Zandschower Klinken (eBook)
254 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76776-4 (ISBN)
Mit unbändiger Fantasie und viel Witz erzählt Thomas Kunst in Zandschower Klinken von einer solidarischen Gemeinschaft, die sich am eigenen Schopf aus der Misere zieht - trotzig und stur, frei und eigensinnig. Er entwirft eine Utopie in unserer globalisierten Gegenwart und findet für sie eine Sprache von bezwingender Musikalität.
<p>Thomas Kunst, geboren 1965 in Stralsund, lebt und arbeitet in Leipzig. Er veröffentlicht Gedichte und Romane sowie Hörbücher, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde, unter anderem mit dem Lyrikpreis Meran 2014. Für einen Auszug aus <em>Zandschower Klinken</em> erhielt er den Niederösterreich Literaturpreis 2018.</p>
Claasen geht den Weg zu seinem Auto zurück, das er am Anfang der Verlaatstraße in einer Seitengasse abgestellt hat. Sein Jahr in Levenhaug ist um. Seine Zeit mit Silje und Weißäuglein ist um. Was er gerade in diesem Erdgeschoss gesehen hat, verändert jäh seine Biographie. Der neue Mann. Die alte Hündin. Das Insulin. Zu Hause liegt nur noch wenig, was an ihn erinnert. Er nimmt das Hundehalsband aus der Kommode und legt es auf das abgerundete Armaturenbrett seines Wagens. Er würde jetzt bestimmt auffallen mit seinem Fahrstil. Er fällt jetzt auf mit seinem Fahrstil, denn Claasen hat sich vorgenommen, sein Auto so vorsichtig, langsam und gleichmäßig zu bewegen, dass das Halsband so lange wie möglich auf dem Armaturenbrett liegen bleibt. An der Stelle, an der es herunterfällt, will er anhalten und ein neues Leben beginnen. Man muss Claasen schon kennen, um ihm so etwas auch wirklich abzunehmen. Er hat drei Versuche, um auszuschließen, künftig in einem Wald, in einem Kornfeld oder in einem Flusslauf leben zu müssen, falls der Flusslauf gleich neben der Straße liegend zum Stehen kommen würde. Das Ortsausgangsschild von Levenhaug zählt noch nicht zu den drei Versuchen.
Die Warnblinkanlage tickt, hinter Claasen stauen sich die Fahrzeuge. Am liebsten immer geradeaus. Nur in keine Kurve einbiegen. Er winkt den Überholenden zu. Es kommt ihm heldenhaft vor, die anderen auszubremsen, sie daran zu hindern, Termine und Verfehlungen einzuhalten. Die ersten fünfhundert Meter sind geschafft. Pferde und Kornfelder ziehen an ihm vorbei, aber in umgekehrter Reihenfolge. Das Halsband lebt. Hier gibt es keine Ampeln. Seit etwa zehn Minuten versucht er, im dritten Gang zwanzig Stundenkilometer zu fahren. Das könnte Monate so weitergehen. Die Landstraße bleibt ihm gewogen. Im Halsband selbst gibt es für die verbrauchte Luft kaum Möglichkeiten zu wenden.
Norddeutschland hat einige Fernseherfahrung und ist gerade bei einem Interview mit Kevin Keegan im Hintergrund zu sehen. Head over Heels in Love. Früher ging es noch, Fußballstar und Popsänger zugleich zu sein. Platz zehn in der Verkaufshitparade. Die präzisen Anspiele der Sonne sind in der Kabine geblieben. Wir lieben immer nur die, die es nicht schaffen, bis ganz nach oben zu kommen. Was Claasen benötigt, ist die Geduld der Menschen, die noch leben.
Wenn das Begleiten eines Halsbandes durch die Dörfer nicht so schön wäre, könnte es auch langsam dunkel werden. Der Scheibenwischerhebel rechts am Lenkrad ist vorerst nicht zu bedienen. Reine Vorsichtsmaßnahme. Claasen sagt in der sich allmählich ausbreitenden Dämmerung das Alphabet auf. Wenn beim Aussprechen der Buchstaben H, M, P und Y jeweils links oder rechts ein Baum am Straßenrand steht, kommt er in dieser Nacht noch unzählige Kilometer weiter. Abweichungen von zwei bis fünf Fuß sind erlaubt. Wir wollen nicht kleinlich sein. Fast die gleiche Anzahl Bäume zu beiden Seiten der Fahrerkabine. Landstraße, Autobahn, aber in umgekehrter Reihenfolge.
