Die Alster-Schule - Zeit des Wandels (eBook)

Roman

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
432 Seiten
Blanvalet (Verlag)
978-3-641-26392-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Alster-Schule - Zeit des Wandels -  Julia Kröhn
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Eine neue Art von Schule. Eine neue Art zu lernen. Eine neue Art zu denken und zu fühlen. Bis dunkle Wolken aufziehen und sich eine junge Lehrerin zwischen Anpassung und Widerstand entscheiden muss ...
Hamburg 1931: Ein neuer Geist weht durch die Schulen der Weimarer Republik. Wo einst der Rohrstock regierte, erobern sich die Schüler den Stoff nun mit Kopf, Herz und Hand. Felicitas, die gerade eine neue Stelle als Lehrerin angetreten hat, ist beseelt von den Idealen der Reformpädagogik. Auch Sportlehrer Emil scheint ein Verbündeter zu sein, ist er doch heimlich in sie verliebt. Doch das bürgerliche Leben, das er anstrebt, scheint mit Felicitas' Freiheitswillen nicht vereinbar. Ganz anders sieht es bei ihrer Freundin Anneliese aus, die alles daransetzt, Emil für sich zu gewinnen. Während Annelieses und Emils aufkeimende Zuneigung einen Keil zwischen die Freundinnen treibt, ziehen auch am Horizont der Geschichte dunkle Wolken auf: Die Nazis ergreifen die Macht, und auf dem Schulhof weht die Hakenkreuzfahne. Felicitas und ihre Kollegen müssen eine Entscheidung treffen: Wollen sie zum Dienst am Führer erziehen? Oder ihren Idealen treu bleiben?

Die große Leidenschaft von Julia Kröhn ist nicht nur das Erzählen von Geschichten, sondern auch die Beschäftigung mit Geschichte: Die studierte Historikerin veröffentlichte - teils unter Pseudonym - bereits zahlreiche Romane, die sich weltweit über eine Million Mal verkauft haben. Ihr größter Erfolg hierzulande war »Das Modehaus«, ein Top-20-SPIEGEL-Bestseller; zuletzt widmete sich Julia Kröhn ihrem Herzensthema: den Büchern. In ihrer Dilogie »Die Buchhändlerinnen von Frankfurt« erzählt sie die Geschichte einer Verlagsbuchhandlung aus der Perspektive zweier Schwestern, von der Nachkriegszeit bis zur Studentenrevolte. In ihrem neuen Roman »Papierkinder« errichtet sie den historischen Kinderrechtlerinnen Emma Döltz, Clara Grunwald und Eglantyne Jebb ein fiktionales Denkmal in Form eines mitreißenden Romans.

April


Der Schweiß perlte Emil von der Stirn.

Kein verdienter Schweiß, würde sein Vater sagen. In Gustav Tiedemanns Augen durfte man ins Schwitzen geraten, wenn man die Geschäftsbücher seines Unternehmens durchging – umso mehr, wenn dieses rote Zahlen schrieb. Auch wenn man über die Ländereien ritt, die zu seinem Landgut gehört hatten und die er irgendwann verloren hatte. Und natürlich floss Schweiß in Strömen, wenn man für das Vaterland kämpfte. Emils Bruder Gustav junior war in den Schützengräben des Großen Krieges aber wohl eher schlammverschmiert als schweißüberströmt gewesen. Und als er von einer Granate zerfetzt worden war, war Blut gespritzt.

Ein ehrenvoller Tod, hatte ihr Vater dazu gesagt. Ein ehrenvolles Leben wiederum war keines, das man am Reck zubrachte.

Emil führte dennoch blitzschnell seine Übungen aus. Felgaufschwung, Kippe, Riesenfelge, Kontragrätsche. Er spürte, wie sein Trikot feucht wurde.

»Wann hast du endlich genug?«, rief ihm ein Kollege von der Deutschen Turnerschaft zu.

Emil hielt nicht inne. Hüftaufschwung, Umschwung, Vorschwung, Salto rückwärts. Er spürte einen sachten Schmerz in der Schulter, ignorierte ihn. Es war erst genug, wenn es unerträglich wehtat.

Zumindest diese Haltung hatte Gustav Tiedemann geschätzt, ein weiterer seiner Grundsätze lautete, dass ein jeder Opfer zu bringen hätte. Wobei das, was sein Vater als eigenes Opfer bezeichnete, in Wahrheit bloß eine Ausrede war.

Dass sein Unternehmen nach dem Großen Krieg nicht mehr auf die Beine kam, war in Gustav Tiedemanns Augen immer die Schuld der anderen, nie seine eigene gewesen. Was soll ich denn tun? Deutschland hat seine überseeischen Besitzungen eingebüßt. Was soll ich denn tun? So viele Schiffe gingen als Teil der Reparationszahlungen verloren. Was soll ich denn tun? Die Währung ist so instabil, ich habe keine andere Wahl, als unseren Landbesitz zu verkaufen.

