Ministerium der Träume (eBook)

Roman
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2021 | 1. Auflage
384 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2685-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ministerium der Träume - Hengameh Yaghoobifarah
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Als die Polizei vor ihrer Tür steht, bricht für Nas eine Welt zusammen: ihre Schwester Nushin ist tot. Autounfall, sagen die Beamten. Suizid, ist Nas überzeugt. Gemeinsam haben sie alles überstanden: die Migration nach Deutschland, den Verlust ihres Vaters, die emotionale Abwesenheit ihrer Mutter, Nushins ungeplante Mutterschaft. Obwohl ein Kind nicht in ihr Leben passt, nimmt Nas ihre Nichte auf. Selbst als sie entdeckt, dass Nushin Geheimnisse hatte, schluckt Nas den Verrat herunter, gibt alles dafür, die Geschichte ihrer Schwester zu rekonstruieren - und erkennt, dass Nushin sie niemals im Stich gelassen hätte.

»Ministerium der Träume« ist ein Roman über Wahl- und Zwangsfamilie, ein Debüt über den bedingungslosen Zusammenhalt unter Geschwistern, das auch in die dunklen Ecken deutscher Gegenwart vordringt.

»Hengameh Yaghoobifarah packt den Kopf so voll mit Bildern und das Herz mit Gefühlen, dass man es kaum aushält. Ein oft genutzter Vergleich, aber hier ist er wirklich treffend: Diese Geschichte ist so aufregend, angsteinflößend, lustig und aufrüttelnd wie eine Achterbahnfahrt.« Alice Hasters.

»Hengameh Yaghoobifaras >Ministerium der Träume< ist ein Hurrikan, der um ein Angstauge kreist, eine Traumafabrik, die mitten in Deutschland steht.« Karen Köhler.

»Auch in >Ministerium der Träume< sind Yaghoobifarahs Worte eine sanfte Waffe, fein und brutal. Eine Geschichte zum Schreien und Weinen, voll von eindrücklichen Bildern und poetischer Schönheit.« Giulia Becker.



Hengameh Yaghoobifarah, geboren 1991 in Kiel, studierte Medienkulturwissenschaft und Skandinavistik in Freiburg und Linköping. Nach einem Zwischenstopp in Wien zog Hengameh Yaghoobifarah 2014 nach Berlin und arbeitet dort seitdem in der Redaktion des Missy Magazine. Außerdem schreibt Hengameh Yaghoobifarah frei für deutschsprachige Medien, seit 2016 etwa die Kolumne »Habibitus« für die taz. 2019 hat Hengameh Yaghoobifarah gemeinsam mit Fatma Aydemir die viel beachtete Anthologie »Eure Heimat ist unser Albtraum« herausgegeben.

Was war zuerst da gewesen, der Tod oder die Trauer? Nushin hat bereits mit sechs Jahren auf einem Zeichenblock ihr Desinteresse am Leben signalisiert, man hätte es kommen sehen können, und doch sitzen wir erschlagen auf ihrer Couch, Mâmân mit Sultan auf ihrem Schoß, Parvin und ich, und starren an die Wand. Wie oft hat Nushin morgens nach dem Duschen in ihr Handtuch gewickelt hier gesessen, von ihrer eigenen Apathie zu sehr gelähmt, um sich anzuziehen, und ihr leerer Blick hat sich immer zur selben Stelle der Tapete verirrt?

Das Absurdeste an diesem Moment ist Mâmâns Hund. Niemals hätte ich früher gedacht, dass sie ein Tier in ihr Haus lassen würde. Aber das war, bevor sie über den Telegram-Familienchat erfahren hat, dass alle reichen Frauen in Teheran einen Schoßhund besitzen. Sie ist zwar weder eine reiche Frau, noch lebt sie in Teheran, aber Sultan ist auch kein klassischer Hund. Das sagt man zwar immer über gut erzogene und vor allem gut riechende Köter, aber in Sultans Fall stimmt es wirklich. Diese kleine Diva könnte eine mehrfach geschiedene Frau Ü50 sein, die ausschließlich langstielige, parfümierte Zigaretten raucht und ihren Lippenstift etwas zu weit über den Lippenrand aufträgt. Mâmân und Sultan, sie viben einfach. Sultan ist die Busenfreundin, die sie nie hatte. Nur ohne Busen. Dafür mit einem pinken Louis-Vuitton-Halsband, das ich ihr vor zwei Jahren aus China bestellt habe.

Es ist schon weit nach Mitternacht, und der Verkehrslärm, der tagsüber von der Hauptstraße so laut durch die Fenster dröhnt, ist zum Hintergrundgeräusch verkommen. Seitdem ich hier bin, haben wir nicht viele Worte gewechselt, nicht einmal für die kurze Radstrecke hatte meine Kraft ausgereicht. Stattdessen hatte ich auf der Rückbank des Taxis den Rock-Balladen im Radio Paradiso gelauscht, während die Fahrerin ihren Unmut über Apps wie Uber rausließ. Ich hörte nur mit einem Ohr zu. Hatte Nush ihre Wohnung so hinterlassen, dass Mâmân einfach zu Besuch kommen konnte, oder musste ich bei meiner Ankunft noch irgendwas verschwinden lassen?

