Kreutzersonate (eBook)

Novelle - Penguin Edition (Deutsche Ausgabe)

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
208 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-26846-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kreutzersonate -  Leo Tolstoi
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Tolstois Skandalwerk
Auf einer nächtlichen Zugreise treffen die unterschiedlichsten Fahrgäste aufeinander. Zwischen ihnen entspinnt sich eine angeregte Diskussion über Liebe und Ehe, Moral und Gesellschaft - und über dunkle Geheimnisse. Ermutigt von den persönlichen Geschichten legt der ehemalige Gutsbesitzer Posdnyschew ein schockierendes Geständnis ab: Getrieben von maßloser Eifersucht bezichtigte er seine Frau der Untreue und sah keinen anderen Ausweg, als eine schreckliche Tat zu begehen ...

Leo Tolstois Novelle wurde zu einem Skandal, da er mit seiner Darstellung von Sexualität ein Tabu der prüden Literatur des 19. Jahrhunderts brach.

PENGUIN EDITION. Zeitlos, kultig, bunt. - Ausgezeichnet mit dem German Brand Award 2022

Leo Tolstoi (1828-1910) entstammte einem alten russischen Adelsgeschlecht. Nach ausgedehnten Reisen durch Europa zog er sich auf sein Familiengut Jasnaja Poljana zurück und verfasste dort seine berühmten Romane und Erzählungen

I

Es war im Vorfrühling. Wir waren den zweiten Tag unterwegs. Passagiere, die kürzere Strecken fuhren, betraten und verließen den Waggon, drei aber fuhren wie ich schon seit dem Ausgangsbahnhof mit: eine hässliche, nicht mehr junge, zigarettenrauchende Dame mit erschöpftem Gesicht, in einer Art Herren-Paletot und Pelzkappe, ihr Bekannter, ein redseliger Mann um die vierzig in tadellosen neuen Kleidern, und, etwas abseits von den anderen, ein eher kleiner, fahrig wirkender Herr, noch nicht alt, doch mit offenbar vor der Zeit ergrautem lockigem Haar und ungewöhnlich glänzenden Augen, die schnell von einem Gegenstand zum anderen huschten. Er trug einen alten, von einem teuren Schneider gearbeiteten Mantel mit Persianerkragen und eine hohe Persianermütze. Wenn er den Mantel aufknöpfte, kamen darunter eine seitlich geschlossene Weste und ein besticktes Bauernhemd zum Vorschein. Auffällig an ihm war auch, dass er ab und zu seltsame Geräusche von sich gab, die wie Räuspern oder wie ein aufkommendes und wieder abgebrochenes Gelächter klangen.

Dieser Herr vermied es die ganze Fahrt über sorgfältig, mit den Mitreisenden ins Gespräch zu kommen und ihre Bekanntschaft zu machen. Wenn seine Sitznachbarn ihn ansprachen, antwortete er kurz und schroff, er las oder rauchte und sah dabei aus dem Fenster, oder er holte aus einem alten Reisesack seinen Proviant hervor und trank Tee oder aß etwas.

Mir schien es, als leide er unter seiner Einsamkeit, und ich wollte ihn mehrere Male ansprechen, doch sooft unsere Blicke sich trafen, was häufig geschah, da wir einander schräg gegenübersaßen, wandte er sich ab, nahm ein Buch zur Hand oder sah aus dem Fenster. Als unser Zug gegen Abend des zweiten Tages an einem großen Bahnhof hielt, ging er heißes Wasser holen und kochte sich Tee. Der Mann mit den tadellosen neuen Kleidern, ein Rechtsanwalt, wie ich später erfuhr, ging mit seiner Begleiterin, der rauchenden Dame im Quasi-Herrenmantel, im Bahnhof Tee trinken.

In ihrer Abwesenheit stiegen einige neue Personen in den Wagen ein, darunter ein hochgewachsener, glatt rasierter, runzliger Alter, offenbar Kaufmann, der einen Iltispelz und eine Stoffmütze mit riesigem Schirm trug. Der Kaufmann setzte sich auf den Platz gegenüber jenem der Dame und des Anwalts und begann sofort eine Unterhaltung mit einem jungen Mann, allem Anschein nach einem Kaufmannsgehilfen, der ebenfalls neu zugestiegen war.

