Der gefangene König (eBook)

Roman

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
335 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76666-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der gefangene König - François Garde
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Napoleon - bis heute die Verkörperung des großen Eroberers. Einer der Männer, die Bonaparte zu seiner historischen Größe verhalfen, war Joachim Murat, Sohn eines Gastwirtes aus einfachen Verhältnissen, Schwerenöter und Rebell. 1808 krönt Napoleon Murats schnellen Aufstieg und macht ihn zum König von Neapel. Doch Murat ist beinahe schon besessen von seinem Förderer, seine Bewunderung kennt keine Grenzen. Eine fatale Abhängigkeit, die schließlich sein Ende bedeutet. Aus der Zelle heraus lässt François Garde den gefangenen König Murat in den letzten Stunden sein bewegtes Leben erzählen.
Joachim Murat, geboren 1767 in der französischen Provinz, scheint untauglich für ein zivilisiertes Leben. Als er der Armee beitritt, verhelfen ihm seine Unangepasstheit und sein Übermut jedoch zu einer schnellen Karriere in den französischen Revolutionskriegen. Napoleon selbst wird auf den unermüdlichen Soldaten aufmerksam, schenkt ihm zunehmend Vertrauen und Verantwortung - bis hin zur buchstäblichen Krönung seiner Karriere: Napoleon macht Murat zum König von Neapel. Doch genauso rasch wie Napoleons Aufstieg vollzieht sich auch sein Fall - und mit ihm der seiner Anhänger: Murat wird zum Tode verurteilt. Aus seiner Zelle heraus lässt François Garde den gefangenen König in den letzten Stunden sein bewegtes Leben erzählen. Ein aufwühlender Roman, der historisches Wissen klug verwebt mit der großartig recherchierten Lebensgeschichte von Napoleons treuestem Diener und Kämpfer.

François Garde wurde 1959 in Le Cannet, nahe der französischen Mittelmeerküste, geboren und war als hoher Regierungsbeamter u.a. auf Neukaledonien tätig.

Erster Tag

8. Oktober 1815


Diese Geschichte erzählen heißt,
zum Sturm auf die Festung der Zeit
ansetzen und einen Waffenstillstand
aushandeln.

Durch die Gitterstäbe betrachtet, sieht der Gefängnishof aus wie alle Gefängnishöfe: ein leerer Platz, der an hohe Mauern stößt. Der Sonnenschein, einzige Variable, kommt zu Besuch, enthüllt feinste Abstufungen von Farben und Texturen, unterteilt den Boden in gegensätzliche Zonen, klettert langsam wieder empor und geht. Die Dämmerung ist lang. Die Finsternis kommt spät, zögert, stürzt ein und reißt alles mit sich.

Noch am Morgen hatte er seine Gefolgsleute gezählt, als sie in dem winzigen Hafen von Pizzo gelandet waren. Sechsundvierzig! Er, der die gewaltigste Kavalleriedivision befehligt hatte, die jemals aufgestellt wurde, musste sich mit drei Offizieren und einem Dutzend Männern behelfen, die in der Großen Armee gedient hatten. Einem einäugigen und so gut wie stummen Malteser, einer Handvoll Korsen, die, egal unter welchem Vorwand, ihre Insel verlassen wollten, und einem Haufen überschwänglicher junger Burschen, abenteuerhungriger Neapolitaner und zwielichtiger Gestalten auf der Suche nach ihrem Glück. Unter ihnen wie viele Spione und von welcher Seite?

Einige Fischer, die ein Boot ausbesserten, tuschelten bei ihrer Ankunft und murrten, ohne es zu wagen sich zu rühren. Die kleine Truppe, nur mit Gewehren und Säbeln bewaffnet, stieg durch eine gewundene Gasse aufwärts Richtung Hauptplatz. Als sie vorbeizog, schrie eine Bäuerin erschrocken auf, ein Schankwirt schloss seinen Laden, ein Maultiertreiber grüßte kaum hörbar und ergriff die Flucht.

