Muttermilch (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
350 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2530-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Muttermilch -  Melissa Broder
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'Eine opulente, herzzerreißende Geschichte der Selbstfindung durch schonungsloses Streben nach Begehren. Umwerfend.' Carmen Maria Machado Statt Thora liest Rachel lieber Kalorientabellen und kann sie runterbeten. Statt in die Synagoge geht sie lieber in den Frozen-Joghurt-Laden. Rachel hadert nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit ihrer Mutter. Die Therapeutin empfiehlt ihr ein mütterliches Kommunikations-Detox. Doch auch das Topping auf dem Frozen Joghurt kann das emotionale Loch nicht schließen. Da taucht Miriam auf, eine junge orthodoxe Jüdin, die die besten Eisbecher der Stadt kreieren kann. Rachel ist hingerissen von dieser Frau - ihrem Hunger, ihrem Körper, ihrem Glauben und ihrer Familie und begibt sich auf eine Reise voller Spiegel, Mystizismus, Mütter, Milch und Honig. So pointiert und witzig wurde noch nicht über Essverhalten, so schonungslos über verkorkste Mutter-Tochter-Beziehungen und Selbsthass geschrieben. Dabei verliert Melissa Broder aber auch das große Ganze nicht aus dem Blick: die Oberflächlichkeit unserer Welt, den Glauben an Etwas und die Rolle des weiblichen Körpers. Eine zärtliche und wilde Meditation über Liebe und Sein.

Melissa Broder ist die Urheberin des erfolgreichen Twitter-Accounts 'So Sad Today' mit einer Million Followern und die Verfasserin des gleichnamigen Essaybandes. Bisher veröffentlichte sie vier Gedichtbände, ihr Debütroman 'Fische' erschien 2018 bei Ullstein.

Melissa Broder ist die Urheberin des erfolgreichen Twitter-Accounts 'So Sad Today' mit einer Million Followern und die Verfasserin des gleichnamigen Essaybandes. Bisher veröffentlichte sie vier Gedichtbände, ihr Debütroman 'Fische' erschien 2018 bei Ullstein. http://www.melissabroder.com

Kapitel 1


Es war egal, wo ich wohnte – Mid-City, Mid-Wilshire oder Miracle Mile. Es war egal, wo ich arbeitete; eine Schwachsinnsfabrik in Hollywood glich der anderen. Was zählte, war allein, was ich aß, wann ich aß und wie ich aß.

Jeden Tag um halb acht ging mein Wecker. Dann nahm ich das nachtdurchweichte Stück Nikotinkaugummi aus dem Mund, legte es auf den Nachttisch und ersetzte es durch ein frisches. Ich hatte mit sechzehn angefangen zu rauchen, danach gab es bei mir keinen Moment mehr ohne Zigarette. Aber als ich im Talentmanagement anfing, konnte ich nicht mehr den ganzen Tag rauchen. Ich wechselte zu Nikotinkaugummis; auf diese Art konnte ich meine Zigaretten kauen und ständig meiner Sucht frönen. Jetzt gab es bei mir keinen Moment mehr ohne Kaugummi. Es half mir, meine Nahrungszufuhr geschickt zu beschränken, es war gleichzeitig Beschäftigung für meinen Mund und schneller Appetitzügler. Ich kaufte die Kaugummis auf eBay, abgelaufen und heruntergesetzt, damit ich sie mir leisten konnte. Zu regulären Marktpreisen hätte mich meine Sucht dreihundert Dollar die Woche gekostet.

Nachdem ich einen neuen eingeworfen hatte, stellte ich mich unter die Dusche und trank ein bisschen Wasser aus der Leitung, vermischte es mit dem Überzug des Kaugummis. Die mit Überzug mochte ich am liebsten, Fruit Chill oder Mint Blast, und ich rechnete den Überzug nicht in meine tägliche Kalorienzufuhr mit ein. An manchen Tagen machte ich mir Sorgen, wie viele Kalorien durch den Überzug dazukamen. Nach der Dusche warf ich mir noch einen Kaugummi ein. Zwei weitere folgten, wenn ich mit voll aufgedrehter Heizung zur Arbeit fuhr. Diese Kaugummiprozession war Frühstück eins.

Zwischen Frühstück eins und Frühstück zwei lag eine Zeitspanne. Manchmal fiel mein Blutzuckerspiegel so weit ab, dass mir schwindlig wurde und ich Panik bekam. Es lohnte sich trotzdem, Frühstück zwei, mein erstes richtiges Essen des Tages, bis halb elf oder elf hinauszuzögern. Je später ich mit dem Essen anfing, desto mehr Essen konnte ich für die zweite Tageshälfte horten. Besser jetzt leiden und sich auf etwas freuen, als einen großen Batzen meines täglichen Essens im Rückspiegel verschwinden zu sehen. Das war eine schlimmere Art des Leidens.