Ein Wildwechsel würde ihm jetzt gerade noch fehlen. Claasen überlegt, wie die Kilometerzahl unter den Gefahrenschildern zustande kommt. Vier Komma fünf Kilometer. Bei vier Komma sechs Kilometern atmet er spürbar auf. Oder sollte er sich lieber doch erst nach weiteren einhundert Metern in Sicherheit wiegen. Es gibt keine Statistiken, die belegen, wie genau es die Tiere mit der ihnen zur Verfügung gestellten Strecke nehmen, innerhalb derer sie den Wechsel der Straßenseite vorzunehmen haben. Ortseingangsschilder und Leitpfosten ziehen an ihnen vorüber, aber in umgekehrter Reihenfolge.
Claasen hat sich vorgenommen, sein Auto so vorsichtig, langsam und gleichmäßig zu bewegen, dass das Halsband so lange wie möglich auf dem Armaturenbrett liegen bleibt. An der Stelle, an der es herunterfällt, den Anschein macht, herunterzufallen, will er anhalten und ein neues Leben beginnen. Ohne Musik. Ohne Selbstmitleid. Ohne Ewigkeit und Verantwortung. Erst mal die Wälder und Kornfelder hinter sich lassen, aber in umgekehrter Reihenfolge. Er wohnt mit Vorliebe in Gegenden, in denen im Notfall jede Hilfe für ihn zu spät käme.
Er hält den Jaguar für ein Stück Wild, auf der A7, linke Spur, fast tot, der Körper dampft, die Dunkelheit ist rot, ein Bremsversuch passt nicht ins Straßenbild, gesprungene Beleuchtung, schwarzer Kot, die andere Spur gleicht Gottes Gnadenbahn, zur rechten Zeit befahren, subkutan, das Herz macht Zaubertricks und wird Idiot im Untergrund, die Sattelschlepper beben, die Ferne führt um eine halbe Länge, die Planke ist die Grenze, jottwedee, Entgratungsreste, die den Wind beleben, zu bremsen gibt es nichts in dieser Enge, dem Thermometer nach liegt nicht mal Schnee.
Dreimal ist es ihm erlaubt, anzuhalten und das Halsband wieder in eine günstigere Position zu rücken, näher zur Frontscheibe hin. Für einen Augenblick überlegt er, ob sich die Warnblinkanlage und der Fahrtrichtungsanzeiger die gleichen Lichtquellen teilen und es dadurch zu parallelen Frequenzüberlappungen kommen könnte. Keine Häuser. Keine Viehzuchtanlagen. Er fährt und fährt. Das Bild des Mannes mit der Insulinspritze vor Augen. Claasen hätte einen Weltkrieg im Erdgeschoss gebraucht, der Weißäuglein verschont, einen Krieg, gleich nach der Spritze.
Einmal ist Weissäuglein beim Spazierengehen umgekippt. Eine Fingerspitze mit Traubenzucker unter die Zunge. Und sie war wieder die Alte. Eine Fingerspitze mit Traubenzucker. Das Hundehalsband vor dem Abgrund. Die Fußbodenmatte ist das Straßenpflaster, aber in umgekehrter Reihenfolge. Zandschow. Zandschow. Den Namen dieses Dorfes hat er schon einmal irgendwo gelesen, irgendwo gehört. Claasen erinnert sich. Es kann gar nicht so lange her sein, seit die amtierende Regierung den Beschluss gefasst hat, für einen Zeitraum von zwölf Monaten, auf der A7, zwischen den Abfahrten Zandschow und Höverlake, sämtliche Unfälle zu untersagen. Dabei handelt es sich um einen Streckenabschnitt von siebzehn Kilometern, von denen vier Komma fünf Kilometer allein den Schrittwechseln der Tiere vorbehalten sind. Falls sie es tagsüber oder nachts unbemerkt auf die bewaldeten Inseln zwischen Landstraße und der fast parallel verlaufenden Autobahn geschafft haben. Und es hoffentlich nicht versäumt wurde, auch hier dieses Gefahrenschild aufzustellen. Aber solch ein Hinweis würde wohl eher auf einer Chaussee fehlen, stünde dem Verkehrsamt für die Bewegungsinstinkte des Wildes nur noch ein Schild zur Verfügung. Bei Zuwiderhandlungen, bei zu registrierenden Unfällen, fallen neben der Schadensabwicklung außerdem noch hohe Geldstrafen an. Die Menschen in dieser Region haben die Wahl, auf Unfälle zu verzichten.
