Die vier Gezeiten (eBook)

Roman

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
480 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-0381-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die vier Gezeiten -  Anne Prettin
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Die Kießlings gehören zu Juist wie die Gezeiten. Als Patriarch Eduard das Bundesverdienstkreuz erhält, kommen sie alle zusammen: Eduards Frau Adda, die drei Töchter, sowie Großmutter Johanne. Doch in die Generalprobe platzt Helen aus Neuseeland, die behauptet, mit der Sippe verwandt zu sein. Und tatsächlich: Sie ist Adda wie aus dem Gesicht geschnitten. Gemeinsam gehen sie dem Rätsel ihrer Herkunft nach. Denn Adda ahnt: Der Schlüssel zur Wahrheit liegt im familieneigenen Hotel de Tiden, dort, wo vor 75 Jahren alles begann.



Anne Prettin ist eine Hamburger Autorin und schreibt Reden für Auftraggeber aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Sie studierte Politikwissenschaften und Soziologie in Freiburg, Hamburg und Bordeaux und arbeitete als freie Journalistin für verschiedene Tageszeitungen. Sie ist verheiratet und lebte mit ihrer Familie in Neuseeland, als dieser Roman entstand.

Anne Prettin ist eine Hamburger Autorin und schreibt Reden für Auftraggeber aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Sie studierte Politikwissenschaften und Soziologie in Freiburg, Hamburg und Bordeaux und arbeitete als freie Journalistin für verschiedene Tageszeitungen. Sie ist verheiratet und lebte mit ihrer Familie in Neuseeland, als dieser Roman entstand.

1. Kapitel


Juist 2008, Adda


Adda wusste, wie sehr ihr Mann sich um eine gute Wirkung bemühte. Es lag nicht allein an der Auswahl seiner Kleidungsstücke, dem dunkelgrauen Nadelstreifenanzug mit der frischen gelben Nelke im Reversknopfloch, dem blau-weißen Einstecktuch und den handgefertigten Budapestern. Die trug Eduard jeden Tag – ein Hauch Exzentrik, den er sich gönnte. Es war vor allem sein Habitus, die Art, wie er jedes einzelne Wort seiner Rede kraftvoll betonte, während er mit ausgebreiteten Armen und federndem Gang die Bühne des großen Festsaals abschritt, von einem Ende zum anderen, als wollte er sie beschlagnahmen. Der Testlauf für seine Ordensverleihung in vier Tagen verlief reibungslos. Man hätte meinen können, der Saal sei bereits proppenvoll mit Gästen, so wie Eduard aus sich herausging. Mit achtzig Jahren war er noch voll da.

»Ich bin nicht der Erste, der sich für das Überleben unseres schönen Wattenmeers eingesetzt hat. Aber der Erste in der Geschichte Juists, der dafür von der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet wird«, sagte Eduard jetzt mit tönender Stimme.

Er hatte über jedem einzelnen Satz seiner Rede gebrütet, Formulierungen verworfen, neu verfasst. Adda hatte ihn überzeugt, den Verdienstorden, den es in verschiedenen Abstufungen gab, in seiner Rede nicht explizit zu benennen. Sie wollte vermeiden, dass ihr Mann andere Ordensträger von der Insel degradierte. Es wussten ohnehin alle, dass ihm das Große Bundesverdienstkreuz verliehen werden würde, die höchste Ordensstufe, die jemals Einzug in ein Juister Haus gehalten hatte. Zu ihrer Überraschung hatte Eduard ihr zugestimmt. Bei der Planung der Feierlichkeiten ließ er sich jedoch nicht hineinreden, die würden die Ausmaße eines Staatsbanketts annehmen.

Eduard bestand darauf, die Feier im familieneigenen Hotel de Tiden auszurichten. Von Adda verlangte er, das Haus herauszuputzen, als sei es eine Braut vor der Vermählung. Allerdings ohne ihr dabei freie Hand zu lassen. Ständig änderte er seine Wünsche für die Gestaltung der Tischkarten, die Farbe der Blumenarrangements oder die Zusammensetzung des Dessertbuffets. Adda, die der Meinung war, dass es auch Tee und Rosinenstuten getan hätten, wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand.

