Abhängigkeit (eBook)
176 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2638-9 (ISBN)
'Von atemberaubender Intensität und Schönheit. Aus dem Staub ihres Lebens leuchtet dieses Werk.' Elke Heidenreich, Spiegel Online.
In 'Abhängigkeit' schreibt Tove Ditlevsen offen und absolut gegenwärtig über ihr Leben als Frau, Schriftstellerin und Mutter, über Liebe, Freundschaft und die Verlockungen der Sucht. Die Geschichte einer Befreiung, und das eindringliche Porträt einer Frau - verletzlich, souverän, eigenständig.
'Unmittelbar und ergreifend.' The Guardian.
'Hart und zärtlich, von grandioser Schönheit.' The Spectator.
'Das Porträt einer Frau, die ihr Leben entschieden zu ihrem eigenen macht. Ein Leben, so frei und ungestüm, ich bin versunken in Tove Ditlevsens Büchern.' Nina Hoss.
'Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie, so viel steht jetzt schon fest, ist eines der großen literarischen Ereignisse des Jahres.' Süddeutsche Zeitung.
'Drei schmale Bände, eine monumentale Autorin.' Patti Smith.
'Großartig, von hypnotischer Qualität.' The New York Times.
'Was Autorinnen wie Annie Ernaux, Rachel Cusk und Deborah Levy heute tun, hat Tove Ditlevsen schon vor über 50 Jahren getan. Autobiographisches Schreiben, vor dem man sich verneigen möchte. Endlich, endlich ist Ditlevsens Trilogie auf Deutsch zu lesen!' Emilia von Senger, She said.
Tove Ditlevsen (1917-1976), geboren in Kopenhagen, galt lange Zeit als Schriftstellerin, die nicht in die literarischen Kreise ihrer Zeit passte. Sie stammte aus der Arbeiterklasse und schrieb offen über die Höhen und Tiefen ihres Lebens. Heute gilt sie als eine der großen literarischen Stimmen Dänemarks und Vorläuferin von Autorinnen wie Annie Ernaux und Rachel Cusk. Die 'Kopenhagen-Trilogie' mit den drei Bänden 'Kindheit', 'Jugend' und 'Abhängigkeit' ist ihr zentrales Werk, in dem sie das Porträt einer Frau schafft, die entschieden darauf besteht, ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen zu leben. Die 'Kopenhagen-Trilogie' wird derzeit in sechzehn Sprachen übersetzt. Ursel Allenstein, 1978 geboren, studierte Skandinavistik und Germanistik in Frankfurt und Kopenhagen. Sie ist Übersetzerin aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen von u.a. Christina Hesselholdt, Sara Stridsberg und Johan Harstad. Für ihre Übersetzungen wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jane-Scatcherd-Preis der Ledig-Rowohlt-Stiftung.
Eins
Alles im Wohnzimmer ist grün, die Wände, die Teppiche, die Gardine, und ich befinde mich immer darin, wie in einem Bild. Jeden Morgen wache ich gegen fünf Uhr auf und beginne auf der Bettkante sitzend zu schreiben, während ich frierend die Zehen anziehe, denn da wir Mitte Mai haben, wurde die Heizung schon ausgestellt. Ich schlafe allein im Wohnzimmer, weil Viggo F. so lange allein war, dass er sich nicht daran gewöhnen kann, plötzlich mit einem anderen Menschen im Bett zu liegen. Das kann ich verstehen, und es passt mir gut, weil ich diese frühen Morgenstunden so ganz für mich allein habe. Ich schreibe an meinem ersten Roman, aber Viggo F. weiß nichts davon. Ich habe das Gefühl, wenn er es wüsste, würde er darin herumkorrigieren und mir Ratschläge erteilen, wie er es auch bei den anderen jungen Menschen tut, die in Wilder Weizen schreiben, und das würde die Sätze bremsen, die mir den ganzen Tag im Kopf herumschwirren. Ich schreibe mit der Hand auf gelbem Konzeptpapier, denn wenn ich auf seiner lärmenden Schreibmaschine tippe, die so alt ist, dass sie im Nationalmuseum stehen könnte, wird er davon wach. Er schläft in dem Zimmer, das auf den Hof hinausgeht, und ich darf ihn erst um acht wecken. Dann steht er auf in seinem weißen Nachthemd mit rotem Saum und schlurft mit verdrießlichem Gesicht ins Badezimmer. Derweil koche ich uns Kaffee und schmiere uns vier Scheiben Weißbrot, seine beiden mit extra viel Butter, weil er alles liebt, was fett ist. Ich tue, was ich kann, um ihm zu behagen, weil ich ihm immer noch dankbar bin, dass er mich geheiratet hat. Trotzdem ist irgendetwas im Argen, aber ich vermeide es sorgfältig, näher darüber nachzudenken. Viggo F. hat mich aus unerfindlichen Gründen noch nie in die Arme genommen, und das plagt mich ein wenig, ungefähr so, wie ein Stein im Schuh. Es plagt mich, weil ich glaube, dass etwas mit mir nicht stimmt und ich auf irgendeine Weise doch nicht seinen Erwartungen entspreche. Wenn wir einander gegenübersitzen und Kaffee trinken, liest er Zeitung, und ich darf ihn nicht ansprechen. Währenddessen fällt meine Stimmung wie der Sand in einem Stundenglas, ich weiß nicht, warum. Ich starre auf sein Doppelkinn, das über den Eckkragen