Die stumme Tänzerin (eBook)

Historischer Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00837-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die stumme Tänzerin -  Helga Glaesener
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Ein Frauenmörder auf St. Pauli, eine weibliche Ermittlungseinheit - und eine Spur, die nicht sein darf Hamburg, 1928: Seit einem Jahr gibt es im Hamburger Stadthaus eine weibliche Kriminalpolizei unter Leitung der resoluten Josefine Erkens. Auch die freiheitsliebende Paula heuert dort an. Als eine Tänzerin ermordet und obszön entstellt wird, gelingt es Erkens, Paula und eine weitere Kommissarin in der bisher rein männlich besetzten Mordkommission unterzubringen. Angefu?hrt wird diese Ermittlungsgruppe von Martin Broder, der gezeichnet ist von den Gräueln des Großen Krieges und der sich schwertut mit den «unfähigen Weibern». Doch die Frauen arbeiten mit präziser Logik und ku?hlem Witz. Zunächst fu?hren ihre Ermittlungen ins Rotlichtmilieu, als aber ein weiteres Opfer aufgefunden wird, keimt in Paula ein ungeheuerlicher Verdacht auf ...

Helga Glaesener stammt aus Niedersachsen und studierte in Hannover Mathematik. 1990 begann die Mutter von fünf Kindern mit dem Schreiben historischer Romane, von denen gleich das Debüt, «Die Safranhändlerin», zum Bestseller avancierte. Seitdem hat sie zahlreiche weitere erfolgreiche Romane geschrieben, darunter auch diverse Krimis. Helga Glaesener lebt in Oldenburg.

Helga Glaesener stammt aus Niedersachsen und studierte in Hannover Mathematik. 1990 begann die Mutter von fünf Kindern mit dem Schreiben historischer Romane, von denen gleich das Debüt, «Die Safranhändlerin», zum Bestseller avancierte. Seitdem hat sie zahlreiche weitere erfolgreiche Romane geschrieben, darunter auch diverse Krimis. Helga Glaesener lebt in Oldenburg.

1. Kapitel


Samstag, 20. Januar 1926

So sah sie also aus: die Befreiung vom Mief der Kaiserjahre, der Mut, der mit der Faust die altbackene Prüderie zerschlägt, das ehrliche Lachen, das keine Kompromisse eingeht … Varieté! Der sensationelle Abend, an dem sie sich Zutritt zu der Welt der Unerschrockenen und Tabulosen verschaffen wollte, war gekommen, sie saß im Fiasko und …

Ja, was?

Paula lehnte sich in dem rot gepolsterten Sessel zurück und starrte in den halbdunklen Saal mit der Bühne, dem Klavier und den dicht besetzten Tischen. Die Luft war erfüllt von Zigarettenqualm, Weindunst, Schweiß und Parfüm, was das Atmen zur Schwerstarbeit machte. Es wurde gejohlt, gelacht, geklatscht und gerufen. Genau so, wie es in den Gazetten geheißen hatte, in denen diese halbseidenen Sehnsuchtsorte bejubelt wurden. Auch Paulas Kolleginnen schwärmten davon, wenn sie morgens völlig übermüdet zur Arbeit in die Bootsmanufaktur Borgmeister trotteten. Warum also kam bei ihr keine Begeisterung auf?

Bedrückt beobachtete Paula die halbnackten Frauen, die den Treibstoff für die Stimmung in dem spiegelverkleideten Raum bildeten. Obenherum waren sie mit Ketten aus aufgefädelten Kupferringen bekleidet, untenherum mit nur handbreiten Spitzenröckchen und winzigen Unterhöschen. Sie saßen auf dem Schoß ihrer Kundschaft, lachten, flüsterten und kreischten neckische Drohungen. Alles in breitem Platt, die Hamburger Herkunft ließ sich nicht leugnen. Und wenn ihnen einer zwischen die Schenkel griff, taten sie, als wären sie amüsiert und nicht hundemüde. Die Männer im Publikum winkten sie heran und schoben sie wieder von sich, ihre Begleiterinnen lachten generös und zogen an ihren Zigaretten. Genau, Prüderie war nicht mehr zeitgemäß, dafür aber etwas anderes, Schäbiges, für das Paula auf die Schnelle kein Begriff einfiel.

