Unzertrennlich (eBook)
320 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-27407-8 (ISBN)
Irvin D. Yalom wurde 1931 als Sohn russischer Einwanderer in Washington, D.C. geboren. Er gilt als einer der einflussreichsten Psychoanalytiker in den USA und ist vielfach ausgezeichnet. Seine Fachbücher gelten als Klassiker. Seine Romane wurden international zu Bestsellern und zeigen, dass die Psychoanalyse Stoff für die schönsten und aufregendsten Geschichten bietet, wenn man sie nur zu erzählen weiß.
KAPITEL 1
DIE LEBENSWICHTIGE BOX
Irv im April
Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich mit meinen Fingern über meine obere linke Brust streiche. Seit dem letzten Monat habe ich hier einen neuen Gegenstand sitzen, eine 5 x 5 Zentimeter große Metallbox, die mir von einem Chirurgen eingesetzt wurde, an dessen Namen und Gesicht ich mich nicht mehr erinnere. Alles begann mit einer Sitzung bei einer Physiotherapeutin, bei der ich war, weil ich Probleme mit meinem Gleichgewicht hatte. Als sie mir zu Anfang der Stunde den Puls fühlte, drehte sie sich mit einem schockierten Ausdruck auf dem Gesicht zu mir herum und meinte: »Sie und ich, wir gehen jetzt sofort in die Notaufnahme! Ihr Puls liegt bei dreißig.«
Ich bemühe mich, sie zu beruhigen. »Das ist schon seit Monaten so, aber mir geht es gut.«
Meine Worte beeindruckten sie wenig. Sie weigerte sich, unsere Therapiesitzung fortzusetzen, und nahm mir das Versprechen ab, sofort meinen Internisten, Dr. W., aufzusuchen, um die Sache mit ihm zu besprechen.
Drei Monate zuvor hatte Dr. W. bei der alljährlichen Routineuntersuchung meinen niedrigen und gelegentlich unregelmäßigen Puls bemerkt und mich zur Stanford Arrhythmia Clinic geschickt. Dort verpassten sie mir ein Zwei-Wochen-EKG, bei dem herauskam, dass ich unter einem andauernd erniedrigten Puls litt, mit periodischen, kurzen Anfällen von aurikulärem Herzflimmern. Um zu verhindern, dass sich ein Blutpfropfen Richtung Hirn löste, setzte mich Dr. W. auf Eliquis, ein Antikoagulans. Obwohl mich Eliquis vor einem Schlaganfall schützte, brachte es gleichzeitig neues Ungemach: Ich hatte schon seit Jahren Gleichgewichtsprobleme, und ein ernsthafter Sturz könnte nun tödlich enden, denn es gibt keine Möglichkeit, dem Antikoagulans in diesem Fall etwas entgegenzusetzen und die Blutung zu stoppen.
Als mich Dr. W. zwei Stunden nach der Empfehlung der Physiotherapeutin untersuchte, stimmte er zu, dass mein Puls noch niedriger geworden war, und verordnete mir erneut ein Zwei-Wochen-EKG.
Zwei Wochen später, als mir das Langzeit-EKG von einer medizinischen Fachkraft wieder abgenommen und zur Auswertung ans Labor geschickt worden war, kam es zu einem weiteren alarmierenden Zwischenfall, dieses Mal bei Marilyn: Sie und ich unterhielten uns gerade, als sie plötzlich nicht mehr sprechen konnte, sie brachte kein einziges Wort mehr heraus. Dieser Zustand dauerte fünf Minuten. Danach kam, über die nächsten Minuten, nach und nach ihre Fähigkeit zu sprechen zurück. Ich vermutete, dass sie einen Schlaganfall erlitten hatte. Bei Marilyn war zwei Monate zuvor ein Multiples Myelom diagnostiziert worden, und sie hatte eine Chemotherapie begonnen. Es war möglich, dass durch diese starke Chemotherapie, der sie sich seit zwei Wochen unterzog, ein Schlaganfall ausgelöst worden war. Ich rief sofort Marilyns Internistin an, die zufällig in der Nähe war und zu uns nach Hause eilte. Nach einer schnellen Untersuchung rief sie einen Krankenwagen, um Marilyn in die Notaufnahme zu bringen.
