Bergland (eBook)
288 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-27222-7 (ISBN)
Die bewegende Geschichte einer Bergbauernfamilie in den Alpen über drei Generationen
»Wer in diesen Zeiten eine kleine Auszeit vom nervigen Alltag braucht und Urlaub vom hier und jetzt machen möchte, der sollte mit diesem Buch nach Südtirol reisen.« Mike Altwicker, Buchhandlung Hansen&Kröger
Südtirol in den vierziger Jahren: Im abgelegenen Tiefenthal staunen selbst gestandene Bauern, als ihnen eine junge Frau vormacht, wie man einen Hof ganz alleine durchbringt. Rosa heißt die Frau, die die Natur versteht und lenkt, als habe sie nie etwas anderes getan. Mit aller Macht stemmt sie sich gegen den Fortschritt, der ihr kleines Reich in den Bergen bedroht.
Zwei Generationen später sind Rosas Enkel Hannes und seine Frau Franziska auf Feriengäste angewiesen, um den Hof zu halten. Als nach einem Unglück ihre Zukunft auf dem Spiel steht, erweist sich Rosas Vermächtnis als aktueller denn je.
Jarka Kubsova wurde 1977 in Tschechien geboren, seit 1987 lebt sie in Deutschland. Nach Studium und Volontariat in Hamburg arbeitete sie bei der Financial Times Deutschland, beim Stern sowie bei der ZEIT. Sie ist Ghostwriterin und Co-Autorin mehrerer erfolgreicher Sachbücher. Für ihr Romandebüt »Bergland« lebte sie sieben Monate lang auf einem Bauernhof in Südtirol.
Tiefenthal
Das Dorf lag in den südlichen Alpen zwischen narbigen Felsen und zackigen Wäldern, und sein Name war Tiefenthal. Ein richtiges Dorf war es eigentlich gar nicht, denn anders als viele Dörfer hatte es keinen Mittelpunkt. Die Häuser waren nicht um eine Kirche herum gebaut und auch um keinen Marktplatz, auf dem ein Brunnen sprudelte. Die meisten Häuser des Tiefenthals verteilten sich auf den steilen Kämmen und Bergflanken ringsum. Einer bestimmten Ordnung folgten sie dabei nicht. Eher machte es den Eindruck, als hätte sie jemand wie eine Handvoll Saatgut im weiten Bogen über den Hängen ausgeworfen, wo sie dann in zufälligen und unterschiedlich großen Abständen zueinander gewachsen waren. Dieser Eindruck wurde dadurch verstärkt, dass sie sich – obwohl sie dort oben das einzig Menschengemachte waren – zwischen den Felsen und Wäldern ganz natürlich einfügten. Und zwar ohne Ausnahme, denn alle Häuser glichen einander; weiße Sockel mit Holzblockbau, auf dem die Lärchenschindeldächer saßen wie Vögel mit ausgestreckten Flügeln. Was sich bewährte, das behielten die Tiefenthaler bei. In der Regel standen zwei Häuser dieser Erscheinung nah beisammen, wobei das eine das Wohngebäude war und das andere der Stall. Ein jeder da oben war Bauer, und der typische Tiefenthaler Paarhof machte weithin sichtbar, dass man das Leben seines Viehs nicht viel geringer schätzte als das eigene.
Am höchsten gelegen, inmitten der steilsten Wiesen der Tiefenthaler Berge, war der Innerleithof. Blickte man vom Tal hinauf, musste man den Kopf weit in den Nacken legen. Unterhalb des Bauernhauses wuchsen einige alte Eschen. Im Winter, wenn sie nur mehr buckelige schwarze Stämme waren, konnte man aus einem gewissen Abstand nicht sicher sagen, ob da oben Menschen oder Bäume in der Wiese standen. Und ebenfalls aus etwa diesem Abstand konnte man meinen, dass hinter dem Hof die Welt endete. Rückseitig lag ein breiter Streifen Wald, aus dem spitzer Fels ragte, im Winter weiß, im Sommer grau, und dahinter kam nur noch der Himmel.
