Der große Sommer (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman

*****

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
320 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-7077-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der große Sommer -  Ewald Arenz
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Die Zeichen auf einen entspannten Sommer stehen schlecht für Frieder: Nachprüfungen in Mathe und Latein. Damit fällt der Familienurlaub für ihn aus. Ausgerechnet beim gestrengen Großvater muss er lernen. Doch zum Glück gibt es Alma, Johann - und Beate, das Mädchen im flaschengrünen Badeanzug. In diesen Wochen erlebt Frieder alles: Freundschaft und Angst, Respekt und Vertrauen, Liebe und Tod. Ein großer Sommer, der sein ganzes Leben prägen wird. Hellsichtig, klug und stets beglückend erzählt Ewald Arenz von den Momenten, die uns für immer verändern.

EWALD ARENZ, 1965 in Nürnberg geboren, hat englische und amerikanische Literatur und Geschichte studiert. Er arbeitet als Lehrer an einem Gymnasium in Nürnberg. Seine Romane und Theaterstücke sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Mit >Alte Sorten< (DuMont 2019) stand er auf der Liste »Lieblingsbuch der Unabhängigen« 2019 und >Der große Sommer< (DuMont 2021) erhielt 2021 ebenjene Auszeichnung. Zuletzt erschien >Die Liebe an miesen Tagen< (DuMont 2023).
Spiegel-Bestseller

6

Wahrscheinlich wäre es klug gewesen, schon in den letzten Tagen vor den Sommerferien mit dem Lernen anzufangen. Dann würde ich vielleicht in den sechs Wochen nicht so viel tun müssen und eine echte Chance haben, die Nachprüfung zu schaffen. Aber ich konnte nicht. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als wären diese letzten Schultage auf einmal die eigentlichen Ferien geworden. Die letzten Tage, bevor ich für anderthalb Monate einrücken musste. Ich schob den Gedanken immer wieder beiseite. Und versuchte, möglichst viel in diese Tage zu pressen.

In der letzten Woche vor den Zeugnissen fand das Sportfest statt. Alma und ich hatten ein Transparent gebastelt und nun standen wir vor unserem Haus und warteten auf Johann. Alma saß freihändig auf dem Sattel, einen Fuß auf der Stange, lehnte mit dem Rücken an einem Laternenpfahl und hielt das Rad in der Balance, während sie sich eine Zigarette drehte. Über der Silhouette der Stadt stand die Sonne. Die Antennen waren wie aus Licht in den Himmel über den Dächern geschnitten. Über Alma wölbte sich die Krone der Kastanie im Vorgarten.

»Manchmal würde ich gerne malen können«, sagte ich.

»Wieso?«

Alma waren die Zigarettenpapierchen heruntergefallen und sie versuchte, das Heftchen wieder aufzuheben, ohne vom Rad steigen zu müssen. Es sah deutlich weniger elegant aus, als wenn sie einfach abgestiegen wäre.

»Weil ich dann malen könnte, was ich sehe.«

Alma kippte und fing sich hastig. Dann stieg sie doch ab und hob die Papierchen auf.

»Aber es ist doch sowieso da«, sagte sie einfach. »Du musst es nicht malen.«

Das stimmte. Aber das, was man sah, war nicht alles. Ich wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte.

»Dann müsste man allerdings auch keine Bücher schreiben und überhaupt keine Bilder malen und keine Musik machen. Es ist doch …«

Ich überlegte kurz. Alma hatte sich wieder auf ihr Fahrrad gesetzt und zündete ihre Zigarette an. Der Rauch zog zu mir herüber. Ich rauchte nicht, aber dieser verwehte Duft war für einen Augenblick wie eine sehnsüchtige Einladung in eine wunderbare Ferne und ich wusste auf einmal, was ich sagen wollte.

»Es ist alles da. Aber das alles hier, dieser Sommermorgen und die Blätter über dir und wie du lässig auf dem Rad sitzt und rauchst und cool aussiehst, das ist … das ist, als ob man das alles erst malen muss, damit man es in einem Moment aufnehmen kann. Damit man fühlen kann, was diesen einen besonderen Augenblick ausmacht.«

»Du musst nicht malen«, sagte Alma wieder. »Du kannst es sagen. Da kommt Johann.«

Sie deutete den Berg hinauf. An der aufgegebenen Tankstelle vorbei kam er mit fliegenden Haaren und flatternder Jacke auf uns zugerast. Er bremste ganz knapp vor uns.

