Margherita und der Mond (eBook)

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2021 | 2. Auflage
288 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61177-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Margherita und der Mond -  Andrea De Carlo
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Die Liebe zum Kochen wurde Margherita in die Wiege gelegt. Wie einst ihr Vater - ein Sternekoch - führt nun auch sie ein Restaurant in Venedig. Trotzdem scheint sie für ihren Vater kaum zu existieren. Und irgendwie, merkt sie, ist sie auch sich selbst abhandengekommen. Als der Vater zu einer Fernseh-Kochshow eingeladen wird, begleitet ihn Margherita - und begibt sich damit auf eine Reise, die ihr Leben verändern wird.

Andrea De Carlo, geboren 1952 in Mailand, lebte nach einem Literaturstudium längere Zeit in den USA und in Australien. Er war Fotograf, Maler und Rockmusiker, bevor ihm 1981 mit seinem ersten Roman, ?Creamtrain?, der Durchbruch gelang. Acht Jahre später legte er den Roman ?Zwei von zwei? vor, der zum Kultbuch einer ganzen Generation wurde. Andrea De Carlo lebt in Mailand und in Ligurien.

Langsam wurde ich nervös, eine geschlagene Viertelstunde stand ich nun schon am Bahnhofsufer direkt neben der Vaporetto-Haltestelle und wartete, dann tauchte endlich das grüne Boot meiner Eltern auf, mit meiner Mutter am Steuer, meinem Vater auf der Mittelbank, und schob sich langsam durch den dichten Verkehr, zwischen Vaporetti, Kuttern und hoch mit Kartons, Bierfässern, Zement- und Abfallsäcken beladenen Lastkähnen hindurch, die sich auf dem jadefarbenen Wasser tummelten.

Fünf oder sechs Meter vom Ufer entfernt drosselte meine Mutter den Motor und steuerte das Boot zielsicher in die Haltebucht zwischen den Holzpfählen, wobei ihr Gesicht wie so oft keinerlei Regung zeigte. Mein Vater sprang sofort auf, stellte sich breitbeinig hin, um das Schwanken auszugleichen, zupf‌te dann seinen blauen Mantel und den weißen Schal zurecht. Er ist zwar nur eins vierundfünfzig groß, dafür aber unglaublich energiegeladen. Ursprünglich stammt er aus den Abruzzen, aus Pescocostanzo, ist mittlerweile siebenundachtzig und lebt seit sechzig Jahren in Venedig. Er ist schmächtig, hat dichte, glatte weiße Haare, buschige, ebenfalls weiße Augenbrauen und eine Adlernase, von der ich als Kind inständig hoffte, sie nicht zu erben; sein Teint ist ziemlich blass, an den Schläfen beinahe durchsichtig, weil er sich nur ungern im Freien aufhält, und er hat flinke blaue Augen. Sein Name ist Achille, und er ist Faschist. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass sein Vater, als er meine Großmutter traf, noch mit einer anderen Frau verheiratet war und deshalb umgehend das Weite suchte, als er erfuhr, dass er sie geschwängert hatte. So kam es, dass meiner Großmutter später, bevor sie nach Buenos Aires auswanderte, um dort bei einer reichen Familie eine Stelle als Köchin anzutreten, keine andere Wahl blieb, als den kleinen Achille im Alter von fünf nach Ravenna ins Heim zu geben, weil aus ihrem Sohn unbedingt ein richtiger Italiener werden sollte. Folglich erfand sich der kleine Achille, wer wollte es ihm verübeln, fast zwangsläufig eine Vaterfigur à la Benito Mussolini, mit markigem Kinn und wild entschlossener Miene, und klammerte sich an eine Ideologie scheinbar starker, letztlich jedoch gescheiterter, verbitterter Männer. Vermutlich war das auch eine Art Kompensation für seine geringe Größe, seine zierliche Statur, seine extreme Dünnhäutigkeit und erklärt vielleicht auch seine Neigung, erst Kopf und Kragen zu riskieren, sich dann aber als Opfer himmelschreiender Ungerechtigkeit aufzuführen. Solange ich denken kann, war er unberechenbar, schwankte permanent zwischen autoritärem Gehabe und grenzenloser Naivität, Intuition und Verblendung, aggressivem Auf‌treten und konventioneller Höf‌lichkeit; ein ewiges Auf und Ab von sensationellen Erfolgen, katastrophalen Fehlentscheidungen, überbordender Großzügigkeit, blindem Vertrauen in die falschen Menschen, Paranoia und Größenwahn, Zusammenbrüchen und Depressionen. Seit ich klein war, musste ich diese extremen Gegensätze, dieses Wechselbad der Gefühle, über mich ergehen lassen; daraus unbeschadet hervorzugehen hat mich große Anstrengung gekostet.

