Polizeiärztin Magda Fuchs - Das Leben, ein ewiger Traum (eBook)

Roman
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2021 | 2. Auflage
544 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43890-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Polizeiärztin Magda Fuchs - Das Leben, ein ewiger Traum -  Helene Sommerfeld
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Stadt des Glanzes, Stadt des Elends Berlin, 1920: Nach den dunklen Kriegsjahren zieht der Glanz der Metropole Menschen aus aller Welt an. Auch Magda Fuchs hofft nach einem schweren Schicksalsschlag hier auf einen Neubeginn. Doch als Polizeiärztin lernt sie schon bald die Schattenseiten der schillernden Großstadt kennen. Vor allem die Schicksale der zahllosen verwahrlosten Kinder halten sie nachts wach. Sie werden skrupellos verkauft, aber die Polizei unternimmt nichts dagegen. Unerwartete Unterstützung erhält Magda von der sich zunächst ruppig gebenden Fürsorgerin Ina und dem etwas fahrigen, aber engagierten jungen Kommissar Kuno Mehring. Mutig bewegt sich Magda in einer Welt aus Korruption und Verbrechen. Doch dann bietet sich ihr die Chance ihres Lebens, von der sie nicht einmal zu träumen gewagt hatte ... Polizeiärztinnen gab es ab 1900 in Berlin. Diese standen zwar im Dienst der Polizei, führten jedoch keine polizeilichen Arbeiten aus, sondern waren zuständig für die medizinische Betreuung der Opfer von Gewaltverbrechen, insbesondere an Frauen und Kindern. Zusätzlich kümmerten sie sich um die gesundheitliche Versorgung der zahlreichen Prostituierten in den Zwanzigerjahren. Das Amt einer Polizeiärztin wurde für eine geringe Entlohnung nur nebenberuflich bekleidet. »>Die Polizeiärztin< entführt einen in die 1920er Jahre nach Berlin. Man spürt die Atmosphäre, ist mittendrin im Geschehen. Gierig saugt man das Leben und die spannende Geschichte auf.« Alex Dengler denglers-buchkritik.de 28.06.2021 »Fesselnder Auftakt einer spannenden historischen Trilogie mit starken Charakteren.« Mainhattan Kurier, 21/2021

Helene Sommerfeld ist das Pseudonym eines in Berlin lebenden Autoren-Ehepaars. Ihre Trilogie um die Ärztin Ricarda Thomasius hat ihre Leser mitten ins Herz getroffen und erreichte Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste.

Helene Sommerfeld ist das Pseudonym eines in Berlin lebenden Autoren-Ehepaars. Ihre Trilogie um die Ärztin Ricarda Thomasius hat ihre Leser mitten ins Herz getroffen und erreichte Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste.

1920

Stulle für den Kommissar


Dieser Lärm! Diese vielen Menschen!

Berlin brüllte und boxte, hetzte und drängelte, schubste und stank. Dennoch bemühte Magda sich, einen Weg durch das mittägliche Gewühl auf dem viel zu schmalen Bahnsteig des Lehrter Bahnhofs zu finden. Wo kamen diese Menschenmassen her? Nie zuvor hatte sie so viele Leute auf einem Haufen gesehen. Sie hob den Arm, um dem Dienstmann, der geradewegs auf sie zukam, zu zeigen, dass sie ihn brauchte, damit er ihr den schweren Koffer abnahm. Ein eleganter Herr mit Bowler-Hut blickte sie kurz abschätzig an – und drückte dem Dienstmann sein eigenes Gepäck in die Hand. Weg waren beide. Magda war so verblüfft, dass sie stehen blieb. Prompt wurde sie angerempelt.

Dass jemand an ihrem Mantel zog, bemerkte sie zunächst kaum, und als sie sich umdrehte, sah sie niemanden, der sich für sie interessieren könnte.

»Kofen Se n Appel!«

Der Arm des kleinen Mädchens schien Magda vom Bahnsteig aus entgegenzuwachsen. Immer weiter näherte sich die Hand mit dem rotbackigen Apfel ihrem Gesicht.

»Du siehst doch: Ich habe keine Zeit.«

Sie war in der Tat spät dran. Kurz vor Berlin hatte der Novembersturm einen Baum auf das Gleis gestürzt, was den D-Zug eine halbe Stunde aufgehalten hatte. Wahrscheinlich würde sie es deshalb nicht rechtzeitig zum Polizeipräsidium am Alexanderplatz schaffen.

Magda eilte mit einem unbehaglichen Gefühl weiter. Nichts hätte sie lieber getan, als dem Kind etwas abzukaufen, aber dies war der denkbar ungünstigste Moment. Obendrein hätte sie mitten im Gedränge entweder den Koffer mit ihrer Kleidung oder die Arzttasche abstellen müssen. Wie konnte das Kind nur auf die Idee kommen, hier seine Äpfel verkaufen zu wollen?

