Deutschlands schrägste Orte (eBook)
256 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76738-8 (ISBN)
Alles vermessen, entdeckt, bekannt - gibt es in Deutschland überhaupt noch Plätze zum Staunen und Wundern? Die Geographin und Journalistin Pia Volk hat sich zwischen Wattenmeer und Allgäu, zwischen dem Frankfurter Mainufer und dem Sorbenland umgesehen und ist dabei auf lauter seltsame und seltsamste Orte gestoßen: eine Eiche mit eigener Adresse, ein fortgespültes Atlantis in der Nordsee, ein Kronleuchter in der Kölner Kanalisation, die letzte noch erhaltene Grenzschleuse für sowjetzonale Agenten.
Pia Volk ist einen Pfad entlanggewandert, der über das Gelände eines Atomkraftwerks führt, und hat einen Truppenübungsplatz durchquert auf dem Weg zu mächtigen Gräbern, von denen niemand weiß, wie sie gebaut wurden. Sie ist über eine mit Hohlräumen durchsetzte Felslandschaft gesprungen, in der alles Wasser verschwindet, und hat sich erklären lassen, wie man von einem Kirchturm auf das wohl gigantischste Ereignis der deutschen Erdgeschichte schließen kann. Sie hat sich sorbische Märchen angehört, saterfriesische Sprichwörter und Töne, die Jahre anhalten. Über all diese bizarren Landschaften, exzentrischen Welten und obskuren Objekte berichtet sie. Spannend und unterhaltsam führt sie zu geographischen und historischen Kuriositäten und lehrt uns, das eigene Land mit neuen Augen zu sehen.
- Geheime Plätze, obskure Objekte, bizarre Landschaften - Deutschland abseits bekannter Pfade
- Die beschriebenen Orte sind über ganz Deutschland verteilt
- Für alle geographisch und historisch Interessierten
Pia Volk hat Geographie und Ethnologie studiert und ein Journalistikstudium absolviert. Von Leipzig aus erkundet sie die Welt. Meist stößt sie zufällig auf ihre Themen, trifft außergewöhnliche Menschen oder hört von seltsamen Orten und Geschichten. Ihre Texte sind u.a. in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der Süddeutschen Zeitung und der ZEIT erschienen. Als Erzählerin hört man sie bei Deutschlandfunk Nova.
Under Cover
Kronleuchtersaal in der Kölner Kanalisation
50° 57ʹ 02.5ʺ nördlicher Breite; 6° 57ʹ 48.4ʺ östlicher Länge
Am Rande des Theodor-Heuss-Parks in Köln befindet sich eine unauffällige grüne Metallplatte im Boden, knapp zwei Meter lang und einen Meter breit. Steht man vor ihr, sieht man zwischen den Häuserzeilen die Türme des Doms. Er ist keine halbe Stunde Fußmarsch entfernt. Die Metallplatte lässt sich anheben. Darunter liegt eine gemauerte Treppe, die hinabführt in die Kanalisation. Allein das ist bereits ungewöhnlich, denn eigentlich steigt man über einen Gullideckel und eine Leiter in das Labyrinth der Kanäle. Hier aber läuft man aufrecht und gelangt in einen Raum, in dem ein Kronleuchter hängt.
Man darf sich diesen Raum nicht wie ein Zimmer vorstellen. Vielmehr ist es eine Art Empore zwischen zwei Kanälen. Steht man auf ihr, blickt man knapp 60 Zentimeter hinunter in braunes Abwasser, das an einem vorbeirauscht, während sich rechter Hand ein Schlund auftut, einem kleineren U-Bahn-Tunnel gleich, nur eben ohne Schienen. Er ist schön gemauert und führt direkt hinunter zum Rhein. Keine 350 Meter sind es. Dazwischen liegt die Empore, und über ihr hängt ein Kronleuchter. Der Raum ist eine Regenwasserentlastungsanlage.
In Köln fließen Regenwasser und Abwasser zusammen durch die Kanalisation. Es gibt auch Städte, in denen es ein Abwassersystem für Regenwasser gibt, das ungeklärt direkt in den nächsten Fluss geht, und eines für Abwasser, das zuerst durch die Kläranlage geführt wird. In Köln geht alles Wasser durch die Kläranlage, Mischkanalisation nennt man das. Wenn es aber sehr stark regnet und das Wasser in der Kanalisation ansteigt, die Becken in der Kläranlage voll sind und es noch immer weiterregnet, dann hat man ein Problem. Acht- bis zwölfmal passiert das im Jahr in Köln. Im schlimmsten Fall würde das Wasser aus den Gullis herausquillen. Damit das nicht passiert, baut man Regenwasserentlastungsanlagen wie diese hier.