In einem Raum mit Mâmân zu sitzen und keiner spricht, erscheint mir wie eine Seltenheit, besonders, weil weder der Fernseher läuft noch ihr Smartphone irgendwelche Videos abspielt, die ihr Verwandte geschickt haben. Der Lärm in ihrem Kopf muss für sie schon Reizüberflutung genug sein, so wie es sonst ihre Stimme für mich ist.

Als hätte Parvin meine Gedanken gelesen, schlägt sie vor, einen Film zu schauen.

»Alles, was du willst«, antwortet Mâmân wie aus der Pistole geschossen, dabei verzieht sie ihr Gesicht kein bisschen. Es ist schwer, ihre Gefühle zu lesen, doch so ist es immer schon gewesen, auch als ihr Gesicht noch nicht durch das Botox zu Beton versteinert war. Ich will am liebsten widersprechen, ich weiß nicht einmal wieso, ich glaube, es kommt mir einfach falsch vor, mich von meinem Schmerz abzulenken. Die Welt darf sich doch nicht einfach weiterdrehen. Das wäre irgendwie respektlos.

Parvin schaltet den Fernseher ein und zappt durch das Programm. Ich habe schon lange nicht mehr gesehen, was nachts so läuft. Zu diesen Zeiten bin ich entweder auf der Arbeit, im Club oder beim Sex. Die Stimmen aus dem flimmernden Bildschirm bringen meine Schläfen zum Kribbeln.

»Ich schnappe kurz etwas frische Luft«, sage ich und gehe auf den Balkon. Aus meiner Hosentasche hole ich die Kippenschachtel hervor. »Das Rauchen aufgeben – für Ihre Lieben weiterleben« steht auf der Verpackung, darüber das Bild eines Kindes vor einem Grabstein. Ich stecke sie wieder ein. Mein Blick fällt auf das Feuerzeug auf dem kleinen Holztisch, Nushins Lieblingsfeuerzeug, ein kleines pinkes Teil von Bic. Reflexartig greife ich danach, dann zögere ich doch. Irgendwas in mir will es aufheben und nie wieder benutzen, damit es nie leer geht und ich einen Teil von Nush konservieren kann. Aber dieser Teil schlummert ja nicht in dem Feuerzeug, Nush ist kein Flaschengeist, denke ich, und zünde die Zigarette schließlich an.

»Auf dich, Nush«, murmele ich und muss wieder weinen. Zynisch irgendwie, ihr mit einer Flamme zuzuprosten. Die Zigarette schmeckt scheiße, ich rauche sie trotzdem und stelle mir vor, wie sie mein Inneres verteert und verklebt.

Auf der Fassade des gegenüberliegenden Gebäudes prangen krumme Buchstaben, die jemand vor Kurzem gesprayt haben muss. TRAUMAFABRIK steht da in schwarzer Farbe, wobei das zweite A nachträglich zwischen das M und das F gequetscht worden scheint. Letzte Woche, als ich hier war, war es noch nicht da gewesen. Ob Nush dieses Graffito gesehen hat, bevor sie für immer verschwand?

Obwohl der Wind in meine nassen Haare weht, zünde ich gleich noch eine zweite und dann noch eine dritte Zigarette an. Ich möchte für immer auf diesem Balkon bleiben, hier kann ich mir vorstellen, dass Nush schon in ihrem Bett liegt und ich noch schnell rauchen gegangen bin, ich kann so lange in diesem Gefühl schweben, bis ich selbst eins mit der Nacht werde.

Vorsichtig fahre ich mit dem Finger über die eingeritzten Worte, die Nushin vor vielen Jahren auf dem Holztisch hinterlassen hat, man kann es kaum noch entziffern, wenn man nicht weiß, was da eigentlich steht: If you live through this with me I swear that I would die for you. Ich schließe dabei die Augen, erinnere mich an die Nacht, in der diese Kerben entstanden sind, als Nushin mit dem Messer auf den Tisch gehauen und diesen Satz geschnitzt hat. Ich weiß noch, wie verängstigt ich von ihrem Ausbruch war und nicht einschätzen konnte, ob sie das Messer nicht gleich in ihren oder meinen Körper rammen würde. Wenn es ihr schlecht ging, wurde sie unberechenbar.

Ich erschrecke mich, als die Balkontür plötzlich aufgeht und Parvin im Rahmen steht. »Ich wollte nur Gute Nacht sagen«, sagt sie leise.