»N Groschen det Stück!«

Widerwillig verlangsamte Magda ihre Schritte, blickte hinab zu dem Mädchen, das neben ihr herrannte. Der Korb war noch voller Früchte, sein Gewicht zog den kleinen Körper schief. Wer bürdete einem Kind eine derart schwere Arbeit auf? Das war ein Verbrechen. Die Kleine würde davon krank werden! Dort, wo Magda gerade herkam, in Hildesheim, hatte der Krieg natürlich auch Armut gebracht. Aber sie sprang nicht derart ins Auge, weil die Menschen in der kleinen Stadt füreinander einstanden.

»Wie alt bist du?«, fragte Magda. Sie war jetzt doch stehen geblieben.

»Na jut: fünf Fennje«, sagte die Kleine.

Magda hörte nur: fünf. Das konnte nicht stimmen. Das Kind mochte höchstens vier sein. »Schickt dich dein Vater mit den Äpfeln los? Bist du nicht viel zu jung für eine solche Arbeit?«

»Wenn Se drei nehmen, kriegen Se die für zwee Groschen!«, rief das Mädchen.

Magda musste lachen. »Na, das ist ja mal eine lustige Rechnung. Ich kaufe dir einen ab.« Sie setzte den Koffer ab, griff in die Tasche ihres Mantels, holte ihre Geldbörse hervor, tauschte Münze gegen Frucht und sah dabei der Kleinen ins Gesicht.

Ihre Haut war schneeweiß, die Augen lagen in schattigen Höhlen, nur auf die Wangen hatte die Anstrengung rote Tupfen gezeichnet. Obwohl es empfindlich kalt war, trug die Kleine weder Mantel noch Kopftuch oder Mütze. Ihr kurzes struppiges Haar leuchtete ungewöhnlich, gelb wie Wachs war es. Ihre Augen waren kristallblau. Nicht der Anflug eines Lächelns lag darin. Es sind alte Augen, dachte Magda und erschrak bei dem Gedanken.

»Wie heißt du?«, fragte Magda. Aber da war die Kleine mitsamt ihrer schweren Fracht schon im Gewühl verschwunden.

Als sie sich nach ihrem Koffer bückte, war er weg.

Ringsum brodelte das geschäftige Treiben, doch Magda stand einfach nur da und ließ sich von allen Seiten knuffen und schubsen. Ihre gesamte Wechselkleidung war verloren. Nur das, was sie am Körper trug, war ihr geblieben.

Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht, als ich diese Arbeit angenommen habe?, schoss es ihr durch den Kopf. Wie soll ich in dieser Stadt zurechtkommen?

Die Menschen um sie herum hasteten vorbei. Krumme Rücken. Müde Gesichter. Blass. Ausgemergelt. Aber sie gingen festen Schrittes weiter. Einfach weiter. Immer weiter.

Ja, was denn auch sonst, dachte sie und umfasste den Griff ihrer Arzttasche fester. Sie durfte nicht aufgeben. Ein gestohlener Koffer war eine Kleinigkeit. Verglichen mit ihrer Vergangenheit, der sie entkommen wollte. Hier, in dieser Riesenstadt, hatte sie vor zu vergessen, was geschehen war. Weil sie niemanden und nichts kannte. Während sie in Hildesheim jede Straße, jedes Haus, jeder Baum an Bertram erinnerte. Ein Neuanfang. Nun ja, zumindest der Versuch, ihn zu wagen. Denn sie hatte ihrer Schwester versprechen müssen zurückzukehren, wenn sie spüren sollte, dass sie es nicht schaffte. Aber der Gedanke an Christa und ihre übergroße Fürsorglichkeit gehörte nicht hierher.

Schließlich war sie jetzt in Berlin und fest entschlossen, sich von so einem dummen Diebstahl nicht unterkriegen zu lassen. Das bisschen Witwenkleidung! Magda atmete durch und trat aus dem Bahnhofsgebäude. Die fremde Stadt empfing sie mit Nieselregen, der ihr mit einem Windstoß ins Gesicht geweht wurde.

 

»Zu wem wollen Se?« Der Beamte in der viel zu oft gewaschenen Polizeiuniform blickte Magda wie ein schlecht gelaunter und übermüdeter Wachhund an. Er saß in einer dunklen Ecke im Eingang hinter einer Glasscheibe mit der Aufschrift Polizeipräsidium Anmeldung.

Von der Stadtbahnstation Alexanderplatz kommend hatte Magda sich darüber gefreut, wie einfach das Polizeipräsidium zu finden gewesen war. Nicht nur, dass der Bau aus rotem Backstein mit seinen vier Stockwerken und den plumpen Türmchen an den Ecken – den die Berliner die Rote Burg nannten – kaum zu übersehen war. Der Eingang lag, praktisch für alle Ankommenden, in der schmalen Dircksenstraße, die parallel zu der auf einem Hochgleis fahrenden Bahn verlief.