quillt und immer leicht vibriert. Ich starre auf seine kleinen, schmächtigen Hände, die sich nervös und ruckhaft bewegen; auf seine kräftigen grauen Haare, die einer Perücke gleichen, weil dieses rotwangige, faltenfreie Gesicht besser zu einem Glatzkopf passen würde. Wenn wir dann endlich miteinander sprechen, geht es um nebensächliche Dinge, was er zu Mittag essen möchte oder was wir gegen den Spalt in der Verdunkelungsgardine unternehmen könnten. Ich bin froh, wenn er etwas Aufmunterndes in der Zeitung findet, wie beispielsweise die Nachricht, dass man wieder Alkohol kaufen kann, nachdem es die Besatzungsmacht eine Woche lang verboten hatte. Ich bin jedes Mal froh, wenn er mich mit seinem letzten Zahn anlächelt, mir die Hand tätschelt, sich verabschiedet und geht. Ein Gebiss lehnt er mit der Begründung ab, dass alle Männer in seiner Familie mit 56 Jahren gestorben sind, und das sei schon in drei Jahren, wozu also diese Geldverschwendung? Es lässt sich nicht verleugnen, dass er geizig ist und es mit der von meiner Mutter so gepriesenen Versorgung nicht weit her ist. Er hat mir noch nie etwas zum Anziehen gekauft, und wenn wir abends ausgehen, um irgendeine Berühmtheit zu besuchen, fährt er mit der Straßenbahn, während ich in atemberaubendem Tempo mit dem Rad nebenherstrampeln muss, um ihm winken zu können, wann immer es ihm gefällt. Ich soll ein Haushaltsbuch führen, und wenn er einen Blick hineinwirft, findet er alles zu teuer. Stimmt die Kasse nicht, notiere ich einen Posten namens »Diverses«, aber auch darüber meckert er, weshalb ich sehr darauf achte, nie eine Ausgabe zu vergessen. Er beschwert sich auch, dass wir vormittags eine Haushaltshilfe brauchen, wo ich doch ohnehin zu Hause wäre und nichts zu tun hätte. Aber ich kann weder putzen, noch will ich es, weshalb er sich damit abfinden muss. Ich bin glücklich, wenn ich ihn quer über den grünen Rasen zur Straßenbahn davongehen sehe, die direkt vor dem Polizeirevier hält. Dann winke ich ihm nach, und kaum habe ich mich vom Fenster abgewandt, vergesse ich ihn voll und ganz, bis er wieder auftaucht. Ich gehe unter die Dusche, betrachte mich im Spiegel und denke darüber nach, dass ich erst zwanzig Jahre alt bin und es mir so vorkommt, als wäre ich schon ein ganzes Menschenleben verheiratet. Ich bin erst zwanzig Jahre alt, aber ich habe das Gefühl, außerhalb dieser grünen Zimmer würden die Tage für alle anderen Menschen wie von Pauken und Trompeten begleitet davonrauschen, während sie auf mich so unmerklich herabsinken wie Staub; einer genau wie der andere.
Wenn ich mich angezogen habe, bespreche ich mit Frau Jensen das Mittagessen und schreibe eine Einkaufsliste. Frau Jensen ist wortkarg und in sich gekehrt und ein bisschen beleidigt darüber, dass sie sich nicht mehr allein in der Wohnung aufhalten kann, wie sie es gewohnt war. »Verrückt«, murmelt sie, »dass ein Mann in seinem Alter ein so junges Mädchen heiratet.« Sie sagt es nicht laut genug, als dass ich darauf eingehen müsste, und ich habe auch keine Lust, ihrem Gerede Beachtung zu schenken. Ich denke die ganze Zeit an meinen Roman, dessen Titel schon feststeht, obwohl ich noch nicht weiß, wovon er handeln soll. Ich schreibe einfach nur, vielleicht kommt etwas Gutes dabei heraus, vielleicht nicht. Das Wichtigste ist, dass ich mich beim Schreiben glücklich fühle, so, wie es immer schon war. Ich fühle mich glücklich und vergesse alles um mich herum, bis ich meine braune Schultertasche nehmen und einkaufen gehen muss. Dann werde ich erneut von der gleichen dunklen Missstimmung ergriffen wie am Morgen, denn auf der Straße sehe ich nichts als verliebte Paare, die Hand in Hand gehen und sich tief in die Augen sehen. Ihr Anblick ist beinahe unerträglich für mich. Ich denke daran, dass ich noch nie verliebt gewesen bin, wenn man von dem kurzen Augenblick vor zwei Jahren absieht, als ich vom Olympia nach Hause ging und von Kurt begleitet wurde, der tags darauf nach Spanien reisen wollte, um im Bürgerkrieg zu kämpfen. Vielleicht ist er jetzt tot, vielleicht ist er zurückgekehrt und hat ein anderes Mädchen gefunden. Vielleicht wäre es gar nicht nötig gewesen, Viggo F. zu heiraten, um im Leben weiterzukommen. Vielleicht habe ich es nur getan, weil meine Mutter es sich so sehr wünschte. Ich drücke mit dem Finger in das Fleisch, um zu fühlen, ob es zart ist. Das hat mir meine Mutter beigebracht. Dann notiere ich auf meinem Zettel, was es kostet, weil ich es mir sonst nicht merken kann. Wenn ich die Einkäufe hinter mich gebracht habe und Frau Jensen gegangen ist, vergesse ich erneut alles um mich herum und klappere auf der Maschine, solange ich niemanden damit störe.