Selbstbewusste Rehe und Fasane, sich langweilende Ärzte, Nachtschwestern, Versicherungsangestellte, Autoschlosser, Krankenwagenfahrer und Mitarbeiter des örtlichen Abschleppdienstes. Sie alle könnten für ein Sabbatjahr nach Cartagena gehen. Dort gibt es keine derart unsinnigen Regierungsbeschlüsse. Mir ist aber nur der Fall eines Rehs bekannt, das diese Möglichkeit nutzen möchte. Mit der Familie ist noch zu sprechen. Eine Auslandskrankenversicherung sollte möglichst zeitnah abgeschlossen werden. Sollte dem Reh in der Küstenstadt etwas zustoßen, gehören zu den Serviceleistungen der DKV die Vermittlung eines medizinischen Dolmetschers und die Organisation einer Besuchsreise durch Angehörige. Nachtschwester Ines ist noch unentschlossen. Die ständigen Gerüchte über die Departamentos del Chocó und de Norte de Santander in den abgelegeneren Teilen Kolumbiens. Landminen und Scopolamin. Zandschow ist ein Nest im äußersten Norden. Ein Feuerlöschteich im Zentrum. Wohncontainer. Getränke-Wolf. Apfelbäume. Wenn hier alle stranden, denen bei diesem Huckelpflaster ihr Hundehalsband vom Armaturenbrett rutscht, braucht man sich um diese Walachei keine Sorgen mehr zu machen. Claasen hat nachgeholfen. Ist rechts rangefahren. Zandschow.
Mein Aussteigen dauert Monate. Das Halsband stellt sich quer. Sonntags. Kaum Betrieb. Wäre ich hier nur an einem Dienstag oder Donnerstag rechts rangefahren. Die großen Abstände zwischen den Trauerweiden am Teich verhindern die Gedanken an Nahrung, Genussmittel und Wohnraumbehörden. Aber in umgekehrter Reihenfolge. Mein Aussteigen ist auch immer wieder das Einsteigen. Ich sehe nach, ob ich meine Papiere und Dokumente im Handschuhfach vollständig beisammenhabe. Die ADAC-Karte brauche ich gerade am wenigsten. Ihre Helligkeit nervt. Im Halsband selbst gibt es für...
Erscheint lt. Verlag | 15.2.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | abgehängt • Abgelegen • Arbeiter-Klasse • Armaturenbrett • Armut • aussteigen • Auto • Autofahrt • Bengt Claasen • Bevölkerung • Deutschland • Dorf • eigensinnig • Erich Fried Preis 2023 • Fantasie • Festspiele • Feuerlöschteich • Frei • Freude • Gemeinschaft • Genuss • Gesellschaft • Getränke-Wolf • Halsband • Hündin • Kaff • Klassismus • Kleist-Preis 2023 • Kollektiv • Kolonien und Manschettenknöpfe • Konsum • Lagune • Lebensmodell • Mitteleuropa • Nordostdeutschland • Palmen • Pampa • Paradies • Plastikschwäne • Prekariat • Prekarität • Proletariat • Roadtrip • Sansibar • Solidarität • Staat im Staat • Teich • Ungleichheit • Utopie • Walachei • Walter-Bauer-Preis 2018 • Wettrennen • Witz • Zandschow • Zusammenhalt • Zusammenleben |
ISBN-10 | 3-518-76776-3 / 3518767763 |
ISBN-13 | 978-3-518-76776-4 / 9783518767764 |
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