»Wir sind spät dran«, sagte ich, so ruhig ich konnte. Ich fing die Leine, die mir meine Mutter zuwarf, und zog den Bug Richtung Ufer. Wie immer machte sie dabei ein Gesicht, das nicht verriet, ob sie besorgt oder gleichgültig war. Das Boot sah reichlich heruntergekommen aus, die Farbe blätterte ab, der verrostete Motor spuckte, beides brauchte dringend eine Grundüberholung.

»Tausend Dank, Margherita, ich weiß selbst, dass wir spät dran sind!«, sagte mein Vater ungehalten. Denn normalerweise ist er die Pünktlichkeit in Person: Ist man mit ihm verabredet, kommt er unweigerlich zu früh und regt sich dann auf, wenn er warten muss, auch wenn man selbst pünktlich erscheint. Mit einiger Mühe bückte er sich und hob den Koffer hoch. Rollkoffer lehnt er schlichtweg ab, das sei was für Schwächlinge, und dann noch dieser blöde Name, Trolley, wenn er das schon höre, das sei doch gar kein Italienisch. Deshalb benutzt er lieber einen ohne Rollen, auch wenn er sich damit übernimmt.

Meine Mutter machte Anstalten, ihm zu helfen, aber er kam ihr mit einer wütenden Geste zuvor. Sein brauner Lederkoffer ist ein Uraltmodell aus den Sechzigern und sieht mit den dicken Messingschnallen und breiten Riemen aus wie ein aufgezäumtes Muli ohne Kopf und Beine, außerdem ist er tonnenschwer und wiegt selbst leer garantiert mehr als alles, was er für eine zweitägige Reise eingepackt hat.

Noch einmal zog ich an der Leine und stellte den Fuß auf den Bug, um meinem Vater das Aussteigen zu erleichtern. Auch mich macht Zuspätkommen extrem nervös: eine Angewohnheit von vielen, die ich von ihm geerbt habe. Aber ich verkniff mir jede Bemerkung, denn ein falsches Wort kann bei ihm leicht ungeahnten Schaden anrichten; deshalb behandele ich ihn immer wie ein rohes Ei.

Wie beiläufig ließ meine Mutter den Blick schweifen, erst über den Kanal, dann wieder zurück zu meinem Vater. Sie ist hochgewachsen, elegant, immer leicht abwesend, dreiundzwanzig Jahre jünger als er, Venezianerin wie ich (mehr als ich) und trägt immer noch denselben Bubikopf wie in meiner Kindheit, vielleicht einer der Gründe, warum ich mir die Haare wachsen ließ, sobald ich konnte. Sie wirkt nicht gerade besonders italienisch, mit den langen Gliedmaßen, dem ovalen Gesicht, dem durchscheinenden Teint, den leicht schrägen Augen. »Ich glaube, den Zug habt ihr verpasst«, sagte sie in jenem unbeteiligten Ton, den sie sich als Mittel zum Selbstschutz zugelegt hat und der meinen Vater regelmäßig auf die Palme bringt (und mich auch).

»Wenn wir ihn verpasst haben, dann ist das allein deine Schuld, Teresa!«, sagte er. Unter den wenigen Familienfotos gibt es kein einziges, auf dem sie beide lächeln. Auf einem alten Schnappschuss aus Capri guckt sie nicht einmal in die Kamera, während er sie herausfordernd fixiert, mit kalten Augen unter dichten, damals noch grauen Brauen.

Da die Zeit langsam knapp wurde, sagte ich: »Wenn wir jetzt losgehen, schaffen wir es vielleicht noch, Achille.« Papa habe ich ihn nie genannt, und er legte auch keinen Wert darauf, ebenso wenig wie meine Mutter sich wünschte, dass ich sie Mama nannte. Als ich als Kleinkind irgendwann anfing, sie Achille und Teresa zu nennen, haben sich beide wohlweislich davor gehütet, mich zu korrigieren, es war ihnen nur recht. Freunden und Bekannten gegenüber taten sie zwar so, als sei das eine amüsante Eigenart ihrer kleinen Tochter, fanden es vielleicht sogar irgendwie schick, in Wahrheit aber war es nur ein weiterer Versuch, sich von der Elternrolle zu distanzieren.

