Der Tod in ihren Händen (eBook)

eBook Download: EPUB
2021
256 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27017-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Tod in ihren Händen - Ottessa Moshfegh
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Nach 'Mein Jahr der Ruhe und Entspannung' erzählt Ottessa Moshfegh in ihrem neuen Roman 'Der Tod in Ihren Händen' eine Kriminalgeschichte der anderen Art: spannend, beängstigend, bewegend.
Bei Sonnenaufgang läuft Vesta mit ihrem Hund eine Runde durch den Wald - die tägliche Routine einer einsamen alten Frau -, als sie einen Zettel findet: 'Ihr Name war Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie getötet hat. Hier ist ihre Leiche.'
Obwohl von der jede Spur fehlt, lässt Vesta der Gedanke an einen Mord nicht mehr los. Wer war Magda? Und wer könnte ihr Mörder sein? Die Aufklärung dieser Fragen wird zu Vestas Mission. Doch je tiefer sie sich in den Fall verstrickt, desto deutlicher treten ihre eigenen Abgründe hervor.
Ottessa Moshfegh, eine der aufregendsten Autorinnen unsrer Zeit, schreibt in ihrem neuen Roman über Einsamkeit - und darüber, wie einfach es ist, nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst zu belügen.

Ottessa Moshfegh wurde in Boston geboren und ist kroatisch-persischer Abstammung. Für ihre Romane wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem PEN/Hemingway Award. Zuletzt erschien von ihr der Roman Der Tod in ihren Händen (2021). Ottessa Moshfegh lebt im Süden Kaliforniens. Lapvona ist ihr zweiter Roman bei Hanser Berlin.

Zwei


Der Ort Bethsmane lag sechzehn Kilometer von meinem Haus entfernt. Ich ließ das Fenster bei Charlie und mir herunter, ich streckte den Ellbogen heraus, er hielt die Schnauze in den Fahrtwind und schloss ekstatisch die Augen. Bei der Fahrt in einem großen Bogen um den See kam ich an der zugewachsenen Privatstraße meiner einzigen Nachbarn vorbei. Ihre Zufahrt an einer scharfen Kurve in der Straße war nur daran zu erkennen, dass dort ein rostiger Briefkasten stand. Der dunkle Kiefernwald zog sich bis hinunter an die Route 17, auf der ich nun Richtung Osten fuhr, vorbei an dem kleinen Lädchen mit seiner einen Zapfsäule und Schildern, auf denen heißer Kaffee, Milch, Eier, Angelköder und Eis angeboten wurden. Ich war bisher nur ein paar Mal dort gewesen und hatte Streichhölzer oder andere Notwendigkeiten gekauft, im Winter, als ich zu schläfrig und ängstlich gewesen war, um über die vereiste Straße bis nach Bethsmane hineinzufahren. Der Ladeninhaber war ein ruhiger Mann mittleren Alters mit einem schrecklich entstellten Gesicht. Auf der linken Seite war es von tiefen Pockennarben bedeckt, und in der Mitte, über der Nase, die nur ein kleiner Vorsprung mit zwei abwärts gerichteten Löchern darin war, war ein Hautrechteck wie ein Teppich über das Gesicht gebreitet. Hätte ich raten müssen, wo der Hautlappen herkam, hätte ich gesagt, vom Unterarm des Mannes, da er sonnenverbrannt und faltig aussah, wie bei einem Männerarm, wenn man die Haare abrasierte. Dieses seltsame Stück Haut war auf der Stirn und auf beiden Wangen festgenäht, ein bisschen wie bei einer Bauchrednerpuppe. Die Transplantation endete über dem Mund, der normal war, vielleicht ein bisschen dunkler als bei anderen Menschen. Sein Kinn sah intakt aus, nichts Bemerkenswertes. Wenn der Mann sich nach links drehte und nur seine rechte Körperhälfte sichtbar war, sah er fast gut aus, trotz der klumpigen Nase, die im Profil einer Katzennase ähnelte. Von rechts betrachtet hatte er kräftiges Haar, Stirn, Augenhöhle und Wangenknochen hatten feine Konturen, männlich sah er aus, mit einem guten Auge, nachdenklich und gar nicht dumm. Seine Haare waren sorgfältig gekämmt, wie ich bemerkte, vielleicht weil auch der Haaransatz auf der linken Seite rekonstruiert war. Wenn die linke Seite sichtbar wurde, konnte ich kaum hingucken; das Ohr sah wie eine zerschmolzene Kerze aus. Und die Nase. Die Nase war wirklich schlimm. Es fiel mir schwer, ihm beim Bezahlen in die Augen zu sehen. »Jagdunfall«, hatte er erklärt. Seitdem fragte ich mich, wie es zu so einem Unfall kommen konnte. Wie bekam man einen derartigen Schuss in den Kopf? Ich verstand nicht viel von Gewehren und der Jagd. Im Grunde gar nichts. Jagdflinte. Schrotmunition. Diese Worte hatte ich natürlich schon mal gehört. Ich wusste, dass in der umliegenden Gemarkung Rotwild gejagt wurde, aber in Levant war es verboten. Im Birkenwald oder in meinem Kiefernwald jagte niemand Rehe oder Hirsche. Ich hatte überall Verbotsschilder aufgehängt. Beim Fahren dachte ich darüber nach, ob Magda möglicherweise bei einem Unfall ums Leben gekommen sein mochte. Nicht jeder Todesfall war ein Mord. Aber was ist schon ein Unfall, was ein Zufall? Wenn Pastor Jimmy seine verängstigten Anrufer beruhigen wollte, erklärte er oft im Brustton der Überzeugung, dass »nichts in Gottes Universum zufällig geschieht. Alles hat seinen Grund.« Der alte Spruch.