Ich saß schräg gegenüber, und weil der Zug stand, konnte ich in den Momenten, da niemand vorbeiging, bruchstückhaft ihre Unterhaltung hören. Der Kaufmann verkündete zunächst, er fahre auf sein Gut, das nur eine Station entfernt liege; dann kam das Gespräch wie immer zuerst auf Preise und Geschäftliches, wie immer sprachen sie darüber, wie in Moskau zurzeit das Geschäft gehe, und über die Messe in Nishni Nowgorod2. Der Kommis erzählte, was für Gelage irgendein beiden bekannter reicher Kaufmann anlässlich der Messe veranstaltet hatte, doch der Alte ließ ihn nicht ausreden, sondern begann seinerseits von Gelagen in Kunawino zu erzählen, bei denen er früher dabei gewesen war. Er war offenbar stolz darauf und erzählte mit sichtlicher Freude, wie ebenjener Bekannte und er damals einmal in betrunkenem Zustand einen solchen Streich ausgeheckt hätten, dass man gar nicht laut davon erzählen könne, worauf der Kommis so schallend lachte, dass man es im ganzen Wagen hörte, und auch der Alte lachte und bleckte dabei zwei gelbe Zähne.

Da ich mir hier weiter nichts Interessantes erwartete, beschloss ich, bis zur Abfahrt auf dem Bahnsteig auf und ab zu spazieren. In der Tür begegneten mir der Anwalt und die Dame, die sich im Gehen angeregt unterhielten.

«Sie sind zu spät», sagte der gesprächige Anwalt zu mir, «gleich wird es zum zweiten Mal klingeln.»

Und tatsächlich war ich nicht einmal bis zum Ende des Zuges gegangen, da ertönte schon das Klingelzeichen. Bei meiner Rückkehr fand ich die Dame und den Anwalt noch immer in angeregter Unterhaltung. Der alte Kaufmann saß ihnen schweigend gegenüber, blickte streng vor sich hin und mahlte ab und zu missbilligend mit dem Kiefer.

«Und dann hat sie ihrem Gatten rundheraus erklärt», sagte der Anwalt lächelnd, während ich an ihm vorüberging, «sie könne und wolle nicht mehr mit ihm leben, denn …»

Er erzählte weiter, aber ich verstand nicht mehr, was er sagte. Nach mir kamen noch andere Passagiere in den Wagen, der Schaffner ging vorbei, ein Eisenbahnarbeiter stürmte herein, und es war recht lange so laut, dass die Unterhaltung übertönt wurde. Als der Lärm sich legte und ich die Stimme des Anwalts wieder hörte, war das Gespräch von einem Einzelfall offenbar zu allgemeinen Erwägungen übergegangen. Der Anwalt sprach davon, wie die Frage der Ehescheidung derzeit die europäische Öffentlichkeit beschäftige und dass es auch bei uns immer häufiger solche Fälle gebe. Als er bemerkte, dass nur noch seine Stimme zu hören war, unterbrach er seine Rede und wandte sich an den Alten: «Früher hat es so etwas nicht gegeben, nicht wahr?», sagte er mit einem liebenswürdigen Lächeln. Der Alte wollte etwas antworten, doch in diesem Moment setzte der Zug sich in Bewegung; der Alte nahm seine Mütze ab, begann sich zu bekreuzigen und im Flüsterton zu beten. Der Anwalt wandte den Blick ab und wartete höflich. Als der Alte sein Gebet beendet und sich dreimal bekreuzigt hatte, setzte er die Mütze wieder auf, zog sie tief in die Stirn, richtete sich auf und begann zu sprechen: «Gegeben hat es das auch früher, gnädiger Herr, nur weniger», sagte er. «Aber heutzutage ist es kein Wunder. Gar zu gebildet sind die Leute geworden.»

Der Zug nahm Fahrt auf und donnerte über die Gleisschwellen, ich hatte Mühe zu verstehen, war aber interessiert, darum rückte ich näher. Auch mein Nachbar, der nervöse Herr mit den glänzenden Augen, war offensichtlich aufmerksam geworden und lauschte von seinem Platz aus.

«Was haben Sie denn gegen Bildung einzuwenden?», sagte die Dame mit kaum merklichem Lächeln. «Ist es etwa besser, wie früher zu heiraten, als Bräutigam und Braut einander vorher nicht einmal kannten?», fuhr sie fort, nach der Gewohnheit vieler Damen nicht auf die Worte ihres Gegenübers antwortend, sondern auf die, von denen sie glaubte, dass er sie sagen würde.

