Wo wir gehen (eBook)

Unsere Wege durch die Welt

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
415 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76712-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo wir gehen -  Robert Moor
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Warum wählen wir im Zweifel lieber befestigte Wege statt Trampelpfade? Warum finden Ameisen scheinbar mühelos ihren Weg durch unbekanntes Terrain? Und warum haben Lebewesen überhaupt begonnen, sich von einem Ort fortzubewegen?
Als Robert Moor den Appalachian Trail entlangwanderte und endlose Kilometer auf den Weg vor seinen Füßen starrte, trieb ihn mehr und mehr die Frage um, warum es überhaupt so etwas wie Wege gibt und wie sie entstehen. Er reiste sieben Jahre lang rund um den Globus, beschritt große Routen ebenso wie schmale Cherokee-Pfade - und setzte sich der Wildnis aus. Seine eigenen Erlebnisse verbindet er aufschlussreich mit Erkenntnissen aus Wissenschaft, Geschichte und Philosophie.

Ein inspirierendes erzählendes Sachbuch, ein wunderbares Stück Nature Writing, eine Entdeckung! - Aus diesem Buch »geht« man anders heraus, als man eingetreten ist.



<p>Robert Moor ist leidenschaftlicher Wanderer, Journalist und Autor.Er schreibtunter anderemfür <em>Harper's</em>, <em>n+1</em>, <em>New Yorker</em> und <em>GQ</em>und hat dafür zahlreiche Preise gewonnen. Der US-Amerikaner lebt in British Columbia. <em>On Trails</em> ist sein erstes Buch.</p>

Erstes Kapitel


Fossilienspuren


Der Welt einen Sinn geben

Um die Bedeutung von Wegen zu begreifen, muss man sich wohl zumindest einmal im Leben durch weglose Wildnis geschlagen haben. Dass dem europäischen Geist über tausend Jahre lang – vom Fall Roms bis zum Aufstieg der Romantik – wenige Dinge so sehr widerstrebten wie die »unwegsame«, »verworrene« Wildnis, hatte einen ganz praktischen Grund. In einer berühmten Passage spricht Dante von dem Gefühl, in einem »wilden Wald« zu stehen, in dem es keine Pfade gibt, »so rauh und dicht verwachsen, daß herber kaum der Tod mir schiene«.

Fünfhundert Jahre später konnte ein Romantiker wie Lord Byron verkünden: »Ha, welche Lust im unwegsamen Walde«, aber erst, nachdem die Wildnis in Westeuropa gezähmt und umzäunt worden war. Da glaubte man schon, die wahre »unwegsame Wildnis« existiere nur auf anderen Kontinenten wie etwa Nordamerika, wo die Wendung bis weit ins 19. Jahrhundert geläufig war.[1]  So wurde die amerikanische Wildnis zum Symbol einer unwirtlichen, abgeschiedenen Gegend, die kalt, grausam und unzivilisiert ist. Auf der Boston Railroad Jubilee von 1851 beschrieb der Politiker Edward Everett das Land zwischen Boston und Kanada als »fürchterliche Wildnis, Flüsse und Seen ohne die Rahmung menschlicher Kunst, unwegsame Sümpfe, düstere Wälder, bei deren Betreten man sich unweigerlich zusammenkrümmt …«.

Noch heute gibt es unwegsame Wildnis, und manche Gegenden können tatsächlich immer noch Grauen erregen. Ich habe selbst eine solche Gegend durchstreift. Sie liegt am Nordufer des Western Brook Pond, eines Gletscherfjords auf der Insel Neufundland in der östlichsten kanadischen Provinz. Dort kann man – rüderweise – am eigenen Leib erleben, wie segensreich ein gut sichtbarer Weg ist.

Um das stygische Wasser des Fjords zu überqueren, musste ich die Fähre nehmen. An Bord erklärte mir der Kapitän, das Wasser unter dem Boot sei derart rein – oder wie der Hydrologe sagt: ultraoligotrophisch –, dass es fast scheine, als fließe hier gar kein Wasser; da es keinen elektrischen Strom leite, seien sogar die Sensoren der modernen Wasserpumpen verwirrt.

