Lilly und ihr Sklave (eBook)
240 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2682-2 (ISBN)
RUDOLF DITZEN alias HANS FALLADA (1893-1947) war unter anderem Kassenwart auf Rittergütern, bis sein vierter Roman »Kleiner Mann - was nun?« (1932) weltweit für Begeisterung sorgte. 2011 avancierte sein letztes Buch »Jeder stirbt für sich allein« (1947) zu einem sensationellen Erfolg und machte ihn rund 65 Jahre nach seinem Tod wieder zum internationalen Bestsellerautor. JOHANNA PREUß-WÖSSNER, Direktorin des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, entdeckte die neuen Fallada-Erzählungen in einer lange verschollenen Gerichtsakte. Der Germanist PETER WALTHER ist Autor der viel gelobten Biographie »Hans Fallada«. 2018 gab er unter dem Titel »Junge Liebe zwischen Trümmern« unveröffentlichte Erzählungen Falladas heraus.
2.
Violet war, als dieses Ereignis sich zutrug, sechs Jahre älter als ich, einundzwanzig Jahr. Den ungewöhnlichen Namen hatte sie dem Vater zu danken, der zur Zeit ihrer Geburt grade für eine so benannte Heldin in einem sentimentalen englischen Roman schwärmte. Als ich geboren wurde, war er bereits drei Monate tot, und so heiße ich denn auch nur schlechthin Marie, gesprochen Mieze oder Mie. Ich bin ihm ebenfalls zu Dank verpflichtet, nämlich dafür, dass er sich in meine Benamsung nicht gemischt hat, denn ich möchte wohl wissen, was ich guter Durchschnitt, und im Aussehen kaum das, mit solch einem Namen hätte anfangen sollen.
Weio, denn so nannten wir sie natürlich, und so schrieb sie sich auch, passte er aber vorzüglich, sie kleidete alles. Sie war das schönste Mädchen, das ich in meinem Leben gesehen habe, sehr groß und kräftig, blauäugig und mit einem Haarblond von der hellsten Hanffarbe. Ihre Schönheit hatte etwas völlig Triumphierendes, sie war immer schön, so wie ein Sommertag ewig und ewig blau ist, und sie war so jung und gesund wie ein Apfel an seinem Zweig. Heute weiß ich, dass das Bezwingendste an ihr ihre völlige Reinheit war, sie war – etwas ganz Seltenes bei einem jungen Mädchen – wissend rein, sie kannte die andern Dinge dieser Welt, sie verurteilte und sie verabscheute sie nicht, aber sie betrafen sie gar nicht, ihre Luft war Reinheit und nur Reinheit.
Wir wohnten in einem alten weitläufigen Haus mit einem riesigen verwilderten Garten, dort in jener Gegend Berlins, wo jetzt die Landhausstraße die Kaiserallee kreuzt. An unser Grundstück stieß eine große Gärtnerei mit vielen Glashäusern, in die wir häufig unsere Entdeckungsreisen machten.
»Komm, Mieze, wir wollen zu Viktor, ich habe rein keine Blumen mehr für die Vasen«, rief Weio, und wir fassten uns bei der Hand und eilten die düstere, ganz mit Gras und Moos überwachsene Buchenallee hinunter, bogen rechts schräg über eine Lichtung, wo das Gras schilfig und hoch, ganz mit Sauerampfer, Hundsschierling und Klette durchwachsen war, krochen durch eine Zaunlücke und liefen, laut »Viktor! Viktor!« rufend, zwischen den langen säuberlichen Gemüsebeeten auf das größeste Glashaus zu.
Dann stand Viktor schon in der Tür und winkte uns mit seiner feinen, kleinen Hand und lachte und rief: »Schnell, Weio! Lauf, Mieze! Ich habe euch etwas zu zeigen.«
Er hatte uns immer etwas zu zeigen, aber ehe es so weit war, küsste er stets erst lange und ehrfürchtig Weios Hand. »Nicht dir allein huldige ich damit, Weio«, hat er einmal gesagt, »ich huldige aller Reinheit und Schönheit dieser Welt. Es gibt gute Blumen, und es gibt böse Blumen, es gibt reine Farben, und es gibt unreine Farben, ich züchte die guten Blumen, ich pflege die reinen Farben, das ist mein Beruf. Sie alle grüße und liebe ich in dir.«
Natürlich waren die beiden verlobt, und ein närrischeres Brautpaar als diesen kleinen, mageren, blassen, blonden Blumenzüchter und meine strahlende große Schwester konnte es kaum geben. Sie hätten lange verheiratet sein können, am Auskommen lag es nicht, und unsre Mutter war schon damals stets krank und saß Tag und Nacht fröstelnd in ihrem Lehnstuhl und sagte zu allem Ja und Amen. Aber die beiden wollten noch nicht.