Wenn ich es bis elf ohne Essen schaffte, fühlte ich mich sehr gut, fast heilig. Wenn ich um halb elf aß, fühlte ich mich schlecht, schmuddelig, auch wenn alle negativen Gefühle schnell dem Rausch Platz machten, Frühstück zwei zu verspeisen. Die Mahlzeit bestand aus einem Zweihundertzwanzig-Gramm-Becher griechischem Joghurt mit null Prozent Fett, in den ich zwei Packungen Süßstoff rührte, und einer Portion kalorienreduzierter Schoko-Muffin-Glasur, die man nur bei Gelson’s Supermarket kaufen konnte. Ich war so emotional abhängig von dieser Muffin-Glasur, dass ich Angst davor hatte, was im Fall eines Lieferengpasses passieren könnte. Ich kaufte immer sechs Schachteln auf einmal und lagerte sie in meinem Gefrierfach.

Die Muffin-Glasur hatte hundert Kalorien und der Joghurt neunzig: ein perfekter Doppelschlag an Cremigkeit und Süße, eine Geschmackssymphonie, die mir nicht wehtun konnte. Meine schönste Zeit des Tages war dieser Augenblick, in dem ich das erste Mal den Löffel in den Joghurt tauchte, gleich nachdem ich ihn mit einem halben Päckchen Süßstoff bestreut hatte. Zu diesem Zeitpunkt war noch so viel zu essen da, die Muffin-Glasur noch nicht einmal angerührt, nur ein Versprechen auf Schokolade. Danach wünschte ich mir immer, ich hätte langsamer gegessen, damit ich noch etwas hätte, worauf ich mich freuen konnte. Das Ende von Frühstück zwei war ein trauriger Moment.

Ich aß Frühstück zwei an meinem Schreibtisch, direkt gegenüber von Andrew, einem anderen Assistenten, der auf NPR stand, auf natürliche Erdnussbutter und auf schwer verständliche skandinavische Filme, eben weil sie schwer verständlich waren. Andrews Kopf war eine Größe zu klein für seinen schlaksigen Körper. Er hatte schmale Nasenflügel, die schon von Natur aus missbilligend aussahen, und stylte sich die Haare zu einer kunstvollen Indie-Rocker-Wolle, die auf seinem winzigen Kopf saß wie eine Faschingsperücke der Coolness. Ich wusste, er verurteilte meine chemischen Süßstoffe, deshalb baute ich aus Aktenordnern, IKEA-Kakteen und einem Bataillon aus Kaffeetassen vorn an meinem Schreibtisch eine Barriere, um so seine neugierigen Blicke abzublocken. Ich hatte wenigstens ein bisschen Privatsphäre verdient, damit ich mein Ritual voll und ganz genießen konnte.

Das Mittagessen war kniffliger. Mindestens an zwei Tagen die Woche musste ich mit meinem Boss – Brett Ofer – mit Kunden, Agenten und anderen Leuten aus der Branche zum Lunch gehen. Ich aß nicht gern mit anderen. Das Mittagessen war das Kronjuwel des Tages, und ich verkostete es bevorzugt solo und wollte es nicht auf Essen verschwenden, das ich mir nicht ausgesucht hatte. Ofer zwang uns immer ins selbe Restaurant, ins Last Crush, mit dem sich unser Büro die Parkgarage teilte. Er bestand darauf, dass wir einen Haufen kleiner Gerichte bestellten und alles teilten, »wie eine Familie«, als würden sich unsere Kunden wie Brüder fühlen, wenn sie zusammen einen Fleischklops aßen. Wer wollte schon mit Ofer verwandt sein? Er tat so, als wäre Familie etwas Gutes.

Im Last Crush musste ich mit Makkaroni mit Käse, kleinen Burgern und Kalbfleischklößchen fertigwerden. Selbst das Gemüse war mit Fett verseucht: Rosenkohl, der in Butter ertrank, panierte Pilze, Blumenkohl mit glänzender Glasur. Der Rucolasalat, den ich als meinen Beitrag zu der bunten Mischung bestellt hatte, war nur ein glitschiger Kadaver: Tod durch Öl, adieu.

