Mit Herz und Mund und Tat und Leben (eBook)
352 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30310-0 (ISBN)
Jürgen Flimm, geboren 17. Juli 1941, gestorben am 4. Februar 2023, war Professor für Regie an der Hamburger Universität und war Mitglied der Akademie der Künste (Berlin), der Freien Akademie der Künste Hamburg und der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Von 1999 bis 2013 Präsident des Deutschen Bühnenvereins. Er wurde für seine Arbeit vielfach geehrt, u.a. mit dem Bundesverdienstkreuz und dem österreichischen Kreuz für Kunst und Wissenschaft.
Jürgen Flimm, geboren 17. Juli 1941, gestorben am 4. Februar 2023, war Professor für Regie an der Hamburger Universität und war Mitglied der Akademie der Künste (Berlin), der Freien Akademie der Künste Hamburg und der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Von 1999 bis 2013 Präsident des Deutschen Bühnenvereins. Er wurde für seine Arbeit vielfach geehrt, u.a. mit dem Bundesverdienstkreuz und dem österreichischen Kreuz für Kunst und Wissenschaft. Sven-Eric Bechtolf arbeitete als Schauspieler u. a. in Zürich, Bochum und Hamburg und war viele Jahre am Burgtheater in Wien tätig. Als Regisseur inszenierte er für Theater und Oper. Darüber hinaus ist er als Darsteller im Film und in TV-Produktionen zu sehen.
Die beste Großmutter und der kleine Junge
Prolog
Lauf, sagte sie. Den langen Stock hatte er noch rasch hinter die grüne Eisentür gelehnt und war schleunigst noch einmal fortgesprungen, unten am Wasser hatte der Heinz eine grüne Schlange gesehen. Er eilte klopfenden Herzens, eine Schlange! Wie die sich wohl anfühlte, grün und glitschig, kalt und warm, ob sie beißen würde? Eine Weile stand er da und schaute. Bald aber langweilte er sich, diese doofen Fische, der blöde Heinz!
Heinz hockte auf einem runden Stein mitten im Bach, schaute in das Wasser, sah kurz auf, legte seinen schmutzigen Zeigefinger vor den Mund und griff plötzlich nach den flinken Fischen, die ihm aber entwischten. Und die Schlange?, rief er hinüber. Heinz schüttelte ärgerlich den Kopf, also machte er kehrt, trödelte eine kleine Weile die Straße entlang, wich einem Zug blöder Kühe aus, kletterte behände und gekonnt den steinigen Hang zur Jugendherberge hoch und hüpfte rechts auf den Weg. Da sah er sie.
Sie standen gebückt vor der grünen Tür und schauten, ein großer Haufen großer Menschen. Dann richteten sich alle auf und schauten auf ihn. Ihm wurde mulmig, er begann zu laufen und keuchte den kleinen Weg hoch. Da hast du ja was Schönes angerichtet, rief man ihm entgegen.
Elsbeth, seine liebe Oma, lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden, in ihrem leichten grauen Sommerkleid mit der matten Silberbrosche. Sie blinzelte ihm zu, das Bein, sagte sie, das Bein hat was abgekriegt. Er kniete sich zu ihr und schaute hoch zu den vielen großen Leuten. Ob das sein Stock sei, fragte jemand streng. Er nickte fassungslos. Ja, der schöne, biegsame, lange, helle, den der Herr Lehner, der von nebenan, der von der Baracke, der mit der alten Soldatenmütze, geschnitten und geschält und geschnitzt hatte, mit seinem alten Brotmesser. Ja, der mit den Kringeln drin und seinem Namen, sonst ohne Rinde, und so glatt und so weiß. Ja, sein Stock, und er wagte nicht, Luft zu holen.