Am anderen Ufer des Fjords ging ich mit vier weiteren Wanderern am Anfang einer breiten Schlucht von Bord; durch den dichten Dschungel aus Farn führten mehrere Wildpfade bergauf zu einer Granitwand, die von einem Wasserfall durchschnitten wurde. Es war die erste Wanderung seit meiner Rückkehr vom Appalachian Trail. Ich fühlte mich stark; mein Rucksack war leicht. Während ich mich durch den hohen Farn wand, hatte ich die anderen Wanderer bald hinter mir gelassen. Über der Schlucht erreichte ich schließlich eine weite grüne Hochebene. Hier verblasste der Trampelpfad, dem ich gefolgt war, und verschwand. Vom Aufstieg verschwitzt, machte ich Rast und ließ die Füße über die Klippe baumeln. Am zerklüfteten westlichen Rand der Hochebene fiel der Fels jäh zum indigoblauen Fjord ab.

Auf der Klippe sitzend beobachtete ich, wie sich die anderen Wanderer die Schlucht heraufkämpften. Oben angekommen, folgten alle vier der Panoramaroute in Richtung Süden. Ich blickte ihnen nach, den schwer Gebeutelten, und verspürte plötzlich eine große Zuversicht. Ich stand auf, nahm Karte und Kompass in die Hand und wandte mich nach Norden. Das wird ja wohl zu schaffen sein, dachte ich. Sind doch nur fünfundzwanzig Kilometer.

Aber sobald ich mich wieder in Bewegung setzte, schwand die Zuversicht. Eigentlich hätte ich erleichtert darüber sein müssen, frei in jede Richtung gehen zu können, nachdem ich mich mein Leben lang in der strengen Enge von Pfaden und Wegen – von den Wanderwegen der Wildnis bis zu den Laufbändern der Flughäfen – bewegt hatte. Nein, im Gegenteil. Bei jeder zu treffenden Entscheidung durchfuhr mich ein Basston der Angst. Ich war allein und mein einziges Kommunikationsmittel eine vom Park ausgehändigte Funkbake, die aussah wie eine große Plastikpille mit herabbaumelndem Kabel. Damit könne man mich aufspüren, hatte man mir versichert, falls der Ranger vierundzwanzig Stunden nach meiner geplanten Rückkehr noch nichts von mir gehört habe. Das Gerät schien mir wunderbar geeignet, um Leichen zu bergen.

Noch qualvoller indes war die schiere Zahl winzigster Entscheidungen, die ich an jeder Ecke fällen musste. Mochte ich auch eine ungefähre Vorstellung von der Richtung meines Ziels haben, so musste ich doch unzählige Male eine Wahl aus dem Moment heraus treffen: ob ich bergauf oder bergab gehen sollte; ob dieser oder jener Grassoden mein Gewicht tragen würde, während ich auf Zehenspitzen durch ein Sumpfgebiet tapste; ob ich am Seeufer über die Steine hüpfen oder mich lieber durch den Busch schlagen sollte. In jeder Landschaft führen wie in einem mathematischen Beweis unzählige Wege zur Lösung, wobei manche elegant sind und andere nicht.

Ungleich schlimmer noch machten meine navigatorische Pein die neufundländischen »Tuckamore« – Haine aus windgebeutelt zwergenhaften Fichten und Tannen. Aus der Ferne glichen sie einer dichtgedrängten Schar buckliger, krallenhändiger Hexen. Wie in den meisten Zwergwäldern können die Bäume hier jahrhundertelang wachsen, ohne auch nur Kinnhöhe zu erreichen. Doch was ihnen an Höhe fehlt, gewinnen sie an Widerstandskraft.

