Das Leben ist ein vorübergehender Zustand (eBook)

Spiegel-Bestseller
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
240 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00990-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Leben ist ein vorübergehender Zustand -  Gabriele von Arnim
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'Ein erschütterndes Buch, aber es ist eine heilsame, eine befreiende Erschütterung, eine hilfreiche, mit der man deutlich weiter kommt als mit aller wohltuenden Erträglichkeit. [...] im Kern eine Liebesgeschichte - und ein großes Zeugnis.' Sten Nadolny Ein Schlaganfall, zehn Tage später der zweite, haben ihren Mann aus allem herauskatapultiert, was er bis dahin gelebt hatte. Und aus ihr wird die Frau des Kranken. Wie liebt und hütet man einen Mann, der an dem Tag zusammenbricht, an dem man ihm gesagt hat, man könne nicht mehr leben mit ihm? Wie schafft man die Balance, in der Krankheit zu sein und im Leben zu bleiben? Gabriele von Arnim beschreibt in diesem literarischen Text, wie schmal der Grat ist zwischen Fürsorge und Übergriffigkeit, Zuwendung und Herrschsucht. Wie leicht Rettungsversuche in demütigender Herabwürdigung enden. Und Aufopferung erbarmungslos wird. 'Das Leben ist ein vorübergehender Zustand' ist eine leidenschaftliche, so kühle wie zärtliche Erzählung eines bedrängten Lebens. «Bitte lesen Sie dieses Buch, das mit einer solch stillen Wucht daherkommt, dass man zunächst gar nicht merkt, wie es einen umhaut. Ganz große Kunst und so nah am Leben.» Daniel Schreiber

Gabriele von Arnim wurde 1946 in Hamburg geboren. Sie hat studiert, promoviert und zehn Jahre als freie Journalistin in New York gelebt. Danach schrieb sie u.a. für DIE ZEIT und SÜDDEUTSCHE, BR und WDR und arbeitete als Moderatorin für ARTE, SDR/SWR und SF. Sie schreibt Rezensionen für Zeitungen und Hörfunk, moderiert Lesungen, hat mehrere Bücher veröffentlicht und lebt in Berlin.

Gabriele von Arnim wurde 1946 in Hamburg geboren. Sie hat studiert, promoviert und zehn Jahre als freie Journalistin in New York gelebt. Danach schrieb sie u.a. für DIE ZEIT und SÜDDEUTSCHE, BR und WDR und arbeitete als Moderatorin für ARTE, SDR/SWR und SF. Sie schreibt Rezensionen für Zeitungen und Hörfunk, moderiert Lesungen, hat mehrere Bücher veröffentlicht und lebt in Berlin.

1. Kapitel Der Tod


Er ist gegangen
Ausgerechnet im Frühling

Der Tod, schreibt Octavio Paz, sei für einen Pariser, einen New Yorker oder Londoner «ein Wort, das man vermeidet, weil es die Lippen verbrennt». Der Mexikaner dagegen suche den Tod, «streichelt, foppt, feiert ihn, schläft mit ihm». Der Tod sei sein Lieblingsspielzeug und seine treueste Geliebte, der man sich nur willig hingeben könne.

Welch beseligende Verlockung. Eine zärtliche Todeserwartung, ein sinnenfreudiger Geliebter, den man trotz der geahnten Gefahr – oder gerade deswegen – freudig begrüßt, ihn begehrlich umschlingt und geschmeidig empfängt. Das welke und immer noch sündige Fleisch wehrt sich und will doch zugleich, bäumt sich auf und unterwirft sich, gibt sich dem sinistren Geflüster des Gevatters zerrinnend hin. Ein rauschhaft entrücktes Vergehen. Ekstase im letzten Akt. Der kleine Tod im Liebesspiel, der große Tod im letzten Atemzug, noch einmal ein matt lechzendes «Nimm mich», entkräftet gekeucht im wilden Sturz vom Hier ins Dort. Man könnte ihn sich fast herbeiwünschen, diesen letzten Liebhaber des eigenen Leibes.