Die Generalprobe hatte Eduard im Kreise der engsten Familie und im Festsaal angesetzt, dort, wo sonst Hochzeiten oder goldene Konfirmationen ausgerichtet wurden. Das dunkle Holz der Deckenvertäfelung und das Fischgrät des Parkettbodens hatten etwas Erdrückendes, dachte Adda nicht zum ersten Mal. Eigens für die Feier hatte sie die Dielen wienern, die vergilbten hellbraunen Spitzenvorhänge durch moderne weiße Gardinen ersetzen und auf Geheiß Eduards alle zweihundert Stühle aufpolstern und mit weißem Stoff beziehen lassen. Wer nicht gut säße, hatte er gesagt, blase keine guten Töne. Die Sitzordnung hatte ihr Mann so arrangiert, dass in der ersten Reihe mittig der Ministerpräsident Platz nehmen würde, zu ihrer Rechten und Linken Johanne, Adda und ihre drei gemeinsamen Töchter.

Die jüngste der Schwestern war noch nicht aufgetaucht, die beiden älteren, Frauke und Theda, saßen schon auf ihren Plätzen, zwischen und neben ihnen leere Stühle. Adda hatte sich für die Probe einen Hocker neben den Rollstuhl ihrer Mutter gestellt, die mal wieder in einer Art Dämmerschlaf versunken war. Was beneidete Adda sie jetzt darum!

Für einen Moment war nichts zu hören außer dem vertrauten Klappern der Pferdehufe auf den Pflastersteinen des Weges, der am Hotel vorbeiführte, dann fuhr Eduard fort:

»Dabei bin ich nicht einmal ein echter Juister, sondern – in aller Bescheidenheit – nichts weiter als ein Badegast, ein Zugereister, ein Binnenländer. Das ist mal sicher – oder, wie wir Ostfriesen sagen, gebürtig oder eingemeindet: Daar kannst up an!«

Frauke und Theda zwinkerten ihm zu und applaudierten, woraufhin ihr Vater lächelnd eine Verbeugung andeutete.

Adda konnte nicht anders, sie ärgerte sich über seine Koketterie. Als würde ihm, »dem Inselmacher«, noch irgendwer die Nichteingesessenheit vorwerfen. Mehr Juister als Eduard ging doch gar nicht.

Sie fächelte sich Luft zu. Seit Wochen nicht ein Tropfen Regen, kein Hauch Wind. Nichts als Sonnenschein, fast unbarmherzig, der den dunklen Raum mit gleißendem Licht erhellte und aufheizte. Jetzt, wo die Strahlen ungebremst durch die frisch geputzten Fenster fielen, sah sie, wie der Staub im Licht wirbelte und auf den Deckenlampen schimmerte. Hübsch anzusehen zwar, aber die Zimmermädchen würden mit dem Mikrofasertuch nacharbeiten müssen. Gleich im Anschluss an die Probe wollte Adda sie anweisen.

Eduard hustete, räusperte sich, hielt sich die Hand vor den Mund.

»Trockene Luft hier drinnen«, sagte er mit rauer Stimme und setzte sich auf einen Schemel. Wie auf Kommando sprang Theda auf und brachte ihrem Vater ein Glas Wasser. Adda öffnete derweil ein Fenster. Salziger, leicht fischiger Geruch vom Meer stieg ihr in die Nase. Eine Möwe, die sich auf dem Fenstersims niedergelassen hatte, flog laut schreiend auf. Erschrocken trat Adda einen Schritt zurück, doch Eduard nahm keinerlei Notiz davon.

Er hob das Glas, bevor er es mit einem Schluck leerte.

»Theda!«, erinnerte er seine Tochter mit strenger Miene, als sie keine Anstalten machte, es ihm wieder abzunehmen. »Das Glas!«

Theda zuckte zusammen und lief rot an, wie jedes Mal, wenn ihr Vater sie anfuhr. Wie sehr Theda sich von ihrer Jüngsten unterschied, dachte Adda. Marijke scherte sich nicht um Eduards Befindlichkeiten. Gestern Abend war sie mit der Fähre angereist, aus New York, Rio oder Sydney, jede Woche ein neuer Ort – Adda hatte längst die Übersicht verloren. Seit dem Zubettgehen war sie nicht wieder aufgetaucht, dabei war ihr der Termin für den Probelauf wohlbekannt – wie auch das Wesen ihres Vaters.

Auf die Minute pünktlich wollte er sie alle auf ihren festen Plätzen sitzen sehen, damit Schlag dreizehn Uhr angerichtet werden konnte. Nicht einmal während der großen Sturmflut von 1962 hatte er sein Mittagessen verschoben. Was soll’s, dachte Adda. Marijke hatte ein bisschen Ruhe verdient.