Dort oben am Berg wohnte die Innerleit Rosa. Man sah sie oft auf den Wiesen, und von den Tiefenthalern musste keiner zweimal schauen, um sie zu erkennen. Außerdem, wer sollte dort oben schon sein? Sie war ja ganz verwaist geblieben. Man sah sie ackern und Holz schlagen, man sah sie die Schweine füttern und den Gemüsegarten umstechen, das nickende blonde Pferd vor dem Pflug den Hang rauf- und runtertreiben und schwarze Furchen in den graspelzigen Bergrücken reißen. Da schuftet sie schon, die Innerleit Rosa, sahen die Menschen im ersten Morgenschimmer. Da schafft sie noch immer, im letzten Licht. Johan Breitenbergers Tochter, mit der keiner gerechnet hatte. Für die dieser Hof gar nicht bestimmt gewesen war, vom Vater. Und die ihn am Ende so bewirtschaftete, als ob es eine Bestimmung war, vom lieben Gott. Schön war sie und machte sich nichts draus, dürr war sie und lud das Heufuder wie ein Knecht. Schmales Gesicht, breite Hände: das Breitenberger Bauernerbe seit Jahrzehnten. Man sah sie nicht weinen oder in die Dunkelheit starren. Vielleicht tat sie das auch, drinnen, in der niedrigen Stube aus goldbraunem Holz. Aber dabei sah sie keiner.
Viele Jahre später, der Hof war noch derselbe, aber die Zeiten waren andere, hatte jemand eine Tafel neben die Eingangstür des Bauernhauses geschlagen. Höchster Kornhof des Tiefenthals stand darauf geschrieben, was die Besucher beeindrucken sollte. Korn war da schon lange keins mehr gewachsen auf dem Innerleit. Als dies noch der Fall war, hätte sich wohl keiner damit gerühmt. Unnötig wäre es außerdem gewesen. Denn wer hier den Namen eines Hofes kannte, der kannte auch den ganzen Rest; wie hoch der lag, wie steil die Wiesen waren, was der Boden taugte. Und was die Menschen, die dort lebten. Jeder wusste, dass zum Mayernhof ein Stück Wald mit dem besten Holz gehörte. Am Niederlahner brachte der Boden mehr Steine als Erdäpfel hervor. Am Egghof stand die größte Mühle. Dem Finailhof hatte eine Lawine zwei Kinder auf dem Schulweg begraben. Die Bastele Anna konnte krankes Vieh mit Kräutern und Beschwörungen heilen. Der Marsoner lag auf der Schattenseite und sah von November bis April keine Sonne, und vom Innerleit wusste jeder im Tiefenthal, dass er hart an der Anbaugrenze stand. Und was das bedeutete. Je nach Hof hatte man es schwer oder leicht, wurde man zäh oder verrückt, konnte man ackern wie ein Gaul, hatte einen krummen Rücken von der Bückerei auf dem Feld oder Melkerknoten an den Händen von der Schufterei im Stall. Du konntest einen Namen haben, aber es war der Name deines Hofes, der dir eine Geschichte und eine Identität gab. Deshalb fragte man im Tiefenthal nicht etwa: Wie heißt du? Man fragte: Von welchem Hof kommst du? Und wenn man es sagte, dann wusste der andere alles über dich.
Am Innerleit kam der Winter früher und verzog sich spät. Oft war die Erde bis in den April vom Frost noch hart wie Knochen, während andere weiter unten schon das erste Grün auf der Wiese sprießen sahen. In manchem Jahr holten die Menschen da oben ihre Kartoffeln aus dem Schnee. Und doch hatte der Innerleithof eine lange Reihe von Breitenbergern hervorgebracht. »Viele Hände, hat die Arbeit bald ein Ende«, hatte Rosas Mutter Moidl immer gesagt, wenn im Juli die meiste Arbeit am Hof anfiel; den Rechen in der Hand, ihr warmes Lächeln im Gesicht stand sie in der Wiese. Das Korn war zu schneiden, das Heu zu wenden, das Vieh zu hüten. Aber viel antreiben musste sie ihre Kinder nicht. Zwei Jungen hatten sie zuerst bekommen, Toni und Karl. Und dass nach denen drei Mädchen folgten, war dann auch in Ordnung gewesen. Auf einem Bauernhof hing das Schicksal daran, ob einer der Erste oder der Letzte war, ob Junge oder Mädchen, ob man der wurde, der alles bekommt, oder ein Weichender, der leer ausgeht oder abgegolten wird. Einen Stammhalter zu haben war gut, einen weiteren in der Reserve noch besser. Man wusste ja nie, was noch kam. Ob der Zufall, das Schicksal oder der Herrgott sich nicht noch etwas ausdenken, ein Fieber, einen Unfall, eine Liebschaft, und die Würfel nochmals geschüttelt wurden und jeden auf einen neuen Platz verwiesen. In den meisten Fällen aber fügte es sich gut, auf den Höfen im Tiefenthal gab es viele Kinder, und ein, zwei Buben waren immer mindestens darunter. Dass es jemanden so hart traf wie den Oberhofer Sepp, der fünf Mädchen hatte und noch ein sechstes bekam, und von da an die Kirche am Sonntag im Stechschritt verließ, um schneller zu sein, als ein spöttischer Spruch ihn hätte treffen können, das war eine eher seltene Geschichte.