Emil wusste durchaus, was sein Vater hätte tun können. Gelenkiger werden. Gelenkig wie er, der die Bewegungsabläufe am Reck im Blut hatte. Gelenkig wie Jan Meissner, der größte Rivale seines Vaters im Kaffeehandel. Gewiss, Meissner würde am Reck hängen wie ein Hörnchen, aber er war geschäftstüchtig wie kein Zweiter. Ähnlich wie Gustav Tiedemann war er reich geworden, indem er eine Handelsniederlassung an der Mündung des Kamerunflusses gegründet hatte, von dort Kautschuk und Palmöl, später Kaffee importiert hatte. Dieser Kaffee war in Hamburg geröstet, in Tüten verpackt, per Versand samt Zuckerhüten an Hunderte von Haushalten geliefert worden.

Emil machte erneut einen Salto rückwärts vom Reck, fühlte einmal mehr einen sachten Schmerz in der Schulter, kam dennoch mit beiden Beinen auf.

Jan Meissner war nach dem Krieg nicht mit beiden Beinen aufgekommen, er war gestürzt wie alle anderen Kaffeehändler, aber als einer der wenigen hatte er sich wieder aufgerappelt, hatte sich sozusagen erneut aufs Reck geschwungen. Aus dem Welthafen Hamburg war ein Häfchen geworden. Na und? Kaffeelieferungen aus Kamerun waren nicht mehr zu bewerkstelligen, was zählte das schon? Er stellte ein Gemisch aus Zichorien, Getreide, Zuckerrübe und Feigen her und pries dieses Gesöff, das viel bitterer als Kaffee schmeckte, nur ähnlich schwarz war, als Delikatesse an. Und die Hamburger, die während des Krieges weitaus Grässlicheres geschluckt hatten, hatten sich zwar nicht an deren Geschmack erfreut, allerdings am goldenen Firmenlogo, das Erinnerungen an die guten alten Zeiten beschwor. Sie verzichteten sogar auf die Zuckerhüte. Jan Meissner musste bald auf nichts mehr verzichten. Er behielt sein Kontorhaus in der Innenstadt mit der Fassade aus glasiertem Backstein und dem mannshohen Keramikelefanten neben der Eingangstür nicht nur – er vergrößerte es um ein Stockwerk.

Gustav Tiedemann hatte seines dagegen schließen und auch die Statue des bronzenen Stammeskriegers mit Lendenschurz, Speer und Schild, die bei ihm den Eingang bewachte, aufgeben müssen. Als Kind hatte Emil Angst vor diesem Krieger gehabt, später hatte er fasziniert seine geschwellten Muskeln betrachtet. »Muskeln haben die Wilden ja, aber nichts im Hirn«, hatte Gustav Tiedemann damals gesagt. Später hatte er Ähnliches zu ihm gesagt: Muskeln magst du ja haben, aber nichts im Hirn. Du willst wirklich Turnlehrer werden? Pah! Das ist doch kein ordentlicher Beruf!

Dass Emil auch Englisch unterrichten würde, machte für Gustav Tiedemann die Sache nicht besser. Sport war bestenfalls ein Ersatz für die verbotene Wehrpflicht, nichts, womit sich das Leben bestreiten ließ. Und Englisch lernte man, weil es den Handel erleichterte, möglichst viele Sprachen zu beherrschen, nicht, um verwöhnten Blagen Vokabeln einzubläuen.

Emil schwang sich wieder aufs Reck. Kippaufschwung, Unterschwung …

»Sag!«, rief der Kollege, der sich selbst ein Handtuch um die Schultern geschlungen hatte, lachend, »bist du mit dem Reck verwachsen?«

Das nicht, aber Emil konnte die Stange trotzdem nicht loslassen, begann, sich blitzschnell um sie zu drehen. Die Erinnerungen drehten sich auch, nämlich um das letzte Gespräch, das er wenige Monate zuvor mit seinem Vater geführt hatte. So deutlich stand es ihm vor Augen.

»Sieh dich doch selbst an!«, rief Emil. »Du hast dich vom Leben prügeln lassen und bist gekrümmt liegen geblieben. Ich werde das nicht tun, ich habe im Turnverein boxen gelernt.«

»Boxen? Was für ein lächerlicher Sport! Ihr spielt im Ring das echte Leben lediglich nach. Ein Kampf, der nur eine Medaille einbringt, nicht den Tod, ist doch ein Witz!«

»Du hast den Krieg verloren, du hast den Sohn verloren, den du mehr liebtest als mich, du hast dein Unternehmen verloren, und bald wirst du auch unser Stadthaus verlieren, deinen letzten Besitz«, hielt Emil heiser dagegen. »Du bist nicht in der Situation, auf mich herabzusehen.«

Das, was er da tat, war kein Boxen. Beim Boxen kämpfte man nach Regeln und gegen einen ebenbürtigen Gegner. Sein kranker Vater war das zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Er lag im Bett, trug lange Hemdhosen, Kombination genannt, darüber einen schweren Wintermantel, deckte sich obendrein mit einer Daunendecke zu. Es genügte nicht, er fror trotzdem, er fror immerzu, seit sie das große Haus nicht mehr beheizen konnten. Emil fror nicht, ihm wurde heiß, während er zwar nicht mit Fäusten, aber mit Worten auf den Vater einschlug, lange nach dessen K. o.