»Moin, folks«, grüßte er. »Was ist das für ein Banner?«

Er deutete auf unser Transparent.

»Das wirst du sehen, wenn wir damit auf der Aschenbahn sind. Du musst die eine Stange tragen.«

Johann zupfte am Stoff. Alma hob die Stangen. Er grinste.

»So was wie: ›Dieser Sportplatz wird instand gesetzt‹?«

Alma seufzte.

»Die Ungeduld der stürmischen Jugend. Du wirst es früh genug erfahren.«

Sie stieß sich von der Laterne ab und kam langsam ins Rollen, weiter den Gehsteig hinab. Johann und ich folgten.

Auf dem Sportplatz war es schon heiß. Wir schlossen die Räder zusammen und schlenderten zur Tribüne zum Fritsch, der dort mit einem Klemmbrett stand und das Ganze überwachte. Einmal im Jahr waren die Sportlehrer die Könige. Sonst nahm sie nie jemand ernst, an unserer Schule schon gar nicht. Latein- und Griechischlehrer waren bei uns die Herrscher, dann kam erst mal lange nichts. Moderne Fremdsprachen, Mathe, Chemie, Bio … das war der Mittelbau. Die brauchte man ja und manche hatten sogar was zu sagen. Schließlich kamen Kunst und Ethik und Sozialkunde und Wirtschaft und Sport … die brauchte keiner.

»Rotfront, Herr Fritsch«, sagte ich und hob die linke Faust. »Wir sind da.«

Fritsch sah kaum auf, als er unsere Namen abhakte.

»Lass mich in Ruhe mit deinen Parolen, Büchner. Start um zehn fünfundvierzig zum Hundertmeterlauf.«

»Jawohl, Herr Kaleu«, antwortete Alma zackig.

Fritsch fuhr unvermutet hoch.

»Ihr denkt alle, die Ferien haben schon angefangen, was? Respekt kriegt man von euch nur, wenn es um Noten geht, ist doch so. Wenn es euch hier nicht passt, dann geht doch rüber!«

»Machen wir«, antwortete Alma schlagfertig und deutete lässig zu den Linden, die auf der Gegenseite der Aschenbahn standen und den Sportplatz zum Park abgrenzten. »Da ist es auch viel schattiger.«

Johann nickte mitleidig.

»Ja. Muss die Hölle sein auf dieser Tribüne mitten in der Sonne.«

Aber Fritsch hatte schon keine Lust mehr, sich mit uns abzugeben.

»Verschwindet. Zehn fünfundvierzig, Büchner. Zehn fünfundvierzig.«

Es hieß, dass Fritsch ein verklemmter Nazi sei. Bestimmt bei der HJ gewesen oder so. Wer wurde schon Sportlehrer? Ich glaubte das irgendwie nicht. Der versuchte nur immer, zackig zu sein, und konnte es eigentlich gar nicht. Den brachte ja Alma schon ins Schwitzen. Obwohl – Alma konnte so was gut. Manchmal dachte ich, dass sie viel mutiger war als ich. Alma wäre sicher ohne Zögern vom Siebeneinhalber gesprungen. Oder erst gar nicht hochgeklettert. Sie hatte oft so etwas Sicheres in dem, was sie tat. Solange wir in einer Klasse gewesen waren, hatte ich mir nie die Hausaufgaben aufschreiben müssen. Alma war da absolut zuverlässig gewesen, sie hatte das immer gemacht. Obwohl sie kein Streber war. Nur kriegte sie das mit der Balance zwischen Arbeit und Spaß irgendwie besser hin als ich. Ich rannte immer voll gegen die Mauer.

Meine alte Klasse hatte sich unter die Linden in den Schatten verzogen. Alma und ich setzten uns neben sie ins Gras. Johann blieb stehen und rauchte nachdenklich. Über uns siebten die Blätter das Licht. Alma hatte sonnige Flecken auf dem Rücken. Wind wäre schön gewesen. Ich mochte, was der Wind mit den Blättern tun konnte. Aber das war eigentlich ein Herbstbild und der Sommer begann doch gerade erst.

