Die Pest (eBook)
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00983-7 (ISBN)
Albert Camus wurde am 7. November 1913 als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in Mondovi, Algerien, geboren. Er studierte an der Universität Algier Philosophie, 1935 trat er der Kommunistischen Partei Algeriens bei und gründete im Jahr darauf das «Theater der Arbeit». 1937 brach er mit der KP. 1938 entstand sein erstes Drama, Caligula, das 1945 uraufgeführt wurde, 1947 sein Roman «Die Pest». Neben seinen Dramen begründeten der Roman Der Fremde und der Essay Der Mythos des Sisyphos sein literarisches Ansehen. 1957 erhielt Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. Am 4. Januar 1960 starb er bei einem Autounfall. Das Gesamtwerk von Albert Camus liegt im Rowohlt Verlag vor.
Albert Camus wurde am 7. November 1913 als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in Mondovi, Algerien, geboren. Er studierte an der Universität Algier Philosophie, 1935 trat er der Kommunistischen Partei Algeriens bei und gründete im Jahr darauf das «Theater der Arbeit». 1937 brach er mit der KP. 1938 entstand sein erstes Drama, Caligula, das 1945 uraufgeführt wurde, 1947 sein Roman «Die Pest». Neben seinen Dramen begründeten der Roman Der Fremde und der Essay Der Mythos des Sisyphos sein literarisches Ansehen. 1957 erhielt Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. Am 4. Januar 1960 starb er bei einem Autounfall. Das Gesamtwerk von Albert Camus liegt im Rowohlt Verlag vor. Uli Aumüller übersetzt u. a. Siri Hustvedt, Jeffrey Eugenides, Jean Paul Sartre, Albert Camus und Milan Kundera. Für ihre Übersetzungen erhielt sie den Paul-Celan-Preis und den Jane-Scatcherd-Preis.
II
Man kann wohl sagen, dass von diesem Moment an die Pest uns alle betraf. Bis dahin war jeder unserer Mitbürger, trotz der Überraschung und Besorgnis, die diese beispiellosen Ereignisse für alle mit sich gebracht hatten, an seinem gewohnten Platz seiner Tätigkeit nachgegangen, so gut er konnte. Und zweifellos sollte das so weitergehen. Aber als die Tore auf einmal geschlossen waren, merkten sie, dass sie alle, auch der Erzähler, in derselben Falle saßen und sich damit abfinden mussten. So wurde zum Beispiel ein so individuelles Gefühl, wie das des Getrenntseins von einem geliebten Menschen, schon in den ersten Wochen plötzlich von einem ganzen Volk empfunden und war zusammen mit der Angst das schlimmste Leid dieser langen Zeit des Exils.
Eine der spürbarsten Folgen der Schließung der Tore war nämlich die plötzliche Trennung von Menschen, die nicht darauf vorbereitet waren. Mütter und Kinder, Ehepaare, Liebende, die einige Tage zuvor geglaubt hatten, sich für eine vorübergehende Zeit zu trennen, sich auf dem Bahnsteig unseres Bahnhofs mit zwei oder drei guten Ratschlägen zum Abschied geküsst hatten, in der Gewissheit, sich in einigen Tagen oder ein paar Wochen wiederzusehen, ganz eingelullt von der stumpfsinnigen menschlichen Vertrauensseligkeit und durch diese Abreise kaum von ihren gewohnten Sorgen abgelenkt, waren mit einem Mal rettungslos entfernt voneinander, ohne die Möglichkeit, zusammenzukommen und sich in Verbindung zu setzen. Die Tore waren nämlich einige Stunden vor der Bekanntmachung der Präfektursanordnung geschlossen worden, und Sonderfälle konnten natürlich nicht berücksichtigt werden. Man kann sagen, dass die erste Auswirkung dieser brutalen Invasion der Krankheit darin bestand, unsere Mitbürger zu zwingen, so zu handeln, als hätten sie keine persönlichen Gefühle. In den ersten Stunden des Tages, an dem die Anordnung in Kraft trat, wurde die Präfektur von einer Menge von Anfragenden bestürmt, die am Telefon oder bei den Beamten ebenso Teilnahme erregende wie gleichzeitig nicht überprüfbare Situationen darlegten. Wir brauchten allerdings mehrere Tage, bis uns klar wurde, dass wir uns in einer ausweglosen Situation befanden und dass die Wörter «verhandeln», «Gunst», «Ausnahme» keinen Sinn mehr hatten.
