Krach (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
272 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32058-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Krach -  Tijan Sila
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»Ein furioser Roman über das Erwachsenwerden im toten Winkel der Gesellschaft und eine kalte Dusche für lauwarmes Erzählen.« Arno Frank. Eine Punkband in der Pfälzischen Provinz der Neunzigerjahre - was kann da schon schiefgehen? In seinem unverwechselbaren Ton schreibt Tijan Sila einen humorvoll wilden, zarten Roman über die identitätsstiftende Kraft von Subkulturen. 1998, inmitten der Baseballschlägerjahre, gründet der 18-jährige Gansi mit seinen Freunden in der Kleinstadt Calvusberg die Punkband Pur Jus. Während es seinen Eltern, die vor vielen Jahren aus Bosnien nach Deutschland gekommen sind, lieber wäre, würde er wie sein älterer Bruder Predrag Chirurg werden und in eine Villa am Heidelberger Neckarufer ziehen, veranstaltet er Radau im heimischen Club Fiasko, tourt durch das tief gespaltene Land vom blitzsauberen Jugendzentrum in Freiburg zum besetzten Haus in Heidenau, lässt sich von einem Fascho die Lippe spalten und von der finsteren Gitarristin Ursel das Herz brechen. Dann trifft er Katja, die in »Texas« lebt, einem Viertel in Calvusberg, das sogar die Punks fürchten. Sie lernt fürs Abi, ist sehr für gewaltfreie Konfliktlösung und hört lieber Madonna statt Buzzcocks. Gansi ist bis zur geföhnten und blondierten Haartolle verliebt in sie. Alles scheint perfekt - doch bald sind es nicht mehr nur die omnipräsenten Nazis, die für Pur Jus zur Gefahr werden. Tijan Sila führt die Leser*innen ins Herz einer Szene, die er sehr gut kennt: Er zog in den Neunzigerjahren selbst mit seiner Punkband Atlas Lanze durch Deutschland und hat gerade mit seiner neuen Band Korrekte Drinks eine Single aufgenommen.

Tijan Sila kam 1981 in Sarajevo zur Welt und emigrierte 1994 mit seiner Familie nach Deutschland. Er studierte Germanistik und Anglistik in Heidelberg. Heute lebt er in Kaiserslautern, wo er als Lehrer an einer Berufsschule arbeitet. Im Frühjahr 2017 erschien sein Debütroman »Tierchen unlimited« bei Kiepenheuer & Witsch, 2018 folgte »Die Fahne der Wünsche«. Er hört Punkrock, seitdem er als Kind das Video zu dem Ramones-Lied »I wanna be sedated« gesehen hat und ist Gitarrist der Punkband Korrekte Drinks.

Tijan Sila kam 1981 in Sarajevo zur Welt und emigrierte 1994 mit seiner Familie nach Deutschland. Er studierte Germanistik und Anglistik in Heidelberg. Heute lebt er in Kaiserslautern, wo er als Lehrer an einer Berufsschule arbeitet. Im Frühjahr 2017 erschien sein Debütroman »Tierchen unlimited« bei Kiepenheuer & Witsch, 2018 folgte »Die Fahne der Wünsche«. Er hört Punkrock, seitdem er als Kind das Video zu dem Ramones-Lied »I wanna be sedated« gesehen hat und ist Gitarrist der Punkband Korrekte Drinks.

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL


Der Hauptbahnhof hinterließ bei Besuchern einen schlechten ersten Eindruck von Calvusberg: Der Vorplatz war eine kahle Asphaltfläche, an deren Nordseite sich gekachelt und vernagelt die Ruine des 1992 aufgegebenen Hertie-Kaufhauses erhob. Die Bahnhofsumgebung war der einzige Teil der Stadt, den die Alliierten bombardiert hatten – die Franzosen hatten Calvusberg zum künftigen Hauptsitz ihrer Besatzungszone auserkoren, ähnlich wie die Amis Heidelberg. Angeblich wurden damals Flugblätter über der Stadt abgeworfen, um die Bevölkerung zu demoralisieren: Euch werden wir verschonen, hier wollen wir wohnen. Und das wollten die Scheiß-Wackes, weil es hier schön war: Calvusberg war eine alte Stadt in der Mitte eines Weinbaugebiets, Fachwerk, Kopfstein, Klinker und Zypressen. Meine Eltern hatten es nicht in einen Altbau mit Vier-Meter-Decken oder eine dieser Winzervillen geschafft, doch immerhin in das großzügige Haus des ehemaligen Gauleiters der Südpfalz – deshalb verbargen zwei Birnbäume die Front.