Wenn du mich töten willst, dann mit Küssen, sagt man in Mexiko. In diesem Land gewöhnt man sich schnell daran, zu leben mit dem Tod, mit eleganten Gerippen, mit weißem Gebein und Totenköpfen – die Augen in leeren Höhlen, der Mund ein lippenlos starkes Gebiss –, mit klappernden weißen Oberschenkel- und Schienbeinknochen, zarten Fußknöchelchen. Man schlendert durch die Straße und sieht auf einem Balkon ein hölzernes Skelett sich ausruhen, im Buchladen hängt ein Klappergerüst von der Decke, von den murales, den Wandmalereien, winken knöcherne Hände in bleicher Freundlichkeit herüber. Überall verblüffend laszive Leblosigkeit. Überall Totenkult und hautlose Schädel. Auf jedem Markt gibt es die Köpfe zu kaufen. Sie sind aus Gips oder Ton und meist in schreienden Farben bemalt. Manchmal haben sie Glitzersteine als Augen und funkeln scheinbar vergnügt. Mexikaner haben ein so mystisches wie sinnliches Verhältnis zum Tod. Sie picknicken und singen auf Gräbern, schäkern mit La Catrina, der vielleicht berühmtesten Frau des Landes, der man begegnet auf der Straße, in der Lobby des Hotels, in dem man abgestiegen ist, oder in dem Restaurant, das nach ihr benannt ist, und in dem sie schaurig schön von der Wand lächelt. Es gibt Poster, Zeichnungen und unzählige Gemälde von dieser Totenfrau, die kokett mit uns liebäugelt – als wäre das Totsein viel amüsanter als das fade Leben. Meist bauschig angezogen, mit Rüschen am Mieder, farbenfroh bestickt der Rock, auffällig geschminkt und mit wilden Hüten auf dem Kopf, steht sie vor Boutiquen und wirbt für Klamotten und Weiblichkeit oder ruht mit schrillen Freunden auf einer Bank im Eisladen. Manchmal residiert sie in kleinen bunten Glaskästen, die man sich zu Hause ins Regal stellen kann.

Zunächst fotografiert man das alles noch als Kuriosum. Lächelt so amüsiert wie ahnungslos ob der Exotik. Bis man zu begreifen beginnt, dass das Gezeigte auch mit einem selbst zu tun hat, mit der unausweichlichen Nähe zwischen dem Jetzt und dem Dann, zwischen dem noch fleischumwogten blutdurchpulsten eigenen Körper und dem künftig glattgenagten Gebein. Man grinst ein wenig unbeholfen, zwickt sich genüsslich in die warme Haut, streicht sanft triumphierend mit der Hand den nackten Arm entlang, spürt die lebendige Textur – ha, noch lebe ich.

Als ich eines Morgens im Haus einer mexikanischen Freundin – gerade am Abend zuvor dort angekommen – dem unwiderstehlichen Duft frisch gebrühten Kaffees folgte, fand ich sie in der Küche sitzend auf einem rot gemusterten Sofa. In der einen Hand hielt sie den Kaffeebecher, in der anderen das Feuilleton der Zeitung. Den Wirtschaftsteil hatte sie dem Skelett aufs Knie gelegt, das neben ihr saß. Ich erschrak. Ihr Mann war vor wenigen Jahren gestorben. Bilder erschienen in meinem Kopf von einer Recherche, die ich einmal gemacht hatte übers Museum of Natural History in New York und dort in Dutzende von Kisten im Kühlraum hatte spähen dürfen, in denen Zehntausende von Würmern das Fleisch von toten Affen oder Schakalen nagten und säuberlich weiße Knochen freilegten.

Sie sah und las wohl mein banges Gesicht. Nimm dir einen Kaffee, sagte sie, herzlich willkommen in Mexiko.

Das Skelett neben meiner Freundin war natürlich nicht aus abgenagten Knochen, sondern aus geschnitztem Holz. Meine Phantasie war aber auch deshalb so aufgerüttelt, weil ich nie wage mir vorzustellen, wie er jetzt aussieht, dort unten, tief in der Grube in seinem vielleicht längst verrotteten Sarg. Manchmal bin ich an seinem Grab, pflanze mit Hingabe Lavendel, Levkojen und Rosmarin, um nicht daran denken zu müssen, wie es wohl unter der Erde zugeht. Dort, wo die Würmer sein Fleisch genießen.

 

Heute ist sein fünfter Todestag, und ich habe mich fast genau zur Stunde seines Sterbens einem Mann in die Arme geworfen. Ich wollte Haut, Hände, warme Lebendigkeit. Wollte leidenschaftliche Auslöschung, Kraft, Gegenwart, Begehren. Mich im Leben vergewissern.

Schon wieder schreibe ich mir, was ich nicht lebe. Dabei wird es Zeit, endlich all das zu tun, was sich vielleicht nicht gehört. Wer weiß, wie viele Jahre ich noch habe, bevor ich neben ihm liege und auch mein Körper Futter sein wird und Dünger für den guten Friedhofs-Humus. (Man sollte sich übrigens das Quecksilber aus den Zahnfüllungen herausnehmen lassen, um die Erde nicht zu vergiften.) Vielleicht kann ich ja auch als La Catrina weiterleben und in meinem Lieblingslokal im Glaskasten auf dem Tresen stehen.

Nein, ich habe mich niemandem in die Arme geworfen, sondern bin mit einem Tee in mein Zimmer gegangen und habe mich den Erinnerungen überlassen. In sein Zimmer konnte ich nicht gehen. Dort wohnt längst eine junge Frau, die schon am frühen Morgen Stimmübungen gemacht und geträllert hat.