Selbst die leise Befriedigung zu schreiben wurde uns verwehrt. Zum einen nämlich war die Stadt nicht mehr durch die üblichen Kommunikationsmittel mit dem Rest des Landes verbunden, und zum andern verbot eine neue Anordnung den Austausch jeglicher Korrespondenz, damit die Briefe nicht zu Infektionsträgern wurden. Anfangs konnten sich einige Privilegierte mit den Wachposten an den Stadttoren absprechen, die einwilligten, Botschaften hinauszubefördern. Allerdings war das noch in den ersten Tagen der Epidemie, als die Wächter es normal fanden, Regungen des Mitgefühls nachzugeben. Aber nach einiger Zeit, als dieselben Wächter vom Ernst der Lage überzeugt waren, weigerten sie sich, die Verantwortung für etwas zu übernehmen, dessen Tragweite sie nicht übersehen konnten. Die anfangs erlaubten Ferngespräche riefen eine solche Überlastung der öffentlichen Zellen und der Leitungen hervor, dass sie einige Tage gänzlich unterbrochen waren und dann strikt auf sogenannte dringende Fälle wie Tod, Geburt und Hochzeit beschränkt waren. Telegramme blieben damals unsere einzige Möglichkeit. Einander geistig, gefühlsmäßig und körperlich verbundene Menschen waren darauf angewiesen, die Zeichen dieser alten Verbundenheit aus der Blockschrift einer Depesche von zehn Wörtern herauszulesen. Und da die Formeln, die man in einem Telegramm benutzen kann, schnell erschöpft sind, wurden ein langes gemeinsames Leben oder eine schmerzhafte Leidenschaft schnell in einem regelmäßigen Austausch stehender Wendungen zusammengefasst, wie: «Bin gesund. Denke an dich. Alles Liebe.»
Manche von uns ließen jedoch nicht davon ab, zu schreiben und sich unentwegt Tricks auszudenken, um mit der Außenwelt in Verbindung zu treten, die sich am Ende immer als illusorisch erwiesen. Selbst wenn einige der Mittel, die wir uns ausgedacht hatten, erfolgreich waren, wussten wir nichts davon, da wir ja keine Antwort bekamen. Wochenlang mussten wir uns damals darauf beschränken, immer wieder denselben Brief noch einmal anzufangen, immer wieder dieselben Appelle aufzuschreiben, sodass die Worte, die zuerst mit unserem Herzblut geschrieben waren, nach einer gewissen Zeit jeden Sinn verloren. Wir schrieben sie nun mechanisch wieder auf, ein Versuch, mit Hilfe dieser toten Sätze Zeichen von unserem schwierigen Leben zu geben. Und am Ende schien uns dann der konventionelle Appell des Telegramms besser als dieser unfruchtbare hartnäckige Monolog, dieses öde Gespräch mit einer Wand.
Als nach einigen Tagen klar wurde, dass niemand aus unserer Stadt hinausgelangen würde, kam man übrigens auf die Idee, sich zu fragen, ob nicht den vor der Epidemie Verreisten die Rückkehr gestattet werde. Nach tagelangem Überlegen antwortete die Präfektur mit Ja. Sie legte aber fest, dass die Heimkehrer auf keinen Fall wieder aus der Stadt hinaus dürften und dass es ihnen zwar freistehe zu kommen, aber nicht, wieder zu gehen. Auch da nahmen einige, übrigens wenige, Familien die Situation auf die leichte Schulter; sie stellten den Wunsch, ihre Verwandten wiederzusehen, über jede Vorsicht und forderten diese auf, die Gelegenheit zu nutzen. Aber sehr schnell begriffen die Gefangenen der Pest, welcher Gefahr sie ihre Angehörigen aussetzten, und fanden sich damit ab, unter dieser Trennung zu leiden. Als die Krankheit am schlimmsten wütete, gab es nur einen Fall, in dem die menschlichen Gefühle stärker waren als die Angst vor einem qualvollen Tod. Es ging dabei nicht, wie man hätte erwarten können, um zwei Liebende, die die Liebe über das Leid hinweg zueinander trieb. Es handelte sich nur um den alten Doktor Castel und seine Frau, die seit vielen Jahren verheiratet waren. Madame Castel war einige Tage vor der Epidemie in eine benachbarte Stadt gefahren. Es war nicht einmal eine jener Ehen, die der Welt das Bild eines mustergültigen Glücks darbieten, und der Erzähler ist imstande zu sagen, dass diese Eheleute aller Wahrscheinlichkeit nach bis dahin nicht sicher waren, ob ihre Ehe sie zufriedenstellte. Aber diese gewaltsame, anhaltende Trennung hatte ihnen die Gewissheit verschafft, dass sie ohne einander nicht leben konnten und dass neben dieser plötzlich zutage getretenen Wahrheit die Pest belanglos war.