Johan Breitenberger dagegen konnte sich in dieser Hinsicht gerademachen. Seine Söhne führte er früh an die Arbeit heran, drückte ihnen Rechen und Mistgabel in die Hand, kleine geschnitzte Versionen, zum Spielen waren die gedacht, aber einen Zweck hatten sie auch. Die Tiefenthaler Eltern schauten genau, wie ihre Kinder damit umgingen. Aufmerksam und prüfend, wie man auf den Acker schaut, auf dem man gerade den Roggen oder Weizen ausgesät hat und den man hoffnungsfroh abschreitet, während man darauf wartet, dass es aufkeimt. Denn dann kann man anfangen, nach Hinweisen zu suchen, nach einem ersten sicheren Zeichen, ob es eine gute Ernte geben wird. Und so schaute man auch auf die Kinder und fragte sich heimlich: Taugt der was? Wächst er grade? Ist er stark? Man schaute, ob einer die Kälber im Griff hatte oder sich von ihnen in die Ecke drängen ließ. Vor allem auf die Buben schaute man auf diese Weise. Und wenn dann Toni oder Karl riefen: »Schau, ich kann schon mahn!« oder: »Ich kann schon Erdäpfel setzen!«, entgegnete man ihnen: »Aus dir wird mal ein großer Bauer!« oder: »Oh, was bist du tüchtig!« Das waren dann so Sprüche, die man seinen Jungen sagte, aber Sprüche mit einem Sinn dahinter waren es auch, als Lob verpackte Beschwörungen.
Johan Breitenberger gab nicht nur bei seinen Pflanzen acht, wie sie sich entwickelten. Er nahm seine Buben mit auf den Acker, kaum dass sie laufen konnten. Sie folgten ihm in den Wald, sie folgten ihm in den Stall, hüteten das Vieh, karrten Mist und Erde und mit feierlichem Ernst im Gesicht Säcke voll Mehl, und wenn er sie prüfend von der Seite ansah, dann konnte er als Mann und Bauer zufrieden sein. Um seine Jungs wusste Breitenberger sich zu kümmern, bei den Gitschen fiel es ihm schwerer, das überließ er lieber Moidl. Sie wies sie in die Hausarbeit ein, lehrte sie, wie man aus Asche, Fett und Lärchenharz Seife kochte. Sie half ihnen vor Feiertagen mit den Kleidern und Flechtfrisuren, an denen sie eine seltsame Freude hatten, die Breitenberger ein Geheimnis blieb. Und wenn die Arbeit ein Ende hatte, dann ließen die Eltern ihre Kinder laufen. Im Sommer suchten sie die besten Himbeerplätze, stiegen zu den Drei Seen hoch und sprangen hinein, bauten Hütten mit Moosdächern im Wald, ließen im Wildbach die Rindenboote davonrasen, rannten hinterher und wer eins einfing, hatte gewonnen.
Moidls Hände waren dann die ersten, die fehlten. Zu Weihnachten bekam sie plötzlich hohes Fieber, und zu Neujahr lag sie schon in der Stube aufgebahrt. Später, unten an der Kirche, sagte Breitenberger zu den Totengräbern: »Das mach ich selbst«, ließ sich von ihnen eine Schaufel geben und schüttete das Grab seiner Frau mit den eigenen Händen zu. Rosa stand nah genug dran. Wie es klingt, wenn Erde auf Holz fällt, würde sie nie vergessen können, und auch nicht das Ächzen, das Johan Breitenbergers Brust dabei entfuhr. Sie hatte ihn Bäume zerteilen und Zaunpfosten einschlagen sehen, aber noch nie hatte sie ein solches Geräusch von ihm gehört. Später kam es ihr so vor, als hätte der Vater sich seither nie wieder ganz aufgerichtet. Wenn Johan Breitenberger...
Erscheint lt. Verlag | 24.5.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alpen • Bergdorf • Dörte Hansen • Dörte Hansen, Mittagsstunde • eBooks • Ein ganzes Leben • Familiengeschichte • Ferien auf dem Bauernhof • Juli Zeh, Unterleuten • Karina Kalisa, Bergsalz • Marschlande • Meran • Milchhof • Paolo Cognetti • Robert Seethaler • Robert Seethaler, Ein ganzes Leben • Roman • Romane • Südtirol • Tourismus • Ultental |
ISBN-10 | 3-641-27222-X / 364127222X |
ISBN-13 | 978-3-641-27222-7 / 9783641272227 |
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