geschenk Freundin • Geschenk für Frauen • Isdal-Frau • Kriminalfall • Lebensborn • mitreißender Roman • Mord • Nazis • Norwegen • Roman für Frauen • spannendes Familiengeheimnis • True-Crime • Vergangenheit
ISBN-10 3-423-43929-7 / 3423439297
ISBN-13 978-3-423-43929-9 / 9783423439299
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