Am Brunnen, wo sich die beiden Hauptstraßen kreuzen, stillten die Männer ausgiebig ihren Durst, stellten ihre Gewehre ab und ließen sich mit einer nicht gerade militärischen Ungeniertheit im Schatten nieder. Einige Vorübergehende näherten sich neugierig. Hätte er besser seine Gardeoberstenjacke mit den funkelnden vergoldeten Epauletten tragen sollen, um mehr Eindruck auf sie zu machen? Einer seiner Offiziere wandte sich mit feierlichen Worten an sie und ermunterte sie zu rufen: «Hoch lebe der König Joachim!» Keiner wollte dieses Wagnis eingehen, und alle verschwanden.

Er spürte die Lächerlichkeit und zugleich die Gefahr seiner Lage. Nur nicht aufhören, sich zu bewegen!

«Hier bleiben wir nicht! Wir brauchen Pferde. Nehmen wir die Straße nach Neapel!»

Seine magere Schar machte sich auf, die Küste zu erklimmen, um so die Ebene zu erreichen, die sich über der Bucht erhob. Ein Carabiniere, der aus einer Seitengasse kam, machte unverzüglich kehrt.

Die Männer marschierten widerwillig und klagten über Hunger. Konnte man die Ortschaft ohne Verpflegung verlassen? Und wo zum Teufel würde man sich dann mit Lebensmitteln versorgen können in dieser armseligen Gegend? Wertvolle Minuten gingen mit Streitereien und Versprechungen verloren. Er musste einige Geldscheine aus der Tasche ziehen und vor ihren Augen hin und her schwenken, um sie zum Weitergehen zu bewegen.

Eine Gruppe von Bauern, die Mistgabeln und Rechen schwangen, kam die Straße an der Kirche herunter, man hörte sie schon von Weitem brüllen. Ohne zu zögern, weigerte er sich, den Befehl zu geben, auf sie zu schießen, wie es seine Offiziere forderten. Sein eigenes Volk niedermetzeln? Niemals. Vorrücken! Er setzte sich wieder in Bewegung und seine Gefolgschaft mit ihm. Eine weitere feindliche Gruppe erschien hinter einem Portal und stand seiner Nachhut unvermittelt Auge in Auge gegenüber. Salven von Flüchen und einige Hiebe wurden ausgetauscht. Schüsse ertönten, ein Soldat unteren Dienstgrades brach in einer Blutlache zusammen. Etwa zwanzig seiner Leute sahen sich umzingelt, legten die Waffen nieder und ergaben sich.

Dennoch zog er mit den ihm verbliebenen Männern weiter, gelangte an die letzten Häuser, setzte die Flucht an einem Olivenhain entlang fort. Seine Gegner waren ihm nicht gefolgt und schienen sich uneins zu sein über das Schicksal, das ihre Gefangenen verdienten.

Los! Mit weniger als dreißig Mann kann man ein Königreich erobern!

Ein vertrautes Geräusch erklang, Pferdehufe auf gestampftem Boden, irgendwo oberhalb von ihnen. An einer Biegung der Straße tauchte eine Reiterabteilung auf, etwa zehn Soldaten, die ihnen, Gewehr im Anschlag, den Weg versperrten. Ein Schuss wurde in die Luft abgefeuert. Die Gruppe, die ihnen zu Fuß gefolgt war, holte sie ein.

An der Spitze seiner letzten Getreuen wandte er sich um und sah aufs Meer, leer lag es da. Das Schiff, das sie abgesetzt hatte, war geflohen, entgegen den Anweisungen, die dem Kapitän Barbara ausdrücklich erteilt und zusätzlich zum verabredeten Preis mit einem Diamanten besiegelt worden waren. Es gab kein Zurück.

Ach, hätte er sich doch in diesem Moment auf Donner oder Osiris schwingen können, die beiden tapfersten Hengste seiner Stallungen, um im Kugelhagel zwischen den Baumstämmen davonzujagen! Welche Heldentaten, was für Schlachten hätten ihn dann auf seinen Thron zurückgebracht!

Erkannt, ausgepfiffen, vorwärtsgestoßen, beschimpft, geschlagen, von allen Seiten gepackt, mehr oder weniger durch die Soldaten vor der Menge geschützt, wurde er zur Festung geführt.