»Siehst du, kleine Mieze«, sagte Viktor einmal, als wir davon sprachen, »das große Geheimnis ist, warten zu können. Ich bin Gärtner, und in die großen Blumenhandlungen nach Berlin schicke ich den Flieder zu Weihnachten und die Maiblumen zu Neujahr. Die kommen aus den Treibbeeten. Aber man soll eben nicht treiben. Wie sieht der Flieder nach zwei Tagen aus und die Maiblumen in einer Woche? Und nicht nur die Blüten sind hin, die ganze Pflanze stirbt. Ich liebe meinen Flieder zu Pfingsten, ich treibe nicht, ich warte …«
Und auch Weio hat es mir einmal in ihrer Art gesagt. »Oh, Mieze!«, hat sie gerufen, »du weißt ja nicht, wie schön das Leben ist! Morgens selig erwachen und etwas haben, von dem man träumen kann, und der Schlaf ist so leicht und leise und dünn wie ganz tiefes Atmen! Und immer steht hinten wie eine ganz schöne weiße Wolke am blauesten Sommerhimmel die Hoffnung auf etwas noch Schöneres, noch Seligeres! Kann es denn das Herz jetzt schon fassen, muss es nicht erst noch viel, viel weiter werden?«
Schöne tote Schwester! ich habe dich damals als dummes Schulmädel, das ich war, nicht recht verstanden, und auch heute noch würde ich nicht handeln wie du. Später habe ich die Menschen immer in zwei Parteien geteilt: die eine isst den schönsten Apfel zuerst, die andere nimmt sich die wurmstichigen und angefaulten vor und spart sich den besten für den Schluss auf. Aber – weiß ich denn, dass ich nach dem wurmstichigen noch Appetit auf den guten haben werde –? Doch, ich, die ich mir nun den Magen an einer ganzen Menge wurmstichiger Lebensfrüchte verdorben habe, weiß, dass mir aller Hunger völlig vergangen ist. Dass es aber so schlimm mit dir ausgehen würde, Schwester Weio, dass aus deiner weißen Sommerwolke eine so schwefelfarbene Gewitterwolke werden würde, das hätte keiner gedacht!
Eines Tages war Weio in die Stadt hineingegangen, den langen stillen Weg durch die Felder, um eine Besorgung zu machen, und war abends spät nach Haus gekommen. Ich habe schon im Bett gelegen und geschlafen, aber ich bin dann doch wach geworden aus meinem tiefen Kinderschlaf, von einer Unruhe oder einem Geräusch, und habe, halb benommen noch, gelauscht und gehorcht, was das wohl sei. Und da habe ich das Unfassbare und Unbegreifliche gehört, von Kissen erstickt und doch nicht zu ersticken: Weio, meine wundervolle schöne große Schwester Weio, weinte!
Ich bin mit einem Satz aus dem Bett gesprungen und habe sie angesprochen und habe mich niedergekniet neben sie und habe gefragt und habe gefleht, und immer ist das Weinen, ein herzzerbrechendes leises Weinen, neben mir hergegangen. Und ich habe ihre kalte Hand zwischen meine Hände genommen und habe um ein Wort gebettelt und habe ihre schönen vollen lebendigen Zöpfe gestreichelt und habe aus lauter Mitleid und Verzweiflung mitzuweinen begonnen und habe ins Bett zu ihr kriechen wollen, wie ich das sonst tat, wenn ich irgendein Leid bei ihr bergen wollte. Und da hat sie mich von sich gestoßen und hat gerufen: »Rühre mich nicht an! Bitte, bitte, rühre mich nicht an!« Und das sind alle Worte gewesen, die ich in dieser Nacht und in vielen andern noch von ihr zu hören bekommen habe.