Sie nippte verdrossen an ihrem Champagner und gestand sich ein, dass es ein Fehler gewesen war hierherzukommen. Dafür besaß sie offenbar ein Talent: sich zu verrennen. Vor anderthalb Jahren hatte sie beschlossen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Sie wollte nicht mehr das verwöhnte Fräulein Tochter des stinkereichen Zündholzfabrikanten Harry Haydorn sein. Sie wollte Abenteuer. Und als sie im Hamburger Anzeiger eine Annonce der Volkshochschule in der Oberalten-Allee entdeckte – Demokratie braucht Bildung! –, hatte sie spontan einen Kurs in Stenographie und Schreibmaschine belegt. Anschließend hatte sie sich bei Borgmeister beworben – und war genommen worden. Endlich selbständig!, hatte sie gejubelt. Sie war zu einer modernen Frau geworden, die ihren eigenen Weg ging.

Doch schon nach kurzer Zeit hatte ihre Stellung sich als öder Alltagstrott entpuppt. Acht Stunden stenographieren, was der alte Borgmeister hinter seinem Riesenschreibtisch ihr diktierte, und den Sermon anschließend abtippen. Einmal hatte sie sich getraut, ihm zu weniger gewundenen Sätzen zu raten. Damit man’s besser verstehen konnte, war doch in seinem Sinn. Hui, da waren aber die Fetzen geflogen. Wenn Borgmeister in Rage geriet, konnte er gestochen scharf formulieren. Was das Fräulein sich einbilde? Heerscharen von talentierteren Sekretärinnen warteten darauf, ihren Platz einzunehmen. Sie hatte die Arbeit nur deshalb nicht hingeworfen, weil sie ihren Eltern gegenüber kein Scheitern eingestehen wollte.

Walter, ihr Begleiter an diesem Abend, arbeitete ebenfalls bei Borgmeister. Er war Schiffsbauingenieur, und sie mochte ihn, weil er lustig und unkompliziert war und gern auch mal über den Chef herzog. In seiner Freizeit ging er rudern, er mochte Jazz und gut geschnittene Anzüge. Heute Mittag war er ins Büro gekommen und hatte ihr verstohlen zugeflüstert: «Ich will ins Varieté, hast du nicht Lust mitzukommen?» Und da hatte sie spontan zugesagt.

Nach der Arbeit war sie eilig nach Harvestehude gefahren, wo sie wegen ihres knickerigen Gehalts immer noch bei den Eltern wohnte, und hatte sich so gewagt angezogen, wie es ihr Kleiderschrank hergab. Dann retour zum Hauptbahnhof, wo Walter auf sie gewartet hatte, und nun saßen sie hier im Fiasko.

Tja, nomen est omen, dachte sie und blickte verstohlen auf ihre Armbanduhr.

Walter schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und brach in Gelächter aus. Galt seine Begeisterung dem Witz, den der freche Kerl auf der Bühne gerade gerissen hatte? Sicher nicht nur. Ihr Ingenieur war inzwischen angeschickert, und sein Zustand mochte auch etwas mit dem Akkordeonspieler zu tun haben, der sich zwischen den einzelnen Nummern an die Tische drängte und dabei «Mutter, der Mann mit dem Koks ist da» sang. Viele Gäste, darunter auch Walter, hatten nach den Briefumschlägen im Korb an seinem Gürtel gegriffen und dabei wie selbstverständlich ein paar Mark hineinfallen lassen. Walter hatte seinen Umschlag geöffnet und mit Hilfe eines Strohhalms ein weißes Pulver in die Nase gesogen. Er hatte auch ihr etwas davon angeboten, aber Paula hatte abgewinkt, hauptsächlich, weil sein Schnodder am Halm klebte. Dann war der Umschlag auch schon leer gewesen.

Inzwischen war ihr aufgegangen, worum es sich bei dem Pulver handeln musste. Kokain, natürlich. Das Lied vom Koks, das der Mann mit dem Akkordeon augenzwinkernd gesungen hatte, war eine Botschaft gewesen, und sie bereute, dass sie nicht doch zu dem Strohhalm gegriffen hatte. Denn das war es doch, was sie wollte: Ins pralle Leben eintauchen! Ihre Stimmung sank auf einen neuen Tiefpunkt.

Ein Mann am Nebentisch kniff eine der Animierdamen in die Brüste. Das Gesicht des Mädchens verzog sich schmerzhaft – und wurde im nächsten Moment durch ein gekünsteltes Lachen entstellt. Die hatte keinen Spaß an ihrer Arbeit. Wie auch? Sich von fremden Kerlen begrapschen lassen, als wäre man eine Birne auf dem Wochenmarkt!

Paula stieß Walter an. «Ich bin müde, lass uns gehen!»

«Was?» Wieder brach er in Gelächter aus, dann beugte er sich zu ihr vor, um sie zu küssen.