Die nächsten Stunden im Wartebereich der Notaufnahme waren die schlimmsten, die Marilyn und ich je mitgemacht haben. Das von den Ärzten angeordnete CT belegte, dass sie in der Tat einen Schlaganfall infolge eines Blutgerinnsels erlitten hatte. Sie verabreichten ihr ein Medikament, tPA (Gewebespezifischer Plasminogenaktivator), um das Gerinnsel aufzulösen. Ein sehr kleiner Prozentsatz von Patienten reagiert allergisch auf dieses Medikament – und Marilyn war eine von ihnen. Sie starb beinahe in der Notaufnahme. Schrittweise erholte sie sich, ohne dass etwas vom Schlaganfall zurückgeblieben war, und nach vier Tagen konnte sie das Krankenhaus verlassen.
Aber das Schicksal war noch nicht fertig mit uns. Nur Stunden, nachdem ich Marilyn vom Krankenhaus nach Hause gebracht hatte, rief mich mein Arzt an, um mir mitzuteilen, es sei aufgrund der Ergebnisse des Langzeit-EKGs unumgänglich, dass ich mir einen Herzschrittmacher in die Brust einsetzen ließe. Ich entgegnete, Marilyn sei gerade erst aus dem Krankenhause nach Hause gekommen und ich müsse mich unbedingt um sie kümmern. Ich versicherte ihm, dass ich mich Anfang der nächsten Woche sofort um einen OP-Termin bemühen würde.
»Nein, nein, Irv«, entgegnete mein Arzt, »hören Sie mir zu: Das hier ist nicht verhandelbar. Sie müssen innerhalb der nächsten Stunde in die Notaufnahme, um diesen Eingriff vornehmen zu lassen. Ihr Langzeit-EKG hat ergeben, dass Sie 3.291 AV-Blocks über die Dauer von einem Tag und sechs Stunden hatten.«
»Was genau bedeutet das?«, fragte ich. Meine letzte Lehrstunde in kardialer Physiologie war beinahe sechzig Jahre her, und ich gebe zu, nicht auf der Höhe des medizinischen Fortschritts geblieben zu sein.
»Das bedeutet«, erklärte er, »dass es in den letzten zwei Wochen über dreitausendmal dazu gekommen ist, dass der elektrische Impuls von Ihrem natürlichen Schrittmacher im linken Vorhof nicht zur Herzkammer darunter durchgedrungen ist. Dies führte zu einer Unterbrechung, woraufhin die Herzkammer sprunghaft reagierte, um das Herz aus eigener Kraft wieder zum Schlagen zu bringen. So etwas ist lebensbedrohlich und muss sofort behandelt werden.«
Ich fuhr also sofort in die Notaufnahme, wo mich ein Herzchirurg untersuchte. Drei Stunden später wurde ich in den Operationssaal gerollt und bekam einen Herzschrittmacher eingesetzt. Vierundzwanzig Stunden später wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen.
Die Verbände waren inzwischen entfernt worden, und die Metallbox saß in meiner Brust genau links unter dem Schlüsselbein. Siebzigmal in der Minute befiehlt dieses metallische Gerät meinem Herzen nun zu schlagen, und dies wird es in den nächsten zwölf Jahren weiterhin zuverlässig tun, ohne aufgeladen werden zu müssen. Es ist das erstaunlichste mechanische Hilfsmittel, dem ich je begegnet bin. Anders als eine Taschenlampe, die nicht leuchtet, eine TV-Fernbedienung, mit der sich die Programme nicht regeln lassen, ein Navigationsgerät, das die Richtung nicht anzeigt, arbeitet dieses kleine Gerät auf höchstmöglichen Touren. Sollte es versagen, wäre mein Leben innerhalb von Minuten zu Ende. Ich bin wie betäubt von der Zerbrechlichkeit meines Daseins.
So, dies ist also meine gegenwärtige Situation: Marilyn, meine geliebte Frau, der wichtigste Mensch in meinem Leben seit meinem fünfzehnten Lebensjahr, leidet an einer schweren Krankheit, und mein eigenes Leben fühlt sich gefährlich fragil an.