Ich mustere sie. Ihre sonst großen, dunklen Augen erscheinen mir so gerötet und angeschwollen plötzlich, ganz glasig und klein, als würden sie gleich hinter ihren runden Wangen auf unbestimmte Zeit verschwinden wie eine sinkende Sonne hinter einem bergigen Horizont. Ein paar Strähnen ihres dunkelbraunen, welligen Haars schauen unter der Kapuze eines übergroßen, ausgewaschenen Nike-Pullis hervor. An ihren Beinen, die sie für gewöhnlich in weite, gerade geschnittene Dickies-Hosen steckt, stehen die Haare von der kühlen Luft ab. Auch an den Füßen ist sie nackt.

»Du willst schon schlafen?«

Sie nickt müde. »Ist schon spät. Morgen ist Schule.«

Bevor ich noch irgendwas erwidern kann, dreht sie sich um und verschwindet in der Dunkelheit der Wohnung. »Gute Nacht«, rufe ich noch leise hinterher und beschließe, ihr in die Wärme zu folgen.

Ohne Parvin fühlt sich der erdrückende Griff des Raumes noch fester an. Sultan kauert immer noch auf dem Schoß meiner Mutter, sie schaut mit gesenktem Blick auf den Teppich, ganz so, als versuche sie, sich sein Muster gut einzuprägen. Es ist diese Geisterhaus-Energy, in Mâmâns Nähe verscheucht eine innere Einsamkeit meinen gesunden Verstand, ich muss dringend abhauen.

»Leg dich in Nushins Bett, Mâmân«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln. »Ich werde zu Hause schlafen.«

Sie zieht ihre Augenbrauen zu einem Stirnrunzeln eng zusammen und fährt mit ihrem Blick senkrecht über meinen Körper.

»Hast du noch was vor, oder was?«

Ungläubig schüttele ich den Kopf. »Was redest du? Ich will einfach in meinem eigenen Bett schlafen.«

»Du denkst, ich kann mich einfach so auf das Kissen meines verstorbenen Kindes legen? Und wovon soll ich dann träumen?« Ob ihre Stimme wütend oder beleidigt klingt, kann ich nicht deuten, meistens trifft bei ihr beides zu. Ihre Augen sind vom Weinen rot unterlaufen und glasig. Sie stiert mich an, guckt, als hätte ich schon wieder etwas ausgefressen.

»Na gut«, murmele ich. »Ich mache dir die Couch fertig.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, gehe ich in den Flur und hole aus dem Wandschrank ein frisches Laken, einen Bettbezug und die Gästedecke hervor. Insgeheim erleichtert es mich, dass sie nicht in Nushins Zimmer schläft, ich wünsche mir, dass niemand es betritt, niemand außer mir und irgendwann vielleicht Parvin. Mit dem Kissen fallen ein paar getrocknete Blumen aus dem Schrank, die Nush in ihre Schubladen und Fächer gelegt hat, um dem muffigen Geruch der Textillagerung entgegenzuwirken. Sie hat sich oft über Pinterest-Mütter lustig gemacht, insgeheim hat sie sich von denen aber ein paar Tricks abgeguckt.

Als ich zurück ins Wohnzimmer komme, verzieht sich Mâmân ins Bad. Sobald sie über die Türschwelle ist, stoße ich erleichtert etwas Luft aus und klappe das Sofa zu einem Gästebett auf. Sultan springt fröhlich auf das Polster, ich hebe sie sofort wieder auf den Boden und knurre sie an. Wenn ich knurre, bekommt selbst sie Angst. Knurrenden Lesben gehört das Universum.

Im Schlafanzug und mit ihrer Seidenhaube auf dem Kopf kommt Mâmân nach einer Weile zurück. »Danke«, haucht sie mit minzigem Atem und nickt in die Richtung des frisch bezogenen Betts.

Ihre langsamen Bewegungen lassen sie träge wirken. Sie setzt sich auf ihr Bett und hält ihre angeschwollenen Füße in die Luft. In ihren einst schmalen Fesseln hat sich in den letzten Jahren viel Wasser angesammelt, die Spuren des Alters kann sie nicht an jeder ihrer Körperstellen verwischen. Ich beobachte, wie sie sich hinlegt und die Decke über sich zieht.

»Mach das Licht aus, wenn du gehst«, befiehlt sie leise, und ich befolge ihre Anweisung.

Sobald...

Erscheint lt. Verlag 30.1.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alltagsrassismus • Autoren Instagram • Berlin • Diversity • Einwanderer • Eure Heimat ist unser Albtraum • Familie • Familiengeschichte • Geschwister • Heimatministerium • Iran • Lesbisch • Migrationshintergrund Romane • Missy Magazin • Mord • NSU • Queer • Rassismus • Rechtsextremismus • Schwestern • Selbstmord • taz
ISBN-10 3-8412-2685-X / 384122685X
ISBN-13 978-3-8412-2685-3 / 9783841226853
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