Angeekelt wandte sie das Gesicht ab. «Walter, ich …»

Bevor sie den Satz beenden konnte, drehten sich die Köpfe plötzlich zur Tür. Eine blonde Frau mit apart schrägen Augen hatte mit lautem Münzgeklapper das Fiasko betreten. Sie steckte in der Uniform der Heilsarmee – knöchellanger, biederer Rock mit Bluse, Umhang bis zur Hüfte, eine Kappe mit breitem Rand, die ihre Stirn beschattete, alles in verdrießlichem Schwarz. Dabei war sie so hübsch, als wollte sie damit ihre Aufmachung verspotten. Der Mann am Nebentisch warf ihr grinsend einen Luftkuss zu, doch die Uniformierte schüttelte wie zur Antwort stumpf ihre Sammelbüchse. Und da kippte die Stimmung. Vielleicht sahen die Gäste plötzlich wieder die Kriegsversehrten und Witwen vor sich, die in den Hamburger Straßen gegen das Verhungern anbettelten, jedenfalls griffen sie nach ihren Geldbörsen. Und als der Akkordeonspieler auch noch ein melancholisches Soldatenlied zu spielen begann, sprangen die Groschen nur so in die Dose. Die Heilsarmeefrau sandte dem Mann mit dem Akkordeon einen dankbaren Blick zu.

Nun, das war menschlich und schön, aber Paulas Widerwillen gegen das Fiasko wurde dadurch nur noch größer. «Hast du gehört, Walter? Ich will heim.»

Walter stierte schon wieder die Lustdamen an. Nichts deutete darauf hin, dass er sie gehört hatte oder überhaupt noch wahrnahm. Na gut, sie hatte zwei Beine, dann ging sie eben allein! Wahrscheinlich war sie ohne ihn sogar sicherer, besäuselt, wie er war. Paula schob ihren Sessel zurück, schnappte sich ihren Mantel und zog ihre Tasche von der Lehne. Wenig später stand sie draußen auf dem Spielbudenplatz.

Es war bereits kurz vor Mitternacht, doch die Gaslaternen und Lichtreklamen tauchten den Platz immer noch in buntes, unruhiges Licht. Autos bahnten sich hupend ihren Weg durch die Menschenmenge. Die Damen des leichten Gewerbes flanierten auf den Bürgersteigen und beugten sich zu Autofenstern hinab. Im Kiez verlief das Leben spiegelbildlich. Tagsüber waren die Straßen wie leergefegt, nachts begann ein fieberhaftes Treiben.

Paula ging zum Standplatz der Taxen hinüber, aber leider fand sich dort kein einziges Fahrzeug, nur einige Betrunkene lungerten auf einer Bank herum. Sie sah, wie sich einer von ihnen erhob und aus der Gruppe löste. Er starrte zu ihr herüber und beschleunigte seinen Schritt. Himmelherrgott!

Eine Tram hielt bimmelnd an einer Haltestelle in ihrer Nähe. Paula hatte keine Ahnung, wo die hinwollte, aber sie stürzte los, quer über den mit kahlen Bäumen bestandenen Grünstreifen zu den Gleisen. Leider hatte die Elektrische schon wieder Fahrt aufgenommen, bevor sie die Haltestelle erreichte. Paula hastete weiter, nur weg von dem Besoffenen, der ihr irgendetwas hinterhergrölte. Ihr ging auf, dass es vielleicht doch ein Fehler gewesen war, das Fiasko ohne Walter zu verlassen. Plötzlich fühlte sie sich wie Freiwild. Also umkehren und Schutz in Walters hoffentlich starken Armen suchen? Nein, das kam nicht in Frage, dafür war sie zu stolz. Außerdem müsste sie dann noch einmal an dem Besoffenen vorbei, und sie ahnte, dass sich hier auf dem Kiez niemand zu ihrem Beschützer aufschwingen würde. Instinktiv bog sie in eine Seitengasse ein.

Sie schritt aus, so schnell ihre hochhackigen Schuhe es zuließen. Ihr Herz tuckerte im Takt der klappernden Absätze. Die Straße mündete in eine Querstraße und kurz darauf in eine weitere, engere Straße und in noch eine. Irgendwann stand sie an einer breiten Treppe, und schräg unter ihr glänzte die schwarze Elbe mit den Landungsbrücken. Da wollte sie nicht...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2021
Reihe/Serie Hamburgs erste Kommissarinnen
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte 1920er Jahre • Emanzipation • Ermittlerin • Frau • Hamburg • Hamburg Krimi • Hamburg Krimi historisch • historischer Krimi • Kriminalroman aus Hamburg • Krimi Neuerscheinungen 2021 • Mord • Mordserie • Polizei • Polizeiarbeit • Polizistin • Rotlichtviertel • Serie • St. Pauli • Volker Kutscher • Weimarer Republik • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-644-00837-X / 364400837X
ISBN-13 978-3-644-00837-3 / 9783644008373
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