Dies war eine Ausnahme. In den meisten Fällen, das lag auf der Hand, sollte die Trennung erst mit der Epidemie enden. Und das Gefühl, das unser Leben bestimmte und das wir doch gut zu kennen meinten (die Oraner haben, wie gesagt, schlichte Leidenschaften), nahm für uns alle eine neue Form an. Ehemänner und Liebhaber, die das größte Vertrauen in ihre Gefährtin hatten, entdeckten, dass sie eifersüchtig waren. Männer, die sich in der Liebe für leichtfertig hielten, wurden beständig. Söhne, die bei ihrer Mutter gelebt und sie kaum angesehen hatten, lasen den Grund für ihre ganze Besorgnis und Reue aus einer Falte ihres Gesichts ab, die sie in der Erinnerung verfolgte. Diese nahtlos eingetretene gewaltsame Trennung ohne absehbare Zukunft machte uns fassungslos, unfähig zu reagieren auf die Erinnerung an diese noch so nahe und schon so ferne Gegenwart, die jetzt unsere Tage erfüllte. Tatsächlich litten wir doppelt – einmal unter unserem Leid und dann unter dem, das wir den Abwesenden, dem Sohn, der Gattin oder Geliebten, andichteten.
Unter anderen Umständen hätten unsere Mitbürger übrigens einen Ausweg in einem äußerlicheren und aktiveren Leben gefunden. Aber die Pest machte sie untätig, zwang sie dazu, sich in ihrer trostlosen Stadt im Kreis zu drehen, Tag um Tag den trügerischen Spielen der Erinnerung ausgeliefert. Denn ihre ziellosen Spaziergänge führten sie immer wieder auf dieselben Wege, und meistens waren diese Wege, in einer so kleinen Stadt, genau jene, die sie in einer anderen Zeit mit dem Abwesenden gegangen waren.
So brachte die Pest unseren Mitbürgern als Erstes das Exil. Und der Erzähler ist überzeugt, dass er hier im Namen aller schreiben darf, was er selbst empfunden hat, da er es ja mit vielen unserer Mitbürger zugleich empfunden hat. Ja, diese Leere, die wir ständig in uns trugen, war wirklich das Gefühl des Exils, diese deutliche Empfindung, der unvernünftige Wunsch, uns in die Vergangenheit zurückzuwenden oder im Gegenteil den Gang der Zeit voranzutreiben, diese brennenden Pfeile der Erinnerung. Wenn wir uns manchmal der Phantasie hingaben und uns daran freuten, auf das Klingeln des Heimkehrenden oder einen vertrauten Schritt auf der Treppe zu warten, wenn wir in jenen Augenblicken bereitwillig vergaßen, dass die Züge stillstanden, wenn wir es dann so einrichteten, um die Zeit zu Hause zu bleiben, wenn normalerweise ein mit dem Abendschnellzug Reisender in unserem Viertel eintreffen mochte, so konnten diese Spiele nicht lange dauern. Es trat immer ein Moment ein, in dem uns eindeutig klar wurde, dass die Züge nicht kamen. Dann wussten wir, dass unsere Trennung andauern sollte und dass wir versuchen mussten, uns auf die Zeit einzustellen. Von da an fügten wir uns wieder in unser Gefangensein, waren wir auf unsere Vergangenheit angewiesen, und auch wenn einige von uns versucht waren, in der Zukunft zu leben, gaben sie es schnell auf, wenigstens sofern sie konnten, als sie die Verletzungen spürten, die die Phantasie letztlich denen zufügt, die sich ihr anvertrauen.
Vor allem legten alle unsere Mitbürger sehr schnell, sogar in der Öffentlichkeit, die Gewohnheit ab, die sie angenommen haben mochten, die Dauer ihrer Trennung zu...
Erscheint lt. Verlag | 18.5.2021 |
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Übersetzer | Uli Aumüller |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Affenpocken • Algerien • Corona • Corona virus • Coronavirus • Epedemie • Epidemie • Erlösung • Existentialismus • Existienzialismus • Frankreich • französische Bücher • Französischer Klassiker • Klassiker • Literaturnobelpreis • Literaturnobelpreisträger • Menschlichkeit • Neuübersetzung • Nobelpreis für Literatur • Pandemie • Roman • Spanische Grippe • Tolstoi • Viren • Virologe • Virus |
ISBN-10 | 3-644-00983-X / 364400983X |
ISBN-13 | 978-3-644-00983-7 / 9783644009837 |
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