Na, was er da wieder einmal angerichtet habe! Seine Mutter käme auch aus der Stadt, gerade habe man sie angerufen, dann könne er ja was erleben! Er blickte zu dem Elschen, das lächelnd am Boden lag. Es tut nicht weh, du kannst nichts dafür, weine nicht. Natürlich, sagte wieder jemand von oben herab, hätte er den Stock nicht so dumm hingestellt, wäre der ja nicht gekippt und Sie wären auch nicht drüber gestolpert, Frau Professor! Seine eigene Großmutter! Ich bin doch nicht dumm, dachte er. Elschen lachte. Er ist doch nicht dumm, sagte sie, er wollte doch nur schnell zum Bach hinunter wegen der Schlange, sie seufzte und machte eine kleine Bewegung. Tut es weh?, fragte oben jemand. I wo, sagte sie. Er hielt ihre Hand. Ich wollte doch nur noch runter zum Bach, Heinz hatte doch die Schlange gesehen, die war aber schon weg, und der Heinz saß mitten im Bach und griff nach den Fischen. Weißt du, da bin ich doch gleich zurück. Du hast doch auch gesagt, es dauert noch was mit dem Abendessen, ich habe mich doch auch beeilt, wie du es mir gesagt hast. Ihm liefen die Tränen runter, er plapperte, redete und beim Plappern und Reden verließ ihn die Angst. Sie lächelte und blinzelte und hielt seine kleine schmutzige Hand. Ja, mein Kleiner. Bleiben Sie ruhig liegen, Frau Professor, sagte jemand. Wir schauen, wo das Auto bleibt. Die großen Menschen eilten fort, er stand auf und trottete ihnen nach. Dann, plötzlich, durchfuhr es ihn, er stürzte zurück, welches Auto? Ich muss ja ins Krankenhaus, sagte Elschen, wegen des Beins, ich kann ja nicht für alle Ewigkeit hier liegen bleiben. Steh doch auf, wagte er zu sagen, ich helfe dir, ich kann das, du wirst schon sehen. Nein, das schaffen wir beide nicht, da müssen wir schon ein bisschen warten. Er hockte sich nieder, den Kopf auf den Knien, und sah sie an. Eine siedend heiße Welle. Schreckliche Angst stieg in ihm hoch. Ganz kaputt, flüsterte er, als ständen die großen Menschen noch böse um ihn herum. Sie seufzte wieder, der Wagen kommt ja bald.
Der weiße Wagen kam den steilen Weg hochgewackelt. Die großen Menschen wiesen wichtig den Weg, hier lang. Neben der hohen Buche hielt er, weiße Männer sprangen heraus. Aua, aua, rief Elschen, als sie sie hochhoben und auf die Trage legten.
Tut’s weh?, stammelte er. Geht schon, lächelte sie ihm zu und verschwand im langen Auto. Winkte noch mal mit beiden Händen, auf denen die blauen Adern hervortraten. Er blieb hocken, den Kopf wieder zwischen seinen Knien versteckt, sah und hörte nichts mehr.
Die Männer schlossen die Tür des weißen Autos, da stand er schnell auf, stellte sich auf die Zehenspitzen, durchs Milchglas hindurch sah er undeutliche Schatten. Das sei sicher der Oberschenkelhals, bei alten Leuten nicht mal so ungefährlich, sagte jemand über ihm. Wie sollte er das denn verstehen, Hals am Bein. Der weiße Wagen ruckelte langsam rückwärts den steinigen Weg hinunter. Er riss sich los, rannte und kletterte in Windeseile die dicke Buche hoch.
Unten auf der heißen Straße sah er das weiße Auto, wie es kleiner wurde, auf die Biegung zufuhr, langsam um die nächste Ecke ruckelte, wie es immer länger wurde und sich fast auseinanderzog, nun schien es fast stehen zu bleiben, das rote Kreuz auf den milchigen Schreiben zitterte ihm laut entgegen.
Schwupp, verschwand es hinter der Kurve. Er wollte es festhalten, er schrie ganz laut, hieb mit seinen schmutzigen Fäusten auf das alte Brett des Baumhauses, die Tränen liefen ihm die Backen hinunter. Sie kommt ja zurück, rief irgendeiner zu ihm hoch, jetzt hör doch auf mit dem blöden Geflenne.
Er kletterte immer höher in die alte Buche, schließlich saß er oben in einer schwingenden Gabel und wiegte sich sanft. Da saß er bis zum milden Abend und dachte sich um die vermaledeite Ecke, schwang sich über diese ferne gewundene Linie der Berge hoch in die weißen weichen Wolkengebirge und wartete, dass sie wiederkäme, dass der wackelige weiße Wagen sich wieder zeigte, hinter den Bergen, geradewegs rückwärts wieder erschiene, dort an dieser Biegung, an der scharfen Ecke, hinter der nichts als eine böse schwarze Nacht war. Er saß da und wiegte sich leicht, und der Abend war gekommen, und er wusste sich nicht zu lassen. Unten rief irgendeiner – Johannes! –, und er wollte nicht antworten, so war er auf einmal einfach gar nicht da. Ihr Lied fiel ihm ein, das er immer mit ihr gesungen hatte, und er summte vor sich hin, erst leise, und dann rief er es immer lauter, er rüttelte an den Ästen, dass die braunen Bucheneckern hinuntersausten: Kasperle Kartöffelchen, kann ich in der Schule was? Ja oder nein, er schüttelte mit dem Kopfe, oh mir armen Tropfe.