Und trotzdem bin ich seltsamerweise ruhig, fast gelassen. Warum bin ich nicht verschreckt? Diese sonderbare Frage stelle ich mir immer wieder. Ich war meist körperlich gesund in meinem Leben, und doch hatte ich immer in gewissem Maße mit der Furcht vor dem Tod zu kämpfen. Ich glaube, dass mein Forschen und Schreiben zu diesem Thema und meine fortwährenden Versuche, Patienten beizustehen, die dem Tod gegenüberstanden, ihren Ursprung in meiner eigenen großen Angst haben. Aber was ist nun mit dieser schrecklichen Angst geschehen? Woher kommt meine Ruhe, wenn der Tod doch so viel näher rückt?
Während die Tage vergehen, rücken unsere qualvollen Erlebnisse in den Hintergrund. Marilyn und ich verbringen die Morgen in unserem Hinterhof. Wir sitzen nebeneinander und halten Händchen, während wir die Bäume um uns herum bewundern und in Erinnerungen an unser gemeinsames Leben schwelgen. Wir reden über unsere vielen Reisen: unsere zwei Jahre auf Hawaii, als ich in der Army war und wir am herrlichen Kailua Beach lebten, unser Sabbatical-Jahr in London, weitere sechs Monate in der Nähe von Oxford, mehrere Monate in Paris, andere lange Aufenthalte auf den Seychellen, in Bali, Frankreich, Österreich und Italien.
Nachdem wir uns in diesen exquisiten Erinnerungen verloren haben, drückt Marilyn meine Hand und sagt: »Irv, da gibt es nichts, was ich würde ändern wollen.«
Und ich stimme ihr aus vollem Herzen zu.
Beide haben wir das Gefühl, unser Leben ganz gelebt zu haben. Kein Gedanke, den ich bei Patienten mit Todesangst eingesetzt habe, um Trost zu spenden, war machtvoller als dieser: ein Leben ohne Reue zu führen.
Marilyn und ich fühlen uns beide frei von Bedauern – wir haben mutig und in Gänze gelebt. Wir ließen uns die Möglichkeiten, die uns geschenkt wurden, um zu wachsen, nicht entgehen, und nun hatten wir wenig ungelebtes Leben zu beklagen.
Marilyn geht zurück ins Haus, um sich ein wenig hinzulegen. Die Chemotherapie zehrt an ihren Kräften, und oft verschläft sie einen Großteil des Tages. Ich lehne mich in meiner Chaiselongue zurück und denke an die vielen Patienten, die überwältigt waren von der Furcht vor dem Tod – und auch an die vielen Philosophen, die sich dem Tod unverblümt annahmen.
Vor zweitausend Jahren sagte Seneca: »Wie bei einem Theaterstück kommt es beim Leben nicht darauf an, wie lange es dauert, sondern wie gut es gespielt wird.« Nietzsche, der Meister der Sinnsprüche, sagte: »Man muss gefährlich leben.« Ein anderer Spruch von Nietzsche kommt mir ebenfalls in den Sinn: »Viele sterben zu spät, und einige sterben zu früh … ›stirb zur rechten Zeit‹!«
Hm, zur rechten Zeit … Volltreffer. Ich bin fast achtundachtzig und Marilyn siebenundachtzig. Unsere Kinder und Enkelkinder sind im Leben angekommen. Ich fürchte, ich habe gesagt, was ich zu sagen habe. Ich bin dabei, meine therapeutische Praxis aufzugeben, und meine Frau ist nun ernsthaft erkrankt.
»Stirb zur rechten Zeit!« Es ist schwer, diesen Gedanken aus dem Kopf zu bekommen. Und...
Erscheint lt. Verlag | 10.5.2021 |
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Übersetzer | Regina Kammerer |
Zusatzinfo | Bildteil |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | IT’S A MATTER OF DEATH AND LIFE |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Als Nietzsche weinte • Andre Gorz • eBooks • Existentielle Psychotherapie • Feminismus • Liebe • Psychoanalytiker • Rollo May • spiegel bestseller 2021 • Stanford University • Yaloms Anleitung zum Glücklichsein |
ISBN-10 | 3-641-27407-9 / 3641274079 |
ISBN-13 | 978-3-641-27407-8 / 9783641274078 |
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