In seiner Todesstunde war hier eine große Ruhe. Auch in mir. Ich hatte noch am Tag zuvor eine Sendung im Radio gemacht. Seine Palliativärztin – so hat sie es mir später erzählt – hatte am Straßenrand gehalten, um mir zuzuhören. Sie glaubte nicht, dass ich das flüssige Reden schaffen würde. Ich habe es geschafft – und bin nicht stolz darauf.

An diesem Morgen hatte ich in seinem Zimmer Musik angestellt. Cellosuiten von Bach. Er hatte in den Tagen und Wochen zuvor nur Klarheit ertragen. Und Heiterkeit. Ich durfte ihm nur Joachim Ringelnatz vorlesen. Alles andere wehrte er ab, blieb gefangen in einer nervös bebenden Verwirrung. Vielleicht würde Bach ihn ja auch in seinem Morphiumschlaf erreichen, in dem er nun lag. Ich hatte mir einen Tee gemacht und mich müde an sein Bett gesetzt. Er schlief. Atmete gleichmäßig. Zwischen uns Stille, eine sanfte Stille und darin eine überraschende Harmonie, ein Einklang zwischen ihm und mir. Was im Leben so oft gefehlt hatte, schien uns im Sterben zu gelingen. So könnte es noch ein paar Tage bleiben, dachte ich. So könnten wir Abschied nehmen voneinander. Ich schaute in einen graublauen Frühlingshimmel, über den dicke weiße Wolken zogen, und trank – durch meine Mattigkeit besänftigt – in großer Ruhe den heißen Tee.

Wir hatten das Ende des Weges erreicht. Er würde sterben. Zu Hause. Wie ich es ihm versprochen hatte. Der Weg war lang, der Kampf war hart gewesen. Jetzt war es gut. Es war gut, dass es jetzt geschehen würde. Er konnte und wollte nicht mehr leben – seit Tagen schon hatte er nichts gegessen und nichts getrunken, keine Medizin geschluckt, hatte mir jeden Löffel aus der Hand geschlagen, mit dem ich ihn füttern wollte. Ich war vorbereitet und gefasst – und vollkommen fassungslos, als es geschah, als er einen sehr tiefen und langen, zitternd wehrlosen Atemzug tat und … und jetzt ich den Atem anhielt und lauschte, mein Ohr auf sein Herz legte, seinen Puls mit meinen Fingern suchte. Ihn rief. Nicht jetzt, noch nicht, bitte nicht, lass mich jetzt nicht allein, bleib noch ein wenig, bleib noch. Ich redete, als wäre er ein Gast, den ich bäte, doch noch ein letztes Glas mit mir zu trinken und erst dann nach Hause zu gehen.

 

Aber er ist gegangen. Ausgerechnet im Frühling. Wenn alles treibt und keimt, wenn die Knospen prall sind, wenn das Leben erwacht. Ob es leichter ist, sich im Herbst zu verabschieden? Wenn ohnehin alles verblüht, vergeht und erschlafft. Dem Tod ist die Jahreszeit egal. Er schlägt zu, wenn es ihm passt. Nimmt sich, wen er will. Jetzt hatte er ihn genommen.

Es war nicht das Morphium, in dem er schlief. Es war der Tod, in dem er verschwand. Gekommen in dem Moment des zarten Einklangs zwischen uns. Er hatte also gewartet auf mich, um mit mir an seiner Seite zu sterben. Um mir die letzte Nähe zu schenken, die es geben würde zwischen uns. Wie oft hatte ich ihm in den letzten Wochen zugeflüstert, dass er nicht für mich leben müsse, dass er seinen Weg gehen solle. Nun hatte er es getan. Er ging. Ich blieb. Das Bleiben so unausweichlich wie das Gehen.

Ich habe das Fenster geöffnet – die Vögel sangen, wie sie auch heute gesungen haben, sie feiern das Leben, dachte ich – und habe Stunden auf und neben ihm gelegen, auf diesem Körper, den ich einst geliebt hatte, und der noch im Diesseits zu atmen schien, während er ins Jenseits hinüberging. Es war sein Körper – noch warm und weich, noch nicht nur Leiche, noch fühlbar er – im Übergang, im Abschied, auf dem Heimflug. Wie gern hat er den Witz erzählt:

Kommt ein Mann in eine Kneipe, in der man...

Erscheint lt. Verlag 23.3.2021
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Arno Geiger • Connie Palmen • Eheleben • Joan Didion • Krankenpflege • Martin Schulze • Pflege • Schicksalsschlag • Schlaganfall • Schlaganfall Bericht • Tod • Trauer • Verlust
ISBN-10 3-644-00990-2 / 3644009902
ISBN-13 978-3-644-00990-5 / 9783644009905
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