»Ich komm ja schon, Margherita!«, sagte mein Vater so aggressiv, wie ich befürchtet hatte. Mit einer abfälligen Geste ließ er meine Mutter stehen und setzte sich leicht schwankend in Bewegung. Eigentlich weiß ich, dass er wesentlich weniger Probleme mit dem Gleichgewicht hat, als es auf den ersten Blick scheinen mag, denn sein Schwerpunkt liegt ziemlich tief, und früher, in längst vergangener Zeit, hat er sogar im Fliegengewicht geboxt, trotzdem fährt mir jedes Mal der Schreck in die Glieder, wenn ich ihn so wanken sehe.

Ich sah auf die Uhr, auf meinen kleinen Rollkoffer, dann wieder zu meinem Vater, der sich unerträglich langsam Richtung Bug bewegte. Um uns herum herrschte ein unglaubliches Getöse, das Klatschen der Wellen, das Röhren und Knattern der Motoren, das Gebrüll der Bootsleute.

Daher musste mein Vater die Stimme erheben, obwohl er das hasst: »Nur damit du es weißt, ich war eine Stunde vor der Zeit fertig, aber deine Mutter musste erst den Bootsschlüssel suchen und ausgerechnet dann auch noch die Katze füttern!«

Meine Mutter schüttelte den Kopf, was eher eine Nicht-Zustimmung als ein Widerspruch war: auch das eine ihrer Überlebensstrategien, auch sie nervtötend, wenngleich ich nur allzu gut wusste, wie schwer es ist, sich gegen einen so überheblichen wie überempfindlichen Diktator wie ihn zu behaupten. Sie deutete auf die Holzpfähle der Haltebucht, den tosenden Verkehr auf dem Kanal und sagte: »Eigentlich darf man hier gar nicht halten, wenn ich nicht bald ablege, brummen sie mir noch ein saftiges Bußgeld auf.«

»Wir gehen ja schon, Teresa!«, sagte ich und gab mir die größte Mühe, nicht ins Boot zu springen, um meinem Vater zu helfen. Nicht nur auf dem Wasser, auch an Land herrschte ein reges Kommen und Gehen, Massen von an- oder abreisenden Touristen bevölkerten den Bahnhofsvorplatz und schoben sich den Ponte degli Scalzi hinauf und hinunter, eine wogende Menge aus Gesichtern und Körpern unterschiedlichster Herkunft, sämtlichen Sprachen der Welt, Koffern, Taschen und Rucksäcken in allen nur erdenklichen Farben und aus jedem erdenklichen Material, alle mit einem Handy in der ausgestreckten Hand, um sich lächelnd vor der Kulisse der Wasserstadt zu fotografieren, über die sie rein gar nichts wussten. Fast mein ganzes Leben habe ich in Venedig verbracht, und ich habe immer weniger Verständnis dafür, wie gedanken-, hemmungs- und rücksichtlos die Besuchermassen alles für sich vereinnahmen. Auf dem Hinweg war mir an einem Baugerüst ein Transparent mit der Aufschrift TOURISTEN = WASSERRATTEN aufgefallen, ich bin also offenbar nicht die Einzige, die sich durch diese tagtägliche Invasion gestört fühlt (auch wenn mir durchaus bewusst ist, dass ich ohne Touristen arbeitslos wäre).

Endlich hatte mein Vater den Bug erklommen und wuchtete mühsam den Koffer in die Höhe.

Wieder riss ich mich zusammen und unterdrückte den Impuls, ihm beizuspringen: Auf übertriebene Hilfsangebote reagiert er nämlich allergisch, dann ist er...

Erscheint lt. Verlag 28.4.2021
Übersetzer Petra Kaiser
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Una di luna
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Befreiung • Fernsehsatire • Frausein • Italien • Italienische Küche • Kochen • Kochshow • Liebesgeschichte • Mailand • Männlichkeit • Neuanfang • Selbstfindung • Vater-Tochter-Beziehung • Venedig • Zauberer
ISBN-10 3-257-61177-3 / 3257611773
ISBN-13 978-3-257-61177-9 / 9783257611779
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