»Ey, Büchner, was ist das für ein Transparent?«

Max hatte das gerufen. Der Kleinste in meiner ehemaligen Klasse. Er war ein lebendes Klischee. Klein. Frech. Schlagfertig. Ob ich auch so einem Klischee entsprach? Alle dachten immer, ich würde Drogen nehmen, nur weil ich lange Haare hatte. Oder dass ich irgendwie freaky wäre, bloß weil ich gerne Schwarz trug. Ich wusste ja auch nicht, warum. War eben so. Vielleicht gerade deshalb. Damit die anderen etwas in mir sahen, was ich nicht war. Tarnen und täuschen.

»Ein Spendenaufruf für die RAF

Max war im Grunde ein Spießer. Der wäre nie auf eine Demo gegangen, vielleicht weil sein Vater ein Mietshaus besaß. Er war immer auf der Seite der Kapitalisten, wenn wir über Politik diskutierten.

»Wirklich witzig, Büchner. Was haben wir gelacht.«

»Dann frag doch nicht, wenn du’s nicht wissen willst.«

Über den Platz hallten unverständliche Lautsprecherdurchsagen. Die Siebtklässler hüpften in die Sandgrube. Ein paar aus der Oberstufe trainierten Hochsprung. Die allermeisten hingen auf den Bänken herum, die man aus den Umkleideräumen ins Freie getragen hatte. Die Lehrer klumpten sich in dem schmalen Schatten unter dem Sprecherhäuschen auf der Tribüne zusammen. Fast alle rauchten. Alles in allem war es ein sehr nachlässig geführtes Sportfest. Ich fand, dass ich recht hatte: Fritsch war kein Nazi. Der konnte gar nichts.

»Sag mal, Frieder, wofür hast du all die Groschen dabei?«

Alma hatte in meiner Sporttasche nach ihrem Feuerzeug gekramt und die Zehnpfennigstücke gefunden, die ich mir gestern in der ganzen Wohnung zusammengeklaut hatte. Sie hielt eine Handvoll hoch. Ich zuckte nur die Achseln. Es war mir unangenehm. Ich wollte Alma nicht sagen, dass ich mich … Ach, keine Ahnung, ob das überhaupt Verlieben war. Wie konnte man sich denn überhaupt in jemanden verlieben, den man gerade mal eine halbe Stunde gesehen hatte? Aber andererseits … vielleicht war es ja Schicksal oder so. Vielleicht musste es genau so sein. Ich hatte dieses Gefühl manchmal: dass die Dinge einfach richtig geschahen, wenn man es ihnen erlaubte. Wenn man wartete, nichts tat. Aber dann wieder … hätte ich wohl die Groschen nicht gesammelt.

»Erzähl ich dir später. Ich glaube, wir sind jetzt dran, oder?«

Johann nickte und drückte seine Zigarette im Gras aus.

»Wie du so schnell rennen kannst, obwohl du rauchst, wird mir auf ewig ein kosmisches Rätsel bleiben«, sagte ich, während Johann sein Hemd auszog und nur in den kurzen Sporthosen dastand; schlank, fast mager. Er nahm das zusammengerollte Transparent auf.

»Morituri te salutant, Alma!«, deklamierte er in komischer Pose. »Fliege ich von der Schule, wenn ich das Ding entrolle?«

»Schieb es auf Frieder«, sagte Alma spöttisch, »der hat ja sowieso nichts mehr zu verlieren.«

»Es ist wunderbar, liebende Freunde um sich zu haben«, sagte ich. Das war das Schöne zwischen uns. So konnten nur wir reden. Das war wie mit den Nullen. Etwas, das die anderen nicht verstanden.

Der Lautsprecher hustete irgendetwas von Hundertmeterlauf. Johann und ich schlenderten quer über den Rasen zur Aschenbahn. Die Betontribüne war jetzt voller als vorhin. Nach der Leichtathletik kam das traditionelle Fußballspiel zwischen der Lehrermannschaft und der Oberstufe. Da würden dann alle zusehen, und wir konnten unbemerkt abhauen. Es war jetzt noch heißer, aber der Schwarz stand in einem seiner beiden Anzüge...

Erscheint lt. Verlag 26.3.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
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ISBN-10 3-8321-7077-4 / 3832170774
ISBN-13 978-3-8321-7077-6 / 9783832170776
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