Am Tage darauf aber, als ich aus der Schule kam, hat sie mich bei der Hand genommen und hat mich angefleht, zu Viktor zu gehen und ihm zu erzählen, dass sie krank sei und heute und die nächsten Tage ihn nicht sehen könne. Und ich dürfe und dürfe nicht verraten, dass sie des Nachts geweint habe. Ich dummes Ding habe ihr den Willen getan. Als ich ihr dann aber erzählte, wie er blass geworden ist und kaum ein Wort hat sagen können und gezittert hat, wo ich doch nur von einer leichten Erkältung gesprochen habe, da hat sie schwer aufgestöhnt und gesagt: »Es ist zu schwer! Was soll ich nur tun? Was soll ich tun?«
Ihre Schönheit ist in wenigen Tagen eine ganz andere geworden, wie krank war sie, blass, aber noch unter tausend Tränen hervorleuchtend. Sie ist auch kaum noch aus dem Haus gegangen, sie saß viel am Fenster von der großen Stube und schaute hinüber zu den Glashäusern, die in der Sonne blitzten. Und ihr Wesen ist ganz sonderbar geworden, immer hat sie an sich waschen und reiben und putzen müssen und hat nur noch weiße Kleider tragen wollen, die sie am Tage dreimal gewechselt hat. Und ihre stete Frage ist gewesen, ob sie nicht da einen Fleck habe oder dort. Ich habe schon geglaubt, sie wird wunderlich im Kopf, aber dann, eines Nachts, habe ich alles verstehen müssen und freilich hören, dass ihr Elend viel größer gewesen ist, als ich mir manches Mal rätselnd und ratend im Einschlafen ausgemalt habe.
Vorher aber musste ich erst noch einmal den Viktor zu ihr führen und habe der beiden Abschied mit ansehen müssen und redlich meine Tränen mit den ihren fließen lassen. Sie hat ihn, der über ihr Aussehen völlig erschrocken gewesen ist, bei der Hand genommen und hat ihm gesagt: »Mein lieber lieber Junge, du darfst mich nichts fragen. Sieh, du weißt, ich habe dir immer die Wahrheit gesagt und nie ein Geheimnis vor dir gehabt. Und wenn ich dir nun sage, dass wir uns heute trennen müssen, so musst du mir, ohne zu fragen, glauben, dass es so sein muss. Wenn du ohne Frage von mir gehst, so kann ich vielleicht noch weiterleben mit meiner Miezeschwester und darauf hoffen, dass wir uns einmal in vielen vielen Jahren wiedersehen dürfen. Aber wenn du mich fragst, so ist alles vorbei.«
Er hat sie nichts gefragt, aber er hat geweint und gefleht, sie soll ihn bei ihr lassen, er will warten, er will sie nie drängen, er will nur hoffen dürfen.
Aber sie hat nicht nachgegeben, und als er nicht innegehalten hat und nicht hat fortgehen wollen und sein Jammer nicht mehr anzusehen gewesen ist, hat sie mich bei der Schulter genommen und ist mit mir vor ihm auf die Knie gefallen und hat gerufen: »Bitte du mit für mich, Miezeschwester, dass er fortgeht und deiner Schwester das Leben lässt. Denn sie lebte gerne noch ein wenig und wäre es auch nur, um an ihn zu denken und davon zu träumen, wie schön alles einmal war.«
Da ist er fortgegangen, ganz bleich und ohne einen Laut. Kaum aber war die Tür hinter ihm zu, ist die Violet ohnmächtig geworden, das erste und einzige Mal in ihrem Leben. Und ich Kind habe sie zur Besinnung bringen müssen und ihren schönen Kopf an meine arme knochige Schulter genommen, und ich habe sie getröstet, denn die Mutter...
Erscheint lt. Verlag | 12.4.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Abtreibung • Fallada • Hans Fallada • literarische entdeckung • Milieustudie • Starke Frau • Starke Frauen • Tabubruch • Unbekannte Erzählungen • Unveröffentlichte Erzählungen • Wer einmal aus dem Blechnapf frisst • Wer einmal aus dem Blechnapf frißt |
ISBN-10 | 3-8412-2682-5 / 3841226825 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2682-2 / 9783841226822 |
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