«Einfach irgendwen heiraten, ohne zu wissen, ob man sich liebt oder lieben kann, und sich dann ein Leben lang quälen, finden Sie das besser?», sagte sie und wandte sich dabei offensichtlich an den Anwalt und an mich, keineswegs aber an den Alten, mit dem sie sprach.

«Gar zu gebildet sind die Leute geworden», wiederholte der Kaufmann mit verächtlichem Blick auf die Dame, ohne ihre Frage zu beantworten.

«Man wüsste gern, wie Sie den Zusammenhang von Bildung und Unfrieden in der Ehe erklären», sagte der Anwalt und lächelte kaum merklich.

Der Kaufmann wollte etwas sagen, doch die Dame fiel ihm ins Wort. «O nein, diese Zeiten sind vorbei», sagte sie. Aber der Anwalt bremste sie: «Warten Sie, lassen Sie den Herrn erst seinen Gedanken formulieren.»

«Nichts als Dummheiten bringt diese Bildung», sagte der Alte entschieden.

«Man verheiratet Leute, die sich nicht lieben, und dann wundert man sich, dass sie nicht miteinander auskommen», warf die Dame rasch ein und sah dabei den Anwalt und mich und sogar den Kommis an, der von seinem Sitz aufgestanden war und nun, auf die Rückenlehne gestützt, lächelnd der Unterhaltung lauschte.

«Tiere kann man paaren, wie ihr Besitzer es will, aber Menschen haben ihre eigenen Neigungen und Sympathien», sagte sie, offensichtlich um den Kaufmann zu kränken.

«So soll man nicht reden, gnädige Frau, Tiere sind Vieh, aber dem Menschen ist ein Gesetz gegeben.»

«Aber wie soll man denn mit einem Menschen leben, wenn keine Liebe da ist?», beeilte sich die Dame, weiter ihre Ansichten vorzutragen, die ihr wahrscheinlich sehr originell vorkamen.

«Danach hat man früher nicht gefragt», entgegnete der Alte mit Nachdruck, «das ist etwas Neues. Sobald der Frau etwas nicht passt, sagt sie gleich: ‹Ich gehe.› Sogar bei den Bauern ist das jetzt Mode. ‹Da›, sagt sie, ‹da hast du deine Hemden und Fußlappen, ich gehe zu Wanja, der hat mehr Locken als du.› Was soll man dazu sagen. Fürchten soll sich die Frau, darauf kommt es an.»

Der Kommis sah erst den Anwalt, dann die Dame und dann mich an, er unterdrückte ein Lächeln, jederzeit bereit, über die Worte des Kaufmanns zu lachen oder sie gutzuheißen, je nachdem, wie sie aufgenommen würden.

«Wovor denn fürchten?», sagte die Dame.

«Wovor? Das Weib aber fürchte den Mann!3 So soll es sein.»

«O nein – diese Zeiten sind vorbei, guter Mann», sagte die Dame, nun schon etwas erbost.

«Diese Zeiten können gar nicht vorbei sein, gnädige Frau. Eva wurde aus einer Rippe des Mannes erschaffen, und daran ändert sich bis ans Ende der Zeit nichts mehr», sagte der Alte und warf dabei so streng und siegessicher den Kopf zurück, dass der Kommis sofort beschloss, der Kaufmann habe gewonnen, und laut loslachte.

«Das sind nur die Männer, die so denken», beharrte die Dame mit einem Seitenblick auf uns, «für sich beanspruchen sie Freiheit, aber die Frauen wollen sie in ihre Gemächer einsperren. Sich selbst erlauben Sie doch alles.»

«Erlauben tut niemand etwas, nur schleppt der Mann nichts ins Haus; die Frau aber – das Weib ist ein schwaches Gefäß4», fuhr der Kaufmann fort.

Sein Nachdruck wirkte sichtlich überzeugend auf die Zuhörer; sogar die...

Erscheint lt. Verlag 12.7.2021
Reihe/Serie Penguin Edition
Nachwort Olga Martynova, Oleg Jurjew
Übersetzer Olga Radetzkaja
Sprache deutsch
Original-Titel Krejcerova sonata
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anna Karenina • Beichte • Drama • eBooks • Eifersucht • Frauenhass • Klassiker • Krieg und Frieden • Misogynie • Moral • Penguin Classics • Penguin Classics deutsch • Penguin deutsch • Penguin Edition • Penguin Edition deutsch • Untreue • Weltliteratur
ISBN-10 3-641-26846-X / 364126846X
ISBN-13 978-3-641-26846-6 / 9783641268466
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