Steigt der Wasserspiegel des dreckigen Wassers im unteren Kanal stark an, reicht es irgendwann bis zur Empore, fließt über sie hinüber in den zweiten Kanal und landet von dort ungeklärt im Rhein. Ist das nicht Umweltverschmutzung? Nein, denn das Abwasser wird durch das Regenwasser so stark verdünnt, dass es nicht mehr geklärt werden muss. Nicht alle Regenwasserentlastungsanlagen sehen aus wie diese hier. Eigentlich ist die Empore überflüssig, eine Mauer als Wehr hätte ausgereicht. So sehen auch die anderen 25 der Stadt aus.
Man schreibt das Jahr 1850, als in Köln die Kanalisation gebaut wird. Die Römer hatte schon Kanäle, allerdings führten diese nur von einem bestimmten Punkt oder Gebäude direkt in den Rhein. Im Mittelalter wurde all das vergessen. Aber mit der industriellen Revolution wächst die Stadt auf 250.000 Einwohner, die Kanalisation muss systematisiert werden. Als man damals die Kanäle unter der Stadt gräbt, legt man sie vorausschauend so an, dass sie auch bei der heutigen Einwohnerzahl von einer Million noch ausreichen. Das ist ungewöhnlich nachhaltig.
1890 ist die Regenwasserentlastungsanlage fertig. Auf einer Plakette, die heute noch an der Wand prangt, stehen die Jahreszahl und die Namen von Bürgermeister, Stadtbaurat, Stadtbauinspektor, Bauleiter und Bauunternehmer. Doch warum hängt hier ein Kronleuchter? Wie den alten Plänen zu entnehmen ist, waren es ursprünglich sogar zwei. In der ersten Version der Geschichte hat der Kaiser der Stadt die beiden geschenkt, und sie wurden nachträglich in die Pläne eingetragen. In der anderen hat der Kaiser die Stadt und das Bauwerk besucht, und man hat die Leuchter ihm zu Ehren aufgehängt.
Lange Zeit hatte man den Raum und die Kronleuchter vergessen. Erst als in den 1980er Jahren Schulen bei der Stadt anfragten, ob Führungen in der Kanalisation möglich seien, erinnerte man sich. Es ist nicht so einfach, Menschen durch die Kanalisation zu führen. Dort bilden sich Gase, die lebensgefährlich sein können, je nachdem wo man sich im Labyrinth der Tunnel befindet und wie schnell man wieder an die frische Luft gelangt. Das alles birgt Sicherheitsrisiken.
Anders unter der grünen Metallplatte, durch die eine Treppe nach unten führt. Als man sich den Raum, in den sie mündet, damals ansah, hingen dort nur noch die Fragmente der Kronleuchter. Man beschloss, sie zu ersetzen. Nun ist da nur noch ein Kronleuchter zu sehen, und auch dieser nicht das ganze Jahr über, sondern nur von März bis September. Danach muss er überarbeitet werden, weil die hohe Luftfeuchte ihm zusetzt. Er rostet. Betrieben wird er mit Niederstrom, weil wegen des Methans die Explosionsgefahr hoch ist. Während der Besuche im Kronleuchtersaal werden neben der Konzentration von Methan ständig auch die von Kohlendioxid und Schwefelwasserstoff (beide könnten zu Vergiftungen führen) und die Sättigung mit Sauerstoff gemessen, die nicht zu niedrig sein darf, weil man sonst ersticken könnte. Manchmal gibt es auch Veranstaltungen in diesem Raum, bis zu 70 Leute lauschen dann zum Beispiel Musikern. Allerdings müssen sie sich dabei an den Geruch gewöhnen, irgendetwas zwischen Fäulnis, Verwesung und Strenge. Er steht im starken Missverhältnis zum Prunk des Leuchters und bringt einen sofort dahin zurück, wo man sich eben doch befindet: in der Kanalisation, wenn auch einem seltsamen Teil derselben.