Meine Mutter kommt oft zu Besuch, und dann können wir sehr albern werden. Einige Tage nach meiner Hochzeit öffnete sie unseren Kleiderschrank und untersuchte Viggo F.s Sachen. Sie nennt ihn »Viggomann«, weil sie ihn genauso wenig wie alle anderen Viggo nennen darf. Ich nenne ihn auch nicht so, weil dieser Name etwas Lächerliches an sich hat, außer für ein Kind. Sie hielt all seine grüne Kleidung ins Licht und fand einen Anzug, der ihrer Meinung nach so mottenzerfressen war, dass er ihn nicht mehr tragen könne. »Daraus kann Frau Brun mir ein neues Kleid nähen«, entschied sie. Es war schon immer aussichtslos gewesen, meiner Mutter etwas entgegenzusetzen, wenn sie auf solche Ideen kam, deshalb ließ ich sie widerstandslos mit den Sachen ziehen und hoffte, Viggo F. würde nicht danach fragen. Einige Zeit danach besuchten wir meine Eltern. Das kommt nicht oft vor, weil ich seine Art, mit ihnen zu sprechen, nur schwer ertragen kann. Er redet so laut und langsam, als wären sie zurückgebliebene Kinder, und wählt sorgfältig Themen aus, von denen er glaubt, sie würden auch meine Eltern interessieren. Wir besuchten sie also, und plötzlich stieß er mich vertraulich mit dem Ellbogen an. »Das ist ja drollig«, sagte er und zwirbelte seinen Schnurrbart zwischen Daumen und Zeigefinger, »ist dir aufgefallen, dass das Kleid deiner Mutter fast genauso aussieht wie einer der Anzüge, die ich zu Hause im Schrank hängen habe?« Daraufhin stürzten meine Mutter und ich in die Küche und brachen in Gelächter aus.
In dieser Zeit mag ich meine Mutter, weil ich keine tiefen oder schmerzlichen Gefühle für sie hege. Sie ist zwei Jahre jünger als ihr Schwiegersohn, und die beiden sprechen immer nur darüber, wie ich als Kind war. Ich erkenne mich selbst nicht wieder, wenn meine Mutter ihre Eindrücke von mir wiedergibt, es ist, als würde sie über ein ganz anderes Kind sprechen. Kommt sie mich besuchen, verstaue ich meinen Roman in meiner abschließbaren Schublade in Viggo F.s Schreibtisch, koche uns Kaffee und trinke ihn mit ihr, während wir gemütlich plaudern. Wir sprechen darüber, wie gut es ist, dass mein Vater inzwischen eine feste Arbeit im Ørstedswerk hat, über Edvins Husten und über all die alarmierenden Symptome aus den inneren Organen, die meine Mutter seit Tante Rosalias Tod plagen. Ich finde meine Mutter immer noch schön und junggeblieben. Sie ist klein und schlank und hat genau wie Viggo F. kaum eine Falte im Gesicht. Ihr dauergewelltes Haar ist dicht wie das einer Puppe, und sie sitzt immer auf der Stuhlkante, mit sehr geradem Rücken, die Hände an den Griffen ihrer Tasche. Sie sitzt da wie Tante Rosalia, wenn sie vorhatte, »nur auf einen Sprung« vorbeizuschauen und erst ein paar Stunden später wieder aufbrach. Meine Mutter geht, ehe Viggo F. von seiner Arbeit bei der Brandversicherung zurückkehrt, denn dann hat er gern einmal...
Erscheint lt. Verlag | 15.2.2021 |
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Reihe/Serie | Die Kopenhagen-Trilogie | Die Kopenhagen-Trilogie |
Übersetzer | Ursel Allenstein |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Gift |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abhängigkeit • Annie Ernaux • Arbeiterklasse • Autorin • Berühmt • Dänemark • Drogen • Ehe • Ehrlich • Entdeckung • Familie • Feminismus • Frau • Freiheit • Karl Ove Knausgard • Kinder • Konventionen • Kopenhagen • Leben • Lebensmut • Männer • Medikamente • Patti Smith • Rachel Cusk • Schreiben • Schriftstellerin • Selbstbestimmt • Sucht • unmittelbar • Weiblich |
ISBN-10 | 3-8412-2638-8 / 3841226388 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2638-9 / 9783841226389 |
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