Bei diesen Ausflügen aß ich winzige Portionen von drei der Gerichte, ordnete jeder Portion hundert Kalorien zu und rechnete dann noch mal zusätzlich hundert obendrauf, falls ich nicht alles mitgezählt hatte. Die mathematische Formel war nicht perfekt, doch sie erlaubte die Illusion von Kontrolle. Aber Ofer versuchte immer, mich zu schikanieren, damit ich mehr aß.

»Wer möchte den letzten Mini-Burger? Rachel? Ich weiß, duuu denkst darüber nach«, neckte er mich und begann dann zu skandieren: »Tu es! Tu es! Tu es!«

Ofer war ein ewiger Verbindungsbruder. Er glaubte an Loyalität, Gemeinschaft – nicht, weil wir als Individuen eine echte Verbindung hatten, sondern weil wir Teil desselben Etwas waren. Wenn er mit glänzender Glatze die Tugenden unserer »kollaborativen Bürokultur« pries, ein Stückchen Kalbsfrikadelle an der Unterlippe hängend, stellte ich mir vor, wie er denselben Sermon zwei Jahrzehnte zuvor den Anwärtern seiner Studentenverbindung gehalten hatte.

»Wisst ihr, was für ein Glück ihr habt? Ihr könntet auch bei Management180 arbeiten, wo überhaupt nichts gemeinsam entschieden wird! Ihr könntet bei Delta Ypsilon sein und die Pisse eures Bruders trinken!«

Ofer hatte bei Gersh in der Poststelle angefangen und sich bis zum Agenten hochgearbeitet. Neun Jahre später hatte er die mörderische Agenturwelt verlassen, um eine Talentmanagementfirma zu gründen – The Crew –, wodurch er sich einbilden konnte, er habe eine Seele. Noch schlimmer: Seine Frau hatte gerade Zwillingstöchter geboren, und er bezeichnete sich jetzt als »Feminist«. Ofer eignete sich ein oberflächliches Wissen über soziale Gerechtigkeit an, wie es in Artikeln über Diversität, Inklusion und gleiche Bezahlung im Hollywood Reporter propagiert wurde. Ständig machte er Anspielungen auf seine »Privilegien« – und auf unser Privileg, hier arbeiten zu dürfen. Es störte ihn, dass ich mich nicht glücklich schätzte, zur Familie zu gehören. Talentmanagement war nicht mein Traum, und das verletzte ihn.

Wenn ich nicht gezwungen wurde, mit Ofer und den Kunden ins Last Crush zu gehen, war ich zum Mittagessen allein. Das waren die guten Tage. Zuerst ging ich zu Subway, wo es online für alles Kalorienlisten gab. Ich bestellte gemischten Salat mit doppelt Pute, Kopfsalat, Tomaten, Peperoni, Essiggurken und Oliven. Es war ein magischer Salat, eine Geschmacksexplosion mit einer moderaten Kalorienbilanz von hundertsechzig. Meistens war mein Sandwich Artist ein niedlicher kleiner Kerl von der USC, der seine Dreadlocks auf seinem Kopf auftürmte, damit er zehn Zentimeter größer aussah. Er fragte immer, ob ich Soße wolle, und ich sagte immer Nein. Dankenswerterweise stellte er meine Wahl nie infrage. Aber manchmal machte er zu wenig Kopfsalat rein, der dem Subway-Salat die entscheidende Masse verlieh.

Ab und zu bediente mich ein anderer Sandwich Artist, ein rothaariger Teenie mit transparenter Zahnspange. Dieser Kerl machte einen Wahnsinnssalat, mit ordentlich Kopfsalat drin, aber er war viel zu interessiert an mir als Person. Sobald ich zur Tür hereinkam, rief er: »Hey! Doppelte Portion Pute!«, und ich dann: »Hallo, danke, keine Fotos.« Ich musste ihm nicht sagen, dass ich keine Soße wollte, denn er wusste es immer und murmelte: »Keine Soße, keine Soße.« Aber alle paar Salate hatte er das Bedürfnis, mich auszufragen: »Warum willst du keine Soße? Die ist kostenlos!«, worauf...

Erscheint lt. Verlag 31.5.2021
Übersetzer Karen Gerwig
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Beziehung • Binge Eating • Body • Erziehung • Essstörung • Fische • Gegenwart • gegenwärtig • Gott • Homosexualität • Judentum • Jüdisch • Körper • Lesbisch • Liebe • Mutter • Psychische Störungen • Religion • shaming • Sinnsuche • Tochter • Twitter • Urban • Weiblichkeit
ISBN-10 3-8437-2530-6 / 3843725306
ISBN-13 978-3-8437-2530-9 / 9783843725309
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