Sweet Dreams (eBook)
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30316-2 (ISBN)
Frank Goosen hat neben seinen erfolgreichen Büchern, darunter »Raketenmänner«, »Sommerfest« und »Liegen lernen«, zahlreiche Kurzgeschichten und Kolumnen in überregionalen Publikationen und diversen Anthologien veröffentlicht. Darüber hinaus verarbeitet er seine Texte teilweise zu Soloprogrammen, mit denen er deutschlandweit unterwegs ist. Einige seiner Bücher wurden dramatisiert oder verfilmt. Frank Goosen lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Bochum. Zuletzt erschien sein Band über »The Beatles« in der KiWi-Musikbibliothek (2020).
Frank Goosen hat neben seinen erfolgreichen Büchern, darunter »Raketenmänner«, »Sommerfest« und »Liegen lernen«, zahlreiche Kurzgeschichten und Kolumnen in überregionalen Publikationen und diversen Anthologien veröffentlicht. Darüber hinaus verarbeitet er seine Texte teilweise zu Soloprogrammen, mit denen er deutschlandweit unterwegs ist. Einige seiner Bücher wurden dramatisiert oder verfilmt. Frank Goosen lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Bochum. Zuletzt erschien sein Band über »The Beatles« in der KiWi-Musikbibliothek (2020).
Meine Achtziger
Als die Achtziger ausbrachen, war ich dreizehn, und als sie zu Ende gingen wie eine Krankheit, von der man sich erholt, war ich vierundzwanzig. In den Achtzigern passierte für mich vieles zum ersten Mal: Ich bekam meinen ersten Zungenkuss, war das erste Mal betrunken, blieb im zehnten Schuljahr sitzen (wegen Mathe, Latein, Französisch und Claudia), verlor meine Unschuld, machte Abitur und Führerschein, baute meinen ersten Unfall und versuchte mich an meinem ersten Roman.
Für das Ruhrgebiet waren die Achtzigerjahre eine Zeit des fortgesetzten Umbruchs. Das Alte war noch nicht ganz weg, das Neue noch nicht da. Was das Neue sein sollte, weiß man bis heute nicht so richtig. Noch im April 1980 unterzeichneten Vertreter der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke und des Gesamtverbandes des deutschen Steinkohlebergbaus den zweiten Kohle-Strom-Vertrag. Bis 1995 sollte die Verstromung heimischer Kohle nicht nur sichergestellt, sondern ausgebaut werden. Die Mehrkosten der Wirtschaft, die auf die günstigere Importkohle verzichtete, sollten durch den sogenannten »Kohlepfennig« aufgefangen werden. Zum ersten Mal seit 1974 verzeichnete der Ruhrbergbau wieder mehr Neueinstellungen als Abgänge.
Ich selbst hatte andere Dinge im Kopf. In Bochum, wo ich 1966 auf die Welt geworfen worden war, hatte die letzte Zeche 1973 geschlossen. Ich hatte keine Verwandten auf irgendeinem Pütt, mein Großvater väterlicherseits und mein Onkel waren zwar noch eingefahren, aber der Großvater war schon 1967 gestorben, und mein Onkel verdiente sein Geld längst bei Krupp. Mein Vater hatte sich als Elektriker selbstständig gemacht und ein paar Jahre lang daran geglaubt, dass alles besser werden würde, weshalb es bei uns zu Hause keine Eichen-Schrankwand im Stile des Gelsenkirchener Barock gab, auch keine Blümchentapeten oder Linoleum auf dem Küchenboden, sondern eine schwarz-weiße Wohnzimmertapete mit fast psychedelischem Muster, dazu eine weiße Ledergarnitur und ein hochmodernes Schrankensemble mit Vitrine, schwarzen Türen und stahlfarbenen, senkrechten Streben. Der Fernseher war ein Top-Teil von Nordmende, und statt einer mehrarmigen Hängelampe beleuchteten drei große orange Scheinwerfer, die an der Wand mit der auffälligen Tapete angebracht waren, diese Szenerie des Zukunftsoptimismus und der Aufstiegshoffnung. Im Korridor (woanders auch gern auf der Diele) stand eine wuchtige, mehrteilige Stereoanlage auf weißen Regalbrettern, an der Wand hing ein Kasten (wieder in Orange) mit Knöpfen und Lämpchen, von wo mein Vater die in der Küche sowie dem Wohn- und Schlafzimmer verteilten Kleinlautsprecher ansteuern konnte.