Langsam stieg er von der hohen Buche hinunter. Das Türchen vom Hasenstall stand offen, in der Ecke lag noch frisches Gras. Der kommt auch nicht wieder, schluchzte er. Ich kauf dir doch einen neuen, hatte sie am Morgen noch gesagt, als er fassungslos vor der leeren kleinen Kiste stand, da war er auf das nächste Feld gezogen und hatte schon einmal Gras abgezupft und grünen Klee. Vielleicht hat er ja Hunger, hatte er schlau gedacht, dann kommt er doch wieder zurückgehoppelt. Nun schloss er das Drahttürchen, steckte das kleine Hölzchen in die Schlaufe. Warum sollte der auch wiederkommen? Vielleicht hatte ihn schon längst jemand gegessen, die da von der Baracke, denen Elsbeth auch manchmal eine Suppe brachte. Er nahm den Stock in die Hand, er zerbrach ihn, hieb mit den Resten nach dem verschwundenen Hasen, prügelte auf das Moos und blieb erschöpft sitzen.
Es gab Essen, er flegelte sich an den Tisch, seine Mutter sprach mit ihm kein Wort, stumme Vorwürfe, Stille, Schweigen. Wenn du auf die Schule kommst, sagte seine Mutter, dann werden dir die Flausen vergehen. Und so kam es, dass sein kleines Leben in einen großen Tornister gepresst wurde.
Mein Onkel Kurt war ein feiner und lustiger Mann. Er hatte sich schon in jungen Jahren der Musik verschrieben und promovierte über Hugo Wolf und wurde Musikkritiker. Nach dem Krieg schrieb er für die »Mainzer Allgemeine Zeitung« und verliebte sich rasch in die Orgel des Mainzer Doms. Der Organist Heino Schneider wurde sein Freund und der Onkel sein gelehriger Schüler. Max Reger war sein Prophet.
Ich saß still auf einer Ecke der Orgelbank und hörte gebannt und ehrfürchtig zu, wie es brummte, pfiff, stöhnte und tirilierte, sah, wie seine Hände auf den Manualen herumsausten, die Finger die Tasten in Windeseile rauf- und runterdrückten, die Beine die Pedale traten und wie er in den kurzen Atempausen die Register zog und schob. Sein Körper wippte im Takt, und seine Augen waren nach innen gekehrt, er sah mich nicht mehr. War dieses himmlische Getöse dann irgendwann verhallt, drückte er mich fest und lachte: Ja, das ist die Königin der Musik, die Orgel. Das war einfach ganz großartig.
Onkel Kurt, der Journalist und Organist, wurde von seiner Zeitung befördert und leitete bald als »Chef vom Dienst« den »ganzen Laden«, wie er lachte. Nun konnte er nicht mehr so viel reisen, seine Besuche nahmen leider ab, und wir vermissten ihn.
Aber der gute Kurt ließ uns nicht im Stich: Er schickte uns, wenn er nun öfter durch das Redaktionsabschlussgewühl verhindert war, seine Pressekarten zu. Der Kölner Konzertveranstalter forderte freilich regelmäßig Belege der Rezensionen. Da können wir nicht helfen, meinte die Großmutter Elsbeth fröhlich, aber wir werden fleißig klatschen!
Es war jedes Mal ein langer Weg vom rechtsrheinischen Vorort Dellbrück zum Applaus in die Albertus-Magnus-Universität, die vom Oberbürgermeister Adenauer 1919 im feinen Lindenthal gegründet worden war. Köln war im...
Erscheint lt. Verlag | 11.1.2024 |
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Vorwort | Sven-Eric Bechtolf |
Zusatzinfo | 2 s/w Abb. |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Biografie • Erinnerungen • Kölner Schauspielhaus • Kultur • Kulturgeschichte • Regisseur • Ruhrtriennale • Staatsoper Unter den Linden • Thalia Theater • Theater • Tod • Todestag |
ISBN-10 | 3-462-30310-4 / 3462303104 |
ISBN-13 | 978-3-462-30310-0 / 9783462303100 |
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