Es gab einen Trick, unsere Wohnungstür geräuschlos aufzusperren: Man musste sich dagegenstemmen, wenn man den Schlüssel umgedreht hatte, und durfte auf keinen Fall die Klinke drücken, da sie quietschte – unser Linoleumboden auch, darum zog ich die Schuhe immer schon im Windfang aus: Tapp, tapp, tapp ins Zimmer, ins Bett und pennen. Fast hatte ich das Ende des Flurs erreicht, als es hinter mir stereofonisch kicherte. Svrakica und Vranica, meine kleinen Schwestern (und auch noch Zwillinge), beobachteten mich durch den Spalt ihrer Zimmertür. Ich machte ein finsteres Gesicht, ich hob den Zeigefinger an die Lippen, aber die beiden Wanzen hatten mich noch nie gefürchtet:

»Mama, Papa, Sabahudin ist da!

»Er ist da, er ist da!«

Ich hörte meinen Vater im Bett aufschreien: »Ša ba? Đe smo?«

»Sabahudin will in sein Zimmer schleichen!«

»Barfuß, stellt euch das mal vor.«

»Barfuß, Papa!«

»Abartig.«

»Voll pervers.«

»Eklig, der Typ.«

»Und die Jacke hat ein Loch am Ärmel!«

»Wie bei so nem dreckigen Penner.«

»Sabahudin ist ein Penner!«

»Iih!«

»Ej, ihr seid beide so scheiße!«, klagte ich, was sie nur anspornte, mich noch leidenschaftlicher zu verhöhnen:

»Was der zu uns sagt!«

»Hey Mr Wichtig, du tickst ja wohl nicht richtig!«

»Tic Tac Toe? Meine Schwestern hören Tic Tac Toe? Wie kann man schon mit sieben so scheiße sein wie ihr zwei?«

»Selber scheiße!«

»Scheiße sagt man nicht, Mr Wichtig!«

»Ihr seid nicht wirklich meine Schwestern. Die hat Satan gefressen, bevor er euch beide in die Wiegen gekackt hat!«

»Selber Satan!«

»Rede nicht so mit deinen Schwestern, Budo.« Mein Vater schlurfte an mir vorbei in die Küche und machte die Neonleuchte über der Spüle an. Wie immer knackte es dreimal, bevor sie losglühte, dies mit einem sehr lauten, flatternden Summen, br-br-brzzzzz! Da sich mein Zimmer direkt gegenüber der Küche befand, musste ich nie den Wecker stellen. Sie hatte, genau wie das Pyjama meines Vaters, wie die Kaffeemaschine, die er anschaltete, wie der Esstisch, an den wir uns daraufhin setzten, wie überhaupt der Großteil unserer Einrichtung, ursprünglich anderen gehört: Toten. Meine Eltern betrieben nämlich eine Entrümpelungsfirma. Vor zwei Jahren hatten sie sich einen Traum erfüllt und einen Trödelladen eröffnet, in dem sie einen Teil ihrer Funde verkauften. Sie sprachen stolz vom »Antiquariat«, und ich vermutete, er wäre sogar als ein solches durchgegangen. Im Gegensatz zu den ganzen Schimmelkellern, in denen Entrümpelungsfirmen üblicherweise Waren anboten, gab es bei Mutter und Vater keine Kartons voller nackter Barbies, sondern ausschließlich schicken alten Kram: Freischwingersessel, Tiffanylampen und Röhrenradios, alles von den beiden selbst restauriert. Die ganzen Lehrer, Ärzte und Ökos Calvusbergs liebten uns dermaßen, dass wir inzwischen ganz darauf verzichten konnten, auf Flohmärkten zu verkaufen. Meine Eltern besaßen halt jenen unermüdlichen Fleiß, den man sich nur im Kommunismus aneignen konnte – um nach dessen Zusammenbruch in der richtigen Welt erfolgreich zu sein. Der Grund, wieso mein älterer Bruder am Heidelberger Universitätsklinikum Herzen operierte, während ich nur »blödes Zeug machen und schlafen« wollte, bestand laut meinem Vater darin, dass Ljuba im Unterschied zu mir noch Jungpionier gewesen war. Ich war ja erst zwei, als wir nach Deutschland kamen. Svrakica und Vranica, die hier geboren waren, bestätigten seine Vermutung: Die beiden Gulli-Kröten zockten den ganzen Tag nur Wipeout auf der Playsi und ließen dazu CDs laufen, auf denen Schlümpfe irgendwelche Lieder nachsangen. Kein Wunder also, dass sie in der ersten Klasse hocken geblieben waren. Beide – in der ersten Klasse! Wie ging das überhaupt?

»Stehst du jetzt schon auf?«, fragte ich meinen Vater.

»Scheunenräumung in Speyerbrunn.«

»Geht Mama mit?«

»Mama geht ins Antiquariat.«

Er blickte auf die Uhr (es war kurz nach fünf) und sagte, ich solle mich noch ein bissl hinlegen. Da mein Körper jedoch inzwischen sein Hormontief überwunden hatte, war ich wieder hellwach und hibbelig.

»Kann nicht, bin zu aufgedreht!«

»Wegen eurem Konzert?«

»Wir waren richtig gut!« Das zusätzliche Abenteuer auf dem Parkplatz verschwieg ich – meine Eltern fanden nichts schlimmer als Kloppereien. »Richtig gut.«

»Daran habe ich keine Zweifel«, sagte er und verlor dann, wie üblich, den Bezug zum eigentlichen Thema sowie jegliches Maß: »Nichts ist aufregender, als dabei zu sein, wenn etwas Neues auf die Welt kommt. Früher, da haben die Männer gesagt, man solle nicht bei der Geburt seiner Kinder anwesend sein, danach würde man Intimitäten scheuen. Ich habs trotzdem gemacht.«

»Warst du auch bei unserer Geburt dabei?«, fragte Svrakica und kletterte auf seinen Schoß; ihre Schwester strullerte bei offener Klotür.

»Selbstverständlich war ich das.«

»Wer von uns kam zuerst?«

»Ihr kamt Hand in Hand.«

»Jawohl!«, jubelte Svrakica.

»Das waren meine echten Schwestern«, warf ich ein. »Dich und die andere da hat Satan …«

»Psscht, was redest du da?«, unterbrach mich mein Vater und küsste den kleinen Lemuren auf den Scheitel. »Ich kenne doch meine Töchter.« Svrakica streckte mir die Zunge raus. »Ich war bei eurer Geburt dabei, und es war – wie soll ich es sagen? Du siehst, was da passiert! Was es heißt, auf diese Welt zu kommen. Was es heißt, ein Mensch zu sein!«

»Wo habe ich mir nur diesen Schwätzer angelacht?«, hörte ich meine Mutter im Flur sagen, dann maßregelte sie Vranica wegen der offenen Klotür; die Kleine antwortete, dass sie doch hören wolle, worüber wir redeten.

»Es war wundervoll!«, schwärmte mein Vater.

»War es nicht!« Meine Mutter steckte den Kopf in die Küche. »Wie er daherredet – dich würde ich gerne mal gebären sehen, du Dichter …« Ein sehr lauter Furz – eigentlich zu laut, um vom Körper einer Siebenjährigen hervorgebracht zu werden – unterbrach ihre Ansprache. »Veronika!«

»Ha ha, ich habe gefurzt!«

Die niedliche Idiotin kam aus dem Flur herangewatschelt und versuchte, mir auf den Schoß zu klettern. Sie blieb auf halbem Weg hängen, ließ die Füße baumeln und lag bäuchlings auf meinen Oberschenkeln – so werde sie jetzt schlafen, hörte ich sie flüstern.

 

Wir nippten den Kaffee fertig, dann spülte ich die Tassen aus und jammerte: Todmüde sei ich, aber hellwach, ich hätte Kopfweh, ich wisse nicht, was mit mir los sei.

»Selber schuld«, antwortete mein Vater und die Zwillinge zwitscherten es ihm nach: »Ja, Budo, bist selber schuld, du hässlicher Affe!«

»Du könntest halt auch mal rechtzeitig ins Bett. Niemand zwingt dich, dich nachts mit dieser bagra rumzutreiben.« Auch wenn es meinem Vater gefiel, dass ich etwas »Künstlerisches« tat, konnte er mit Ursel und Beppo wenig anfangen. Meine Eltern ließen mir und meinen Schwestern jedoch alles durchgehen, weil sie ihre gesamte Strenge für meinen älteren Bruder verbraucht hatten: Er hatte sich immer wie ein Depp anziehen müssen, er hatte nie bei Freunden übernachten dürfen, hatte ohne Ausnahme um einundzwanzig Uhr zu Hause zu sein, und wenn ihn mal ein Mädchen besucht hatte, hatte die Zimmertür offen bleiben müssen. Darum hatte ich als Kind ziemlichen Bammel davor, dass meine eigene Jugend auch so aussehen würde – Regeln ohne Ende, Verbote überall! Aber meine Eltern hatten keine Patronen mehr. Wie sich herausstellte, waren sie nicht einmal von Natur aus streng. Es schien sie alle Kraft gekostet zu haben, ihre Unerbittlichkeit Ljubomir gegenüber aufrechtzuerhalten, denn als ich mit Eiter und Erektionen dran war, interessierten sie sich kaum dafür, was ich anstellte, leistete, versäumte, vergaß, zerbrach. Lieber versuchten sie, meine Neigungen zu fördern. Irgendwann kam ich von der Schule, und da lag eine alte taubenblaue Fender Mustang auf meinem Bett. Mein Vater hatte sie bei einer Haushaltsauflösung für mich sichergestellt, ebenso wie den Music-Man-Verstärker, der mich etwas später auf dem Schreibtisch erwartete.

Es war ein komisches Gefühl, ernst genommen zu werden, wenn man sich nicht sicher war, ob man es verdiente.

×××

Ich versuchte,...

Erscheint lt. Verlag 6.5.2021
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 90er Jahre • Bachmannpreis • Bachmannpreis 2024 • Coming-of-age • Die Fahne der Wünsche • Jugendkultur • Jugendliebe • Punk • Punkrock • Punk-Roman • Subkultur • Tierchen unlimited
ISBN-10 3-462-32058-0 / 3462320580
ISBN-13 978-3-462-32058-9 / 9783462320589
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