Er ist es nicht gewohnt, eingeschlossen zu sein. Sein an viel Bewegung und frische Luft gewöhnter Körper ist verwundert und ruht sich aus. Ja, er war immer frei, erstaunlich frei, selbst wenn er stets, ohne zu zögern, jedes Risiko auf sich genommen hat. Die Bußzelle des Priesterseminars von Toulouse, in der er mit siebzehn, achtzehn Jahren nach eigenem Dafürhalten zu oft, aber seltener, als er es verdient gehabt hätte, verweilte, wurde durch ein unerreichbares Fenster erhellt, das dazu anhielt, Gedanken und Gebete in die Höhe zu richten. Manchmal strich ein Vogel durch sein Blickfeld, und er hörte das Lärmen und Raunen der Stadt. Hier herrscht Stille, ausgenommen das Glockenläuten einer unsichtbaren Kirche, das die Stunden skandiert und zur abendlichen Versammlung der winzigen Garnison ruft. Seine Kerkermeister haben Befehl zu schweigen, was sie gar nicht erst in die Verlegenheit kommen lässt, entscheiden zu müssen, wie sie sich an ihn wenden sollen.

Selbstverständlich ist er in Einzelhaft. Man hat es nicht riskiert, ihn mit irgendjemandem zusammen einzusperren.

Es wird ohnehin nicht lange dauern. Er macht sich über sein Schicksal keinerlei Illusionen. Niemand ist daran interessiert, ihn zu retten – es sei denn, es geschieht ein Wunder, aber in Sachen Wunder hat er die Geduld des Herrn schon über die Maßen in Anspruch genommen. Auch dort oben hat er seinen Kredit verspielt. Ein Umsturz, ein Erdbeben, eine von seiner Frau ausgehobene Armee, ein aus weiter Ferne in letzter Minute erteilter Befehl? … Sich an solche Kindereien zu klammern, würde ihn nur schwächen. Nein, ihn erwartet der Tod, vielleicht sogar in diesem Hof, den die Sonne noch überflutet. Er wird sich ihm stellen.

Diese eiligst in der kleinen Festung eingerichtete Zelle bietet nur einen spartanischen Komfort. Gewiss, er hat den Luxus der Paläste in ganz Europa kennengelernt, doch dieses Bett aus Eisen, dieser Tisch und dieser Stuhl aus Holz, diese Waschgarnitur aus Steingut erinnern ihn an die vertraute Strenge der Kasernen, sie können ihn nicht kränken. Er hat schon auf Heubündeln in Ställen geschlafen, in Hütten ohne wärmendes Feuer, sogar in Straßengräben. Sein Schlaf ist unerschütterlich. Bisweilen lässt er von der Betrachtung des Hofes ab, legt sich hin, die Hände unter dem Nacken, und denkt an nichts.

Er hat keinerlei Entscheidung mehr zu treffen.

Von Zeit zu Zeit stellt sich Caroline – nie eine andere Frau – in seinen Gedanken ein, meist in Gestalt des jungen, dunkelhaarigen, lebhaften und nicht sehr hübschen Mädchens, das er einst in Mailand kennengelernt hatte. Er verdankt ihr seine glücklichsten Momente und seine schlimmsten Nöte. Er weiß noch immer nicht, ob er sie wirklich geliebt oder ob ihre Leidenschaft für ihn genügt hat, ihrer beider Leben zu erhellen. Seit zwanzig Jahren. Ein leises Lächeln liegt auf seinen Lippen.

Er trägt denselben grauen Reisegehrock wie bei seiner Verhaftung. Nichts mehr erinnert an die leuchtenden, allein für ihn in den ausgesuchtesten Samt- und Seidenstoffen angefertigten Uniformen, gespickt mit Posamentenverschlüssen, Soutachen, Bändern und Spitzen unter einem fahlgelben, mit Kupfer- und Silberornamenten punzierten Lederharnisch, und immer von einem ausladenden weißen Federbusch überragt, in dem eine mehr als ein Meter lange Straußenfeder nicht fehlen durfte. Mit diesem Helmbusch und...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2021
Übersetzer Thomas Schultz
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 18. Jahrhundert • 19. Jahrhundert • Abhängigkeit • Aufstieg • Diener • Fall • Francois Garde • Frankreich • Historischer Roman • Joachim Murat • Kämpfer • König • Lebensgeschichte • Literatur • Murat • Revolutionskriege • Roman • Soldat
ISBN-10 3-406-76666-8 / 3406766668
ISBN-13 978-3-406-76666-4 / 9783406766664
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