Bethsmane war hässlich. An jedem zweiten Kleinlaster und Wohnwagen hing ein Verkaufsschild. Eine absurde Idee, dass jemand freiwillig in einen solchen Ort ziehen würde, in einem der heruntergekommenen, aluminiumverkleideten, früheren Werksarbeiterhäuschen wohnen, seine Kinder morgens in die Schule schicken, zur Arbeit fahren — wohin?, um was zu tun? —, abends nach Hause kommen, sich aufs Sofa setzen und fernsehen würde. Das war eine deprimierende Vorstellung. Ich stellte mir vor, was es bei diesen Familien zum Abendessen gab: Bohneneintopf und Nudelauflauf, dazu Orangenlimo und billiges Bier, Schokoladeneis. So wollte ich nicht leben.

Ich bog auf den Parkplatz vor dem Save-Rite ein und ließ das Fenster einen Spaltbreit offen, für Charlie. »Ich bin gleich wieder da. Brauchst nicht zu jaulen.« Im Supermarkt ging ich einmal schnell durch die Obst- und Gemüseabteilung. Furchtbar viel Auswahl gab es nicht, und ich kaufte immer dasselbe: eine Zwiebel, zwei Fleischtomaten, obwohl sie kalt und mehlig schmeckten, eine gewachste Gurke, einen Kopf Weißkohl, einen Kopf Eisbergsalat, zwei Karotten, zwei Zitronen, einen Apfel, eine Orange, einen Beutel blaue Trauben. In der schrecklich kalten Ecke mit der Frischfleischabteilung suchte ich ein ganzes Hähnchen und eine Packung Knochen für Charlie aus. Als Nächstes eine Tüte Milch und eine kleine Packung Hüttenkäse. Dann Kaffee und das halbe Dutzend abgepackte Bagels aus einem Regal gleich bei der Frischbacktheke, wo in einer beschlagenen Auslage neben grell dekorierten Geburtstagskuchen auch Donuts verkauft wurden. Ich sah einer stark übergewichtigen Frau dabei zu, wie sie ein kleines Pergamentpapierquadrat aus dem Spender zog, den vom Dampf beschlagenen Deckel der Glasauslage anhob und sicher ein Dutzend schokoladenglasierte Donuts in eine Papiertüte steckte, einen nach dem anderen, dann leckte sie sich die Finger ab und wischte sie an ihrem zugeknöpften, sehr eng über dem drallen Bauch sitzenden schwarzen Wollmantel sauber. Der Schlitz hinten klaffte auf und war an der Naht eingerissen. Das war der Typ Einwohner, auf die man bei der Fahrt nach Bethsmane meist traf: voluminöse Frauen, fette Walzen, deren plumpe Knöchel fast wegzuknicken schienen, wenn sie ihren mit Junkfood hochbeladenen Einkaufswagen durch die Supermarktreihen schoben. Es war Sonntagvormittag. Ich fragte mich, ob diese Frau wohl die vielen Donuts ganz allein vor ihrem Satellitenfernseher aufessen, sich im Drama ihrer Daily Soaps verlieren oder dem trägen Wunsch nachhängen würde, bei Der Preis ist heiß eine neue Esstischgarnitur oder einen Trip nach Boca zu gewinnen. Die Sendung hatte ich einmal bei meinem Zahnarzt in Monlith im Wartezimmer gesehen.