Mein Jugendzimmer war ein Traum in den Modefarben der Siebziger. Es gab Braun und Beige und, natürlich, Orange, dazu einen Sessel mit Cordbezug und einen gelben Kleiderschrank mit weißen Griffen. Darauf hatte ich einen Aufkleber gepappt: Caramac bringt auf Zack! Unter der Decke sorgten zwei verkleidete Leuchtstoffröhren für eine nicht gerade teintschmeichelnde Vollausleuchtung.
Ende April 1980 hatte ich Konfirmation. Auf einigen unscharfen Fotos sieht man mich in einem dunkelblauen Samtanzug und einem hellblauen Hemd mit Fliege vor der Tür unseres Hauses an der Alleestraße stehen, immer alles schön mittig, nur keine ungewöhnlichen Perspektiven! Da ich noch zwei Ommas und einen Uroppa hatte, dachte ich einen Tag später: Ich werde in meinem Leben niemals arbeiten müssen! Ich war unfassbar reich und legte mir endlich eine halbwegs ordentliche Musikanlage zu, da es bisher nur für einen Mister Hit gereicht hatte. Hi-Fi-Gourmets legten sich seinerzeit Türme aus Einzelkomponenten zu, ich war eher der praktische Typ und entschied mich für ein Gerät, bei dem ich nicht ahnen konnte, dass allein die Nennung des Produktnamens mir vierzig Jahre später bei Lesungen bisweilen Szenenapplaus einbringen sollte: die legendäre Schneider Kompaktanlage.
An meinem vierzehnten Geburtstag Ende Mai 1980 gewann der VfL Bochum 5:2 gegen Werder Bremen und belegte den zehnten Platz, und zwar in der richtigen Liga. Man nennt es nicht umsonst die gute alte Zeit.
Auch deshalb: Im September 1980 übertrug das ZDF live aus dem Bochumer Schauspielhaus die Uraufführung des neuen Thomas-Bernhard-Stückes Der Weltverbesserer mit Bernhard Minetti und Edith Heerdegen.
Lassen Sie das bitte kurz sacken: die Uraufführung des neuen Stückes eines passionierten Misanthropen im ZDF! Live! Zur besten Sendezeit! Den Anfang des Stückes kann ich immer noch aufsagen: »Das Ei weich, die Sauce süß. Süß die Sauce!«
Der Spiegel nannte das Bochumer Theater ein »Pilgerziel« für Theaterfreunde. Kultur statt Kohle. Außerdem war es damals so: Machten wir uns an Mädchen ran, luden wir sie oft nicht ins Kino ein, sondern ins Theater. Peymanns legendäre Inszenierung von Kleists Die Hermannsschlacht habe ich bestimmt fünfmal gesehen, mit gefühlt sechs verschiedenen Frauen.
Knapp drei Wochen nach dem Weltverbesserer feierte in der Lichtburg in Herne der Film Theo gegen den Rest der Welt Premiere, ein Dreivierteljahr später folgte Jede Menge Kohle von Adolf Winkelmann. Etwa zur gleichen Zeit regten sich viele über den neuen Tatort Duisburg-Ruhrort auf, weil Schimanski nicht im Trenchcoat wie Kommissar Haferkamp daherkam, sondern im Parka. Götz Georges erstes Wort im Film ist legendär geworden: »Scheiße«. Okay, dachten wir uns, so wird hier auf der Straße sowieso geredet, warum dann nicht auch im Fernsehen?
Im Mai 1981 eröffnete das Kulturzentrum Zeche Carl in Essen, im November folgte Die Zeche in Bochum, und am Theater an der Ruhr in Mülheim übernahm Roberto Ciulli. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, hat Hermann Hesse gesagt, und zu Beginn der Achtziger war eine Menge Anfang im Ruhrgebiet. Das war die eine Seite.
Aber es gab auch eine andere. Im Januar 1982 protestierten 2000 Werksangehörige des Thyssen-Betriebs Schalker Verein in Gelsenkirchen gegen die Stilllegung des letzten Hochofens der Stadt. 2500 Beschäftigte von Krupp demonstrierten vor der Villa Hügel in Essen gegen die Schließung der Walzwerksanlagen in Duisburg-Rheinhausen. Die Proteste blieben erfolglos, Tausende verloren ihre Arbeit.