Unzählige Male kam ich auf meiner Wanderung an eine Stelle, wo der Weg zu meinem nächsten Ziel von einem solchen kleinen Tuckamore versperrt war. Dann sah ich auf die Uhr, merkte mir die Zeit und schätzte, in zehn Minuten würde ich den Hain wohl durchquert haben. Ich atmete tief ein und trat in den dunkelgrünen Niederwald. Es war buchstäblich ein Albtraum. Urplötzlich stand ich in Düsternis und Chaos. Mit jedem Schritt, den ich mich durchs Dickicht kämpfte, kratzten mir Äste rote Scharten in die Haut und zerrten an den Wasserflaschen in den Seitentaschen meines Rucksacks. Frustriert versuchte ich, auf die Bäume zu treten, um sie zu brechen oder zumindest zu strafen, aber vergebens; unversehrt bogen sie sich zurück. Da und dort bildeten Abdrücke von Elchen oder Rentieren einen schmalen, schlammigen Wildwechsel, der aber bald wieder verblasste oder abschweifte. Als sich zu meiner Linken eine sonnige Lücke auftat, lief ich darauf zu, nur um an einem Schlammloch zu enden. Es war wie in einem Labyrinth, das mir keine andere Wahl ließ, als wieder und wieder mit gesenktem Kopf durch die Wand zu laufen.

Irgendwann trat ich erschöpft und blutend wieder hinaus. Der Blick auf die Uhr führte mir vor Augen, dass eine ganze Stunde vergangen und ich kaum fünfzig Meter vorangekommen war.

Mit der Zeit lernte ich, mich durch die Irrgärten zu winden, indem ich das Bewegungsverhalten der Elche nachahmte. Einer ihrer Tricks bestand darin, den Wasserrinnen zu folgen, die zwar schlammig sind, aber oft den zielführendsten Weg durchs Dickicht weisen. Außerdem treten Elche mit hohem Bogen auf, sodass sie die Zweige niederdrücken können. Diese Technik perfektionierend, kam ich zu meiner größten Offenbarung: Gegen Ende der Wanderung fand ich heraus, dass es das Beste war, dem gesunden Menschenverstand zu entsagen und mir gerade die dichtesten Tuckamore auszusuchen, um mich darin in die Höhe zu wuchten und wie ein Wuxia-Krieger über den Baumwipfeln zu laufen.

Zur Abenddämmerung des zweiten Tages war ich mindestens drei Kilometer vom Kurs abgekommen. Schon für die fünfundzwanzig Kilometer hatte ich einen ganzen Tag länger gebraucht als erwartet, und nicht eine Nacht hatte ich auf ebenem Boden oder in der Nähe einer Wasserquelle geschlafen.

Die ganze Nacht fiel leichter Regen. Kurz vor Sonnenaufgang erwachte ich in meinem Lager hoch oben auf einem Berggrat und sah ein breites Band hyazinthfarbenen Himmels auf mich zukommen. Anfangs hielt ich dieses herrliche Bild für eine Wolkenlücke und legte mich wieder schlafen. Doch als ich gerade zurück in den Schlafsack steigen wollte, fiel mir auf, dass der violette Streifen von feinen Blitzen geädert war. Was ich da sah, war kein klarer Himmel, sondern eine riesige, sich über den gesamten Horizont erstreckende Gewitterwolke, der ein leises Verdauungsgrummeln entfuhr.

Keine halbe Stunde später stürmte die Gewitterwolke über mich hinweg. Regen peitschte durch die Luft. Aus Angst vor einem Blitzschlag stieg ich aus dem Schlafsack, krabbelte unter der...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2020
Übersetzer Frank Sievers
Sprache deutsch
Original-Titel On Trails. An Exploration
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ameisenstraßen • Appalachian Trail • Cherokee Pfade • Cheryl Strayed • Entdecker • erling kagge • Fernwanderer • Fernwanderwege • Geschenk Fernwanderer • Geschenk für Wanderer • Mensch und Natur • Natur • Nature writing • NATURSCHRIFT • Pfad • rebecca solnit • Reiseliteratur • Robert Macfarlane • Wanderlust • Wandern • Weg • Wege • Wild
ISBN-10 3-458-76712-6 / 3458767126
ISBN-13 978-3-458-76712-1 / 9783458767121
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