Ob Magda eine dieser voluminösen Frauen gewesen war? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Hier ist ihre Leiche. Ich sah sie als Jugendliche vor mir, rank und schlank, mit schlechter Haltung und langen schwarzen Haaren, in einer zu großen Collegejacke mit weißen Lederärmeln und dem Aufnäher einer lokalen Sportmannschaft auf dem Rücken, natürlich ironisch gemeint. Ihre Beine waren lang, zu lang für die Jeans, die sie trug. Zwischen dem Hosensaum der Jeans und den weißen Söckchen blitzte ein Streifen Haut heraus. Ihre Turnschuhe waren schwarz oder blau, unauffällig. Verdreckt und abgetragen, aber auf eine charmante Art und Weise, dachte ich. Sie war kein junges Mädchen, das mit hohen Absätzen herumstolzierte und so tat, als sei sie eine Trophäe, die von den Männern errungen werden musste. Aber sie hatte trotzdem etwas ganz Besonderes an sich. Vielleicht waren es Coolness und ein ungeschliffener, von innen kommender Glanz. Bei einem Namen wie Magda muss sie irgendetwas Exotisches an sich gehabt haben. In dieser Hinsicht fühlte ich mich ihr verwandt, da meine Eltern während des Krieges nach Amerika gekommen waren und ihre seltsamen Überzeugungen mitgebracht hatten. Gut möglich, dass Magdas Eltern auch Einwanderer oder vielleicht einfach ihren Traditionen stärker verbunden waren als die Durchschnittsbevölkerung. »Wir nennen sie Magda.« Echt amerikanische Eltern hätten ihrer Tochter nie so einen Namen gegeben. Ich stellte mir vor, dass sie, genau wie meine Eltern, aus Osteuropa stammten, kaltherzige Leute aus einem kalten Land, mit harten Wintern und alten Frauen in Pelzmützen und Schals, Kathedralen, wässrigen Suppen, starkem, selbstgebranntem Schnaps, grauen Städten oder ärmlichen Bauernhöfen und steilen Berghängen, einem einsamen Wolf, der die Dörfer in Angst und Schrecken versetzte, und so weiter und so fort. Vielleicht erinnerte Levant Magda an zu Hause. Ihr machten die verfetteten Frauen im Supermarkt und die ärmlichen, mit Blech verkleideten Häuser nichts aus. Sie fand es schön hier, ja, aber es machte sie auch traurig, an ihre Vergangenheit, ihr Heimatland erinnert zu werden. Levant war eine Art Versteck für sie, ein Unterschlupf. Es ist sehr anstrengend, aus einer Welt in eine völlig andere verpflanzt zu werden. Da verliert man seine Wurzeln, auch wenn man noch so hartnäckig an den Traditionen festhält. Genau das hatte ich bei meinen Eltern erlebt — die Traditionen verändern sich. Das Essen, wie die Feiertage begangen werden, wie man sich kleidet. Man passt sich an, sonst lebt man ewig im Exil. Arme Magda, es muss schwer für sie gewesen sein, sich an das neue Leben zu gewöhnen. Ich fühlte mich ihr sehr nah. In Levant war ich ebenfalls eine Fremde.

Walter...

Erscheint lt. Verlag 25.1.2021
Übersetzer Anke Burger
Sprache deutsch
Original-Titel DEATH IN HER HANDS
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Allergie • Alter • Ausländer • Bagel • Belarus • Betrug • Bibliothek • Detektiv • Deutschland • Ehebruch • eigener Rhythmus • Eindringling • Einsamkeit • Emanzipation • Fantasie • Fast Food • Frausein • Fremdheit • Fruchtbarkeit • Geist • girlscout • Haus • Hund • Insel • jung • Kiefern • Kinder • Krebs • Krimi • Leiche • Magda • Magisches Denken • Messer • Metareflexion • #ohnefolie • ohnefolie • Pfadfinder • Pflanzen • Pillen • Poetologie • Polizei • Polizist • Roman • Rudern • Schönheit • Schreiben • Sterben • Täter • Tyrann • Vergebung • Wagen • Wald • Wein • William Blake • Wissenschaftler
ISBN-10 3-446-27017-5 / 3446270175
ISBN-13 978-3-446-27017-6 / 9783446270176
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