Emilianusstollen, Wallerfangen
49° 19ʹ 49.9ʺ nördlicher Breite; 6° 40ʹ 47.4ʺ östlicher Länge
Fährt man durch St. Barbara, einen Ortsteil von Wallerfangen, einem Ort 25 Kilometer nordwestlich von Saarbrücken, sieht man entlang des Weges den Sandstein bloßliegen, auf den der Ort gebaut ist. An einigen Stellen hat man den Eindruck, der sonst rötlich-braune Stein schimmere bläulich. Dieses blaue Leuchten stammt von einem Kupfermineral namens Azurit. Es wurde in der Gegend schon zu Römerzeiten abgebaut. Wie das im Original ausgesehen hat, kann man sich im Emilianusstollen anschauen. Er ist noch von damals erhalten. Das ist ungewöhnlich, denn oft wurden die antiken Stollen im Mittelalter weiter genutzt und aus- und umgebaut, mit der Folge, dass die römischen Spuren verwischt wurden.
Der Emilianusstollen liegt an einem Hang hinter Reihenhäusern und Gärten. Der Weg folgt einem schmalen Pfad, vorbei an Himbeersträuchern und Pflaumenbäumen, bis man vor einer knapp mannshohen Öffnung steht, die in den Hang hineinführt. Dass sie nicht natürlich entstanden sein kann, erkennt man an den Werkzeugspuren auf Kopfhöhe, an in den Fels gehauenen Nischen und der Plakette, einige Meter links der Öffnung. INCEPTA OFFICINA EMILIANI NONIS MART – das Bergwerk des Emilianus nimmt am 7. März seine Arbeit auf – steht darauf. In einer anderen ehemaligen römischen Provinz hat man Aufzeichnungen zum römischen Bergrecht gefunden. Konzessionsinhaber waren verpflichtet, eine Tafel aufzustellen, ihren Namen zu nennen und das Datum der Eröffnung; denn die Konzessionen verfielen, wenn nicht innerhalb von 25 Tagen mit den Arbeiten begonnen wurde. Eine Jahreszahl war daher nicht notwendig. Anhand der Schrift ordnet man die Tafel in das 2. oder 3. Jahrhundert n. Chr. ein.
Bergbau wird schon lange im Saarland betrieben, auch um die Bedeutung des Azurits wusste man. Ortsnamen wie Blauberg und Blauloch deuten darauf hin. Ein Bericht von 1746 zählt über 300 Schächte rund um Wallerfangen auf. Lange hat man sich gefragt, ob das Azurit abgebaut wurde, um daraus den Rohstoff Kupfer zu gewinnen, oder ob es um den blauen Farbstoff ging. Allerdings sind die in den Buntsandstein eingelagerten Azuritkügelchen nur linsengroß, die Kupfermengen, die man daraus gewinnen konnte, gering. Einen viel höheren Gewinn konnte man durch den blauen Farbstoff erzielen. Dazu wurde das Mineral mit Soda, Natron, Wasser und je nach Wassergüte auch mit Kalk versetzt, das Gemisch wurde gebrannt und anschließend gemahlen. Das Wallerfanger Blau wurde in lothringischer Zeit bis nach Südfrankreich und Oberitalien exportiert. In Nancy hat man die Räume des Herzogs damit bemalt. Auch Dürer hat Azurit benutzt, aber ob es aus Wallerfangen stammte, konnte bisher niemand beweisen.
Der Schacht des Emilianusstollens ist überraschend geräumig, 160 bis 180 Zentimeter hoch, an der Decke rund 80 Zentimeter breit, am Boden 120 Zentimeter. Auf Hüfthöhe funkelt es bläulich. Die Wände scheinen in Abschnitte von 40 Zentimetern eingeteilt gewesen zu sein, man kann die Abstufungen dazwischen erkennen, die mit der Keilhaue, einer einseitigen...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2021 |
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Illustrationen | Lukas Wossagk |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft ► Geld / Bank / Börse | |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Regional- / Landesgeschichte | |
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Schlagworte | Deutschland • Geografie • Geschichte • Kuriositäten • Landschaften • Reiseführer • Sachbuch • Schräge Orte • Skuriles • Sprache • Sprichwörter • Staunen • Unbekanntes • Wundern |
ISBN-10 | 3-406-76738-9 / 3406767389 |
ISBN-13 | 978-3-406-76738-8 / 9783406767388 |
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