Die Eroberung Amerikas (eBook)

Roman

(Autor)

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2021
544 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-07240-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Eroberung Amerikas -  Franzobel
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Ein Feuerwerk des Einfallsreichtums: Nach dem Bestseller 'Das Floß der Medusa' begibt sich Franzobel in seinem neuen Roman auf die Spuren eines wilden Eroberers der USA im Jahr 1538.
Ferdinand Desoto hatte Pizarro nach Peru begleitet, dem Inkakönig Schach und Spanisch beigebracht, dessen Schwester geschwängert und mit dem Sklavenhandel ein Vermögen gemacht. Er war bereits berühmt, als er 1538 eine große Expedition nach Florida startete, die eine einzige Spur der Verwüstung durch den Süden Amerikas zog. Knapp fünfhundert Jahre später klagt ein New Yorker Anwalt im Namen aller indigenen Stämme auf Rückgabe der gesamten USA an die Ureinwohner.
Franzobels neuer Roman ist ein Feuerwerk des Einfallsreichtums und ein Gleichnis für die von Gier und Egoismus gesteuerte Gesellschaft, die von eitlen und unfähigen Führern in den Untergang gelenkt wird.

Franzobel, geboren 1967 in Vöcklabruck, erhielt u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis (1995), den Arthur-Schnitzler-Preis (2002) und den Nicolas-Born-Preis (2017). Bei Zsolnay erschienen zuletzt der Krimi Rechtswalzer (2019) sowie die in zahlreiche Sprachen übersetzten historischen Romane Das Floß der Medusa (2017) und Die Eroberung Amerikas (2021).

"Mit Verve, Fabulierlust und Mitteln der Volksoper entwirft Franzobel farbenprächtige Bilder und ein Panoptikum skurriler Figuren. So ist 'Die Eroberung Amerikas' Erkenntnis- und Lesevergnügen zugleich, mit einer Utopie am Ende – und preisverdächtig." Cornelia Zetzsche, BR2 KulturWelt, 22.01.21

Der Finger des Kaisers


Spanien, 19. Jahrhundert. Kurz vor der Ausrufung der ersten Republik werden die Särge der Könige geöffnet. Revolutionäre wollen dem Volk zeigen, dass ihre früheren Herrscher gewöhnliche Sterbliche gewesen sind. Und was kommt zum Vorschein? Philipp der Zweite ist ein Häufchen Elend, Philipp der Dritte ziemlich ramponiert, und auch Philipp der Vierte hat schon einmal besser ausgesehen, nur Karl der Fünfte, Stammvater aller Philipps, ist erstaunlich gut beisammen, wenn man bedenkt, dass er über dreihundert Jahre Zeit gehