Achtsam morden am Rande der Welt (eBook)
400 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-26518-2 (ISBN)
Um der Midlifecrisis zu entgehen, begibt sich Björn Diemel auf Anraten seines Therapeuten auf Pilgerreise. Schnell stellt sich als Erkenntnis auf dem Jakobsweg heraus, dass Björns Leben die Mitte bereits längst überschritten haben könnte: Ein unbekannter Mitpilger versucht, ihn zu töten.
Während bei den scheiternden Anschlägen auf ihn ein Pilger nach dem anderen seinen Lebensweg verlässt, versucht Björn ganz achtsam, sich seiner Haut zu wehren. Seine Pilger-Fragen nach Leben, Tod und Erfüllung bekommen plötzlich eine sehr praxisnahe Relevanz.
KARSTEN DUSSE, Jahrgang 1973, Rechtsanwalt, Studium in Bonn, Lausanne und Los Angeles. Nach erfolgreicher Tätigkeit als Drehbuch- und Sachbuchautor wurde sein Debütroman ACHTSAM MORDEN zum meistverkauften Taschenbuch des Jahres 2020.
Seine Romane wurden bislang in 26 Sprachen übersetzt und stehen regelmäßig an der Spitze der Bestsellerlisten. Ausgezeichnet wurde seine Arbeit mit dem Deutschen Fernsehpreis, dem Deutschen Comedypreis und dem Deutschen Hörbuchpreis. Seine Hörbücher haben Gold- und Platin-Status erreicht.
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Taschenbuch (Nr. 03/2023) — Platz 16
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Taschenbuch (Nr. 02/2023) — Platz 18
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Taschenbuch (Nr. 01/2023) — Platz 19
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Taschenbuch (Nr. 52/2022) — Platz 20
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Taschenbuch (Nr. 51/2022) — Platz 19
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Taschenbuch (Nr. 50/2022) — Platz 18
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Taschenbuch (Nr. 49/2022) — Platz 18
ICH MÖCHTE VON ANFANG an ehrlich sein: Ich war nie ein großer Freund des Pilgerns.
Pilger waren für mich immer Menschen mit Luxusproblemen und Multifunktionskleidung. Wer es sich leisten konnte, wochenlang zur Selbstfindung mit einem Sonnenhut durch Spanien zu wandern, hatte offensichtlich zumindest nicht so banale Probleme wie Kind und Beruf unter welche Kopfbedeckung auch immer zu bringen. Wochenlang gegen seine seelische Armut anzupilgern musste man sich zeitlich und finanziell erst einmal leisten können.
Dass Familie und Arbeit kein Hindernis, sondern vielleicht gerade ein guter Grund für eine Pilgerschaft sein könnten, kam mir in der ersten Hälfte meines Lebens nie in den Sinn. Dass sich das nach fünfundvierzig Jahren ändern könnte, ahnte ich noch nicht, als ich dieses Mal an der Tür meines Therapeuten Joschka Breitner klingelte.
Früher hielt ich Therapeuten für ungefähr so sinnvoll wie Golflehrer. Sie verbessern Handicaps, die im Alltag eher eine untergeordnete Rolle spielen. Doch dann lernte ich Joschka Breitner kennen. Weil mich Katharina, die Mutter meiner Tochter und damals noch meine Frau, zur Entspannung gezwungen hatte.
Joschka Breitner brachte mir die Achtsamkeit näher. Und ein mittleres Wunder geschah: Mithilfe der Achtsamkeit war ich dazu in der Lage, alle drei Arten von Problemen im Leben eines Mannes zu lösen. Die Probleme, die ich schon lange hatte. Die Probleme, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie hatte. Und die Probleme, die täglich neu in mein Leben traten.
Joschka Breitner und die Achtsamkeit hatten mein Leben verändert. Ich ging jetzt zum Therapeuten, wie die meisten Männer zum Friseur gehen: Sie wollen keine neue Frisur, sie möchten einfach nur weiterhin so aussehen, wie sie nach dem letzten Friseurbesuch ausgesehen haben. Ich spürte eine gewisse Selbstzufriedenheit oder das Gefühl, im Wesentlichen da angekommen zu sein, wo ich sein wollte.
Ich führte ein geregeltes Leben. Hatte ein wunderbares Verhältnis zu meiner fünfjährigen Tochter und ein entspanntes zu meiner Ex-Frau. Ich hatte sogar ein erwachsenes Verhältnis zum neuen Lebensgefährten meiner Ex-Frau. Zudem hatte ich ein mehr als ausreichendes Einkommen, und zwar ohne, dass ich mich allzu sehr dafür anstrengen musste. Ob »geregelt«, »wunderbar«, »entspannt«, »erwachsen«,und »nicht allzu anstrengend« tatsächlich das war, was ich vom Leben erwarten sollte, darüber hatte ich mir bis zu dieser Coaching-Stunde keinerlei Gedanken gemacht.
Die therapeutischen Gespräche mit Herrn Breitner alle vier Wochen waren für mich eine Art Zahnreinigung der Seele.
Bei zu langen Abständen zwischen zwei Zahnreinigungen kann man irgendwann mit der Zunge unangenehme Unebenheiten hinter den Vorderzähnen erfühlen. Die müssen dann beseitigt werden.
Mit meiner Seele war das ähnlich.
Das achtsame Beseitigen meiner seelischen Unebenheiten zwischen zwei Coaching-Sitzungen hatte allerdings bislang das Leben von acht anderen Menschen beendet. Davon wusste Joschka Breitner nichts. Die Toten, die mein Leben begleiteten, waren für mich eine irgendwie logische Folge seines Coachings. Nicht dessen Grund.
Die therapeutischen Sitzungen waren nicht nur eine schöne Routine geworden, sie sorgten auch dafür, dass meine seelischen Unebenheiten so früh beseitigt wurden, dass in letzter Zeit niemand mehr deshalb in Lebensgefahr geraten war. Dass dabei eines Tages auch ein komplett hohler Zahn entdeckt werden könnte, lag außerhalb meiner Vorstellungskraft.
Ich kam regelmäßig und entspannt zehn Minuten vor meinem 17-Uhr-30-Termin vor Joschka Breitners Haustür an. Um jedes Mal aufs Neue festzustellen, dass es in dem Jugendstil-Viertel, in dem seine Praxis lag, keine freien Parkplätze für meinen leicht überdimensionierten Land Rover Defender gab. Gewohnheitsmäßig fuhr ich zweimal vergeblich gemäß Einbahnstraßenregelung um den Block, um im Anschluss auf einem drei Straßen entfernten Supermarktparkplatz zu parken. Ich hetzte dann jedes Mal aufs Neue die achthundert Meter zur Praxis und tauschte dabei mein ehemals entspanntes Zeitpolster gegen eine verspannte Beinahe-Pünktlichkeit ein.
Mit absoluter Zuverlässigkeit betätigte ich dann um Punkt 17.31 Uhr die Türklingel von Joschka Breitner.
Der einzige Unterschied zu dieser seit gut zwölf Monaten währenden Routine bestand an diesem Tag darin, dass ich erst um 17.32 Uhr klingelte. Und mit dem Taxi gekommen war. Der Fahrer war bei der ersten Anfahrt eine Einbahnstraße zu früh abgebogen. Meine Entspannung hielt sich in Grenzen. Ich hatte immer noch einen leichten Hangover vom Vortag. Eine Unpässlichkeit, die mich störend daran erinnerte, dass ich den vorherigen Abend eigentlich vergessen wollte.
Auch diesmal machte mir Herr Breitner mit seiner Heimat bietenden Ausgeglichenheit die Tür auf. Er quittierte meine leichte Unpünktlichkeit mit einem freundlichen Schweigen und ging mir in sein Besprechungszimmer voraus. Ich habe nie herausgefunden, ob Herr Breitner nur einen einzigen Satz Kleidung besaß oder unendlich oft die gleiche ausgeblichene Jeans, das gleiche baumwollene Hemd, die gleiche grobe Strickjacke. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals etwas anderes getragen hätte. Aber nie war diese ewig gleiche Kleidung auch nur im Ansatz schmuddelig. Die scheinbare Bedeutungslosigkeit, die er seiner Garderobe beizumessen schien, unterstrich deren Bedeutung nur zu deutlich.
Ich ließ mich, wie gewohnt, auf dem einen seiner beiden mit Cord bespannten Chromrohrstühle nieder, und mein Blick schweifte zum wiederholten Male über die Bücherrücken in seinem Regal, während Herr Breitner uns beiden von seinem grünen Tee eingoss.
Wie üblich fragte ich mich, warum der Zwischenraum zwischen den Büchern Die Kunst des Krieges von Sun Tsu und den Selbstbetrachtungen von Marc Aurel von Ernest Hemingways Roman Siesta gefüllt wurde.
Ich war darauf vorbereitet, diese Frage unbeantwortet in meinem Kopf verhallen zu lassen, weil ich genau in diesem Moment von Joschka Breitners Einstiegsfrage nach meinem Befinden unterbrochen werden würde.
Doch dem war nicht so.
Herrn Breitners übliche »Schön, dass Sie da sind, wie fühlen Sie sich?«-Frage blieb aus. Und bildete ein nicht zu überhörendes Loch im gewohnten Klangteppich meiner Besuche.
Irritiert durch diese Abweichung von der gewohnten Routine, blickte ich ihn an. Er stand mit zwei Tassen grünem Tee vor mir und lächelte fragend.
»Warum zwei Minuten?«, wollte er wissen, als er mir meine Teetasse reichte.
»Bitte?« Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte.
»Nun, seit über einem Jahr kommen Sie mit verlässlicher Unpünktlichkeit eine Minute zu spät zu unseren Sitzungen. Heute sind es zwei. Warum?«
Ich hatte von Herrn Breitner viel gelernt. Vor allem darüber, mir achtsam meiner Bedürfnisse bewusst zu werden. In diesem Moment hatte ich eigentlich nur ein Bedürfnis: Mir über diese blöde Frage keine Gedanken machen zu müssen.
Mit preußischer Genauigkeit nach meiner minimal erweiterten Unpünktlichkeit gefragt zu werden ließ mich nur in noch größeren Schlenkern um meine innere Mitte eiern.
»Aber … ich … was macht das für einen Unterschied?«
»Genau das würde ich gerne von Ihnen erfahren. Bezogen auf einen Tag, machen zwei Minuten nicht viel aus. Bezogen auf eine Minute machen zwei Minuten einen Unterschied von hundert Prozent aus. Das ist keine Kleinigkeit. Warum also ist Ihre Verspätung heute doppelt so groß wie üblich?«
Wegen des gestrigen Abends. Den ich eigentlich lieber vergessen wollte.
Wegen der gebrochenen Achse meines Land Rovers. Wegen des Gesangs der beiden Prostituierten. Wegen der beiden chinesischen Geschäftsleute in der Notaufnahme. Wegen all der Dinge, die mich zu sehr störten, als dass ich mich daran erinnern wollte.
Die mich emotional allerdings zu wenig belasteten, als dass ich mit meinem Therapeuten darüber reden wollte.
Wegen Ereignissen, die nun wohl doch Gegenstand meines Coaching-Gesprächs werden sollten.
Ich wand mich noch ein wenig.
»Der Taxifahrer ist falsch abgebogen.«
Herr Breitner schaute mich an, als wäre er eines dieser Pappschilder, das nach Orientierung suchende Menschen immer medienwirksam am Schauplatz von Tragödien hinterlassen.
Auf diesen Schildern steht: Warum?
Ich vermutete, die Frage bezog sich auf die Tatsache, warum ich überhaupt ein Taxi genutzt hatte.
»… weil ich mein Auto gerade nicht benutzen kann …«
Wieder dieser Warum?-Schild-Blick.
»Weil ich gestern ein kleines … Essen mit Mandanten hatte. Ist ein wenig später geworden«, konkretisierte ich verlegen lächelnd und machte lapidar mit der Hand eine Bewegung, wie wenn sich jemand ein eiskaltes Glas Wodka in den Rachen kippt.
Joschka Breitner wusste, welchen Beruf ich ausübte.
Ich übte den Beruf des Rechtsanwaltes aus.
Er wusste allerdings nicht, wie ich diesen Beruf konkret ausübte.
Im Wesentlichen ging es um Drogenhandel, Prostitution, Waffen.
Zu meiner Entlastung: Es gab da auch noch einen Kindergarten, um den ich mich kümmerte.
Meinem Therapeuten war grundsätzlich klar, dass ein festes Standbein meines Einkommens als Strafverteidiger naturgemäß die rechtliche Beratung krimineller Mandanten war.
Er wusste...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2021 |
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Reihe/Serie | Achtsam morden-Reihe | Achtsam morden-Reihe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Achtsamkeit • Björn Diemel • Breaking Bad • eBooks • Erleuchtung • fortsetzung achtsam morden • Heimatkrimi • Jakobsweg • Joschka Breitner • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Netflix • Pilgerfahrt • Pilgerreise • Satire • Selbstfindung • Spanien |
ISBN-10 | 3-641-26518-5 / 3641265185 |
ISBN-13 | 978-3-641-26518-2 / 9783641265182 |
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