»Du magst behaupten, dass meine Arbeit wenig sinnvoll ist, weil man mit ihr nichts Bleibendes schafft«, schimpfte Emil auf seinen Vater ein. »Aber sag ehrlich, was ist denn von deinem Lebenswerk geblieben? Was ich meine Schüler lehre, rüstet sie für die Zukunft. Du bist an der Vergangenheit kleben geblieben, und auch wenn du sie groß nennst – sie ist in deinen Händen zu einem kümmerlichen Häuflein geschrumpft.«

Am Ende brachte Gustav Tiedemann kein Wort mehr hervor, nicht einmal ein Ächzen. Ein anderer Laut erklang, Emils Mutter Monika stand an den Türrahmen gelehnt. Wegen der Kälte trug sie ihren feinsten Mantel, den mit dem Fuchskragen. Er war viel zu groß für die schmächtige Frau, die weder als Publikum noch als Schiedsrichter taugte.

»Sag doch nicht so etwas Böses!«, rief sie mit jammerndem Unterton.

Emil fuhr zu ihr herum. Wusste sie denn nicht mehr, was der Vater ihm stets alles an Bösem sagte? Du verschwendest deine Kraft, du verscherbelst dein Talent, du machst dich lächerlich mit deinem Sport. Wusste sie nicht mehr, dass sie nie eingegriffen, ihn nie geschützt hatte?

Aber vielleicht brach sie gerade deswegen in Tränen aus.

Gewiss wusste sie noch, wann er seine Leidenschaft fürs Turnen entdeckt hatte – nach dem Tod seines Bruders nämlich, als kein Leichnam zu begraben gewesen war, ihnen nur die Erkennungsmarke zugeschickt worden war und sein Essbesteck. Als könnte man das noch gebrauchen … als könnte Monika Tiedemann jemals wieder mit gutem Appetit essen.

Emil aß viel. Er brauchte es, um stark zu bleiben, um Reck, Barren, Ringe, Sprungkasten zu bezwingen. Egal, welches Gerät, die Übungen daran hatten gemein, dass man nicht schwerfällig auf dem Boden hockte, sondern für kurze Zeit in der Luft schwebte oder durch die Luft flog, und Trauer und Hilflosigkeit nicht dorthin reichten. Turnen, das war der Kampf gegen die Schwerkraft, den er an Tagen, da im Hause Tiedemann alles so unerträglich schwer war, umso erbitterter ausfocht und gewann.

Nur den Kampf gegen seinen Vater hatte er nicht gewonnen. Das Einzige, was der ihm irgendwann entgegensetzte, war nun sein letzter Atemzug, doch wer vor einem Toten ins Ziel kam, hatte keinen Lorbeerkranz verdient. Vielleicht hatte ihn sein Vater sogar überrundet, und er hatte es bloß nicht gemerkt, weil seine Schritte nicht mehr zu hören waren, seine Stimme, sein Atem. Vielleicht stand Gustav nun in den lichten Höhen des Siegertreppchens, während er selbst auf dem Boden kauerte. Das eingefallene Gesicht des Vaters verriet jedenfalls keinen Schmerz mehr, keine Enttäuschung, keine Verachtung.

»Ich werde für dich sorgen«, sagte Emil zu seiner Mutter. »Unser Stadthaus werden wir nicht halten können, aber ich verdiene Geld als Turn- und Englischlehrer.«

Ordentliches Geld. War es auch echtes Geld?

Seine Mutter hörte nicht auf ihn, schluchzend zog sie ihren Mantel aus, legte ihn auf die Decke des Vaters – vielleicht um seinem Leib Gewicht zu geben, ihn in diesem kalten Haus festzuhalten. Doch der Vater war an einen anderen Ort entschwunden, nur seine Beleidigungen standen noch im Raum, und obwohl seine Mutter sie nicht wiederholte,...

Erscheint lt. Verlag 21.6.2021
Reihe/Serie Die Lehrerin von Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1930er Jahre • 30er Jahre • Buchclub • Carmen Korn • Charlotte Roth • Die Farbe des Nordwinds • Die Schule am Meer • Die weiße Rose • Dorfschullehrerin • eBooks • Familiensaga • Frauenromane • Frauensaga • Frauenschicksal • Freundschaft • Große Liebesgeschichte • Hamburg • Klara Jahn • Laura Baldini • Lehrer • Lehrerinnen • Lesekreis • Liebesromane • Maria Montessori • Nationalsozialismus • Reformpädagogik • Romane für Frauen • Sandra Lüpkes • Schule • Spiegel-Bestseller-Autorin • Widerstand • Zusatzmaterial • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-641-26392-1 / 3641263921
ISBN-13 978-3-641-26392-8 / 9783641263928
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