Seit einem Jahr war sie nicht mehr zuhause gewesen, zu viele Ausstellungen in zu vielen Ländern. Momentan lebte sie in Kalifornien. Adda freute sich darauf, mit ihrer Tochter ins Watt zu spazieren, wie früher, und Strandkrebse zu fangen. Mit Weißwein, Knoblauch und Kabeljau zubereitet, würden sie eine Fischsuppe kochen, so wie Marijke sie liebte. Kaum hatte sie diesen Gedanken gefasst, tauchte ihre Tochter in der Tür zum Saal auf und warf ihrer Mutter und den Schwestern einen Handkuss zu. Sie blieb stehen, als wollte sie den Anwesenden genügend Zeit geben, ihrer gewahr zu werden.

»Dieser furchtbare Jetlag«, sagte Marijke. »Je älter ich werde, desto schlimmer wird es.«

Mit ihrer Größe von 1,80 Meter überragte sie Adda und Eduard um Kopfeslänge. In den engen blauen Jeans, der cremefarbenen Seidenbluse unter dem blauen Blazer und mit den dunklen, schulterlangen Locken sah sie aus wie ein junges Mädchen, das schmale Gesicht immer noch faltenlos, die Lippen voll und rot. Nur die feinen Linien zwischen Nasenflügel und Mundwinkel ließen erahnen, dass sie mit ihren Mitte vierzig die Jugend bereits hinter sich gelassen hatte.

Während die zwei älteren Töchter Äußerlichkeiten nicht viel Bedeutung beimaßen, hatte Adda, chic gekleidet wie ihre Jüngste, dem Pragmatismus der Allwettertauglichkeit noch nie viel abgewinnen können. Frauke und Theda trugen das typische Sommer-Inseloutfit: graue Dreiviertelhosen zu karierten kurzärmeligen Blusen, die dunkelblonden Köpfe von wetterfesten Kurzhaarschnitten gerahmt. Wären Augenfarbe und Körperbau nicht unterschiedlich gewesen, man hätte die beiden kaum auseinanderhalten können. Theda war noch immer sehr schlank, Frauke dagegen hatte die überschüssigen Kilos nach der Geburt ihres Sohnes vor knapp dreißig Jahren bis heute nicht loswerden können. Mein Sohn hat mich meine Schönheit gekostet, sagte sie gern, und mein Ex-Mann meine inneren Werte. Die Scharfzüngigkeit hatte sie von Addas Mutter Johanne geerbt.

»Was kann wichtiger sein«, bemerkte Frauke nun ohne eine Spur von Ironie, »als Vaters Proberede für die Entgegennahme seines Verdienstkreuzes?«

Marijke strich Frauke über die Wange, bevor sie auf die Bühne stürmte und ihren Vater anlächelte. »Die Rede für die Entgegennahme seines Verdienstkreuzes!«

Adda schüttelte belustigt den Kopf. Und auch Eduard musste lächeln.

»Dann lass hören, wie der Retter des Wattenmeers den Bundespräsidenten an die Wand redet«, forderte Marijke ihren Vater auf, ohne zu wissen, dass sie damit einen wunden Punkt traf.

Adda warf Eduard einen schnellen Blick zu. Hoffentlich regte er sich jetzt nicht wieder auf! Dann würde die ganze Litanei von Neuem beginnen. Seit er erfahren hatte, dass er nicht auf den ersten Mann im Staate zählen konnte, hatte Eduards Freude über seinen Triumph einen empfindlichen Dämpfer erfahren. Es wurmte ihn, mit dem Rangniederen vorliebnehmen zu müssen, selbst wenn er in derselben Partei war.

Das Beste war dann, ihn klagen zu lassen, Zustimmung zu nicken und auf Durchzug zu stellen. Doch half das nur bedingt gegen sein Lamento, wie stiefmütterlich die Natur selbst, aber auch ihre Geschöpfe von der Politik behandelt wurden. Was müsse er denn noch alles tun, um eine Einladung nach Bellevue zu ergattern? Reiche es nicht, den Lebensraum für Millionen von Fischen, Muscheln, Krabben, Kegelrobben und Seehunden gerettet zu haben, dazu den Urlaub von...

Erscheint lt. Verlag 26.2.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 68er • Adoption • Berlin • Bombennacht • Bundesverdienstkreuz • DDR • Dresden • Emanzipation • Familie • Familienroman • Flucht • Gezeiten • Hotel • Judenverfolgung • Jugendliebe • Juist • Leibliche Mutter • literarische Unterhaltung • Loyalität • Meer • Nationalsozialismus • Naturschutz • Neuanfang • Nordsee • Patriarch • Saga • Sandra Lüpkes • Schule am Meer • Schwestern • Sechziger Jahre • Selbstmord • Suizid • Untreue • Verrat • Watt • Wattenmeer
ISBN-10 3-7517-0381-0 / 3751703810
ISBN-13 978-3-7517-0381-9 / 9783751703819
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