Gleichzeitig war ich zum ersten Mal so richtig verliebt. Ich lernte das Küssen im Bochumer Stadtpark. Am Ort des damaligen Geschehens steht heute ein Stromkasten. Kein Witz. Ich bin sicher, da wird nicht nur Energie weitergeleitet. Sondern neu gewonnen. Wissenschaftler stehen vor einem Rätsel. Ich habe damals schon vermutet, dass meine große Liebe irgendwann alle Probleme dieser Welt lösen wird.
Ich ging zur Tanzschule, aber nicht zum Tanztreff Bobby Linden wie meine Eltern, sondern in einen privaten Tanzzirkel, der in der Villa Harmonie abgehalten wurde. Unsere Tanzlehrerin spielte eine kleine Rolle in dem Film Die Heartbreakers über eine Beat-Band im Ruhrgebiet der Sechziger, der 1983 in die Kinos kam und wegen dem wir uns alle (also wir Jungs) in Maria Ketikidou verknallten, nachdem uns zuvor Sophie Marceau in La Boum schlaflose Nächte bereitet hatte.
Aber Sophie Marceau – das war die große, weite Welt. Vor der Haustür sah es anders aus. Was heute als Klischee verschrien ist, war damals Wirklichkeit: Alte Frauen in Haushaltskitteln saßen in ihren winzigen Gärten, daneben Männer in kurzen Hosen und mit freien Oberkörpern. Die jüngeren Frauen trugen gewagte Bikinis, die Männer gerne Schnäuzer, und die Haare bitte aufwendig frisiert, bei den Herren vorne kurz und hinten lang, bei den Damen aufgetürmt oder asymmetrisch oder Kurzhaar mit Stirnband. Physical ist eine schlimme Nummer, das Video ganz fürchterlich, aber Olivia Newton-John mit ihren kurzen Locken und dem weißen Ding um ihre Stirn macht mich immer noch ganz nervös.
Meine schon mit Anfang dreißig ergraute Mutter trug ebenfalls Kurzhaar, aber unaufwendig, mein Vater Fassong (muss ich so schreiben, die französische Version bekomme ich einfach nicht hin). Modisch ließen sie sich gerne mal zu Entgleisungen hinreißen, die meinem pubertierenden Ich peinlich waren. So trug mein Vater etwa eine Zeit lang einen weißen, mit Nieten besetzten Ledergürtel oder braune Stiefeletten. Herrje, denke ich heute, als ich fünfzehn war, waren die zwei sechsunddreißig, und von heute aus gesehen, mit Mitte fünfzig, kommt mir sechsunddreißig vor wie sechzehn, also Nachsicht bitte.
Zu den kleinen Freuden meiner Eltern gehörte ihr Schrebergarten, aber für den war nicht immer Zeit, also kletterten sie manchmal nachmittags aus dem Fenster und stellten Liegestühle auf den Vorbau vor dem Küchenfenster, in dem das Wohnzimmer der Vermieter untergebracht war. Rotstichige Fotos zeigen meinen Vater, wie er sich den Bauch mit der Magenoperationsnarbe tätschelt. Direkt vor der Tür dröhnte die vierspurige Alleestraße, in der anderen Richtung war man nach hundert Metern auffem Eierberch oder auffe Gurke, dem angeblich weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannten Rotlichtbezirk.
Ich war einer der wenigen, die zu Fuß zur Schule gingen, jeden Morgen einmal quer durch die Innenstadt. Die meisten meiner Mitschülerinnen und Mitschüler wohnten in den Vororten, die Eltern waren Ärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater, Banker und Apotheker oder betrieben irgendeinen Laden. Viele hatten Gärten gleich hinter dem Haus, die brauchten keinen Schrebergarten und mussten nicht aus dem Fenster klettern, wenn sie sich im Liegestuhl erholen wollten.
Im Orwell-Jahr entkam ich der...
Erscheint lt. Verlag | 11.2.2021 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Comic / Humor / Manga ► Humor / Satire |
Schlagworte | 80er Jahre • Bestseller-Autor • Humor • Jugend • Kein Wunder • Pop-Kultur • Popmusik • Ruhrgebiet • Unterhaltung • Zeitreise |
ISBN-10 | 3-462-30316-3 / 3462303163 |
ISBN-13 | 978-3-462-30316-2 / 9783462303162 |
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Größe: 2,3 MB
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