»Ich möchte zu Kommissar Wagner. Ich bin …«

Den Satz zu vollenden gelang Magda nicht, denn der so schläfrig wirkende Beamte schnitt ihr das Wort ab: »Name.«

»Magda Fuchs. Ich bin …«

»Wollen Se nen Mord melden?«

»Nein. Ich bin die neue Polizeiärztin. Aber ich …«

»Sind Se neu? Hätten Se gleich sagen sollen. Hier sind Se falsch. Det is der Eingang fürs Publikum. Jibt zwee für Leute wie Sie.«

Magda war so verblüfft, dass sie nichts erwiderte.

»Kommen Se.« Damit schob der Mann seinen spindeldürren Leib aus dem Verschlag heraus. Da ihm ein Bein fehlte, stützte er sich auf zwei Holzkrücken, die er sich unter die Achseln klemmte. Er öffnete eine Glastür und deutete mit einer Krücke in einen langen Gang. »Immer jeradeaus. Dritter Quergang rechts, zweiter links, erster Stock, fünfte Tür links. Allet Jute, Frau Dokta.« Damit ließ er sie stehen.

Nach dem zweiten Quergang begann Magda den Aufbau des Präsidiums zu verstehen: Um möglichst viele Büros auf wenig Raum unterzubringen, hatte man sie um winzige Innenhöfe gruppiert. Auf den verbindenden Gängen begegneten ihr unzählige streng blickende Herren in Anzügen und mit Hüten auf dem Kopf, aber kaum eine Frau. Und obwohl Magda so spät dran war, hatte sie das Gefühl, sich vor dem ersten Gespräch mit dem Kommissar zumindest ein wenig herrichten zu müssen. Doch die Toiletten, an denen sie vorbeikam, waren allesamt mit einem breitbeinigen H beschriftet. Kein einziges weiches D.

Als sie den vermutlich einzigen Rückzugsraum für Damen endlich gefunden hatte, blickte sie ihr müdes, abgekämpftes Gesicht aus dem Spiegel an. Ihr volles kastanienbraunes, leicht gelocktes Haar hatte schon immer vieler Haarnadeln bedurft, um im Zaun gehalten zu werden. Gerade wehrte es sich mit aller Macht gegen den schwarzen Hut, der es niederdrückte. Die Schatten unter ihren hellblauen Augen, die sich dort seit Bertrams Tod wie Trauergäste niedergelassen hatten, die nicht heimgehen wollten, waren noch dunkler. Rasch puderte sie ihr Gesicht, nötigte das widerspenstige Haar in einen strengen Knoten am Hinterkopf und stülpte den Hut über.

»Frau Polizeiärztin«, sagte sie halblaut in das sie kritisch aus dem trüben Spiegel ansehende Gesicht. Und hörte die vorwurfsvollen, aber lieb gemeinten Abschiedsworte ihrer Schwester heute in aller Früh auf dem Hildesheimer Bahnhof: »Du bist doch nicht bei Trost, dir das anzutun, Magda.«

»Ich will nicht länger in meiner Trauer ertrinken, Christa«, hatte sie entgegnet. Jetzt reckte sie das Kinn, packte die Arzttasche und machte sich auf die Suche nach dem irgendwo in den Tiefen dieses riesigen Gebäudes verborgenen Herrn Wagner.

 

Die Flure schienen eng und verwinkelt wie Maulwurfsgänge. Dann wieder tat sich plötzlich eine lange Flucht auf, die auf Magda wirkte, als würden die Wände sich am Ende des Flurs berühren. Auf dem Boden aus grauem Linoleum, der scharf nach Bohnerwachs roch, quietschten Magdas schnelle Schritte. Alle Türen waren geschlossen.

Sollte das etwa ihr täglicher Arbeitsplatz werden? Das hatte sie sich anders vorgestellt. Wenngleich sie sich eingestand, dass sie sich eigentlich gar keine konkrete Vorstellung vom Inneren des weit über die Berliner Stadtgrenzen hinaus bekannten Polizeipräsidiums der Hauptstadt gemacht hatte.

Über die Annonce in der Medizinischen Wochenschrift war sie nur deshalb gestolpert, weil es geheißen hatte: Polizeiarzt (weibl.) gesucht. Stellen, die gezielt für Ärztinnen ausgelobt wurden, waren eine Seltenheit. Aufgegeben hatte das Inserat das Berliner Gesundheitsamt, das künftig für sie zuständig war. Doch in ihrem Vertrag hieß es, sie würde bis auf Weiteres dem Polizeipräsidium zugeordnet sein. Sie solle sich dort mit einem Kommissar Wagner in Verbindung setzen, hatte im Anschreiben...

Erscheint lt. Verlag 2.3.2021
Reihe/Serie Die Berlin-Saga
Die goldenen Zwanziger – das Jahrzehnt der starken Frauen
Polizeiärztin Magda Fuchs
Polizeiärztin, Magda Fuchs
Polizeiärztin Magda Fuchs-Serie
Polizeiärztin Magda Fuchs-Serie
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
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ISBN-10 3-423-43890-8 / 3423438908
ISBN-13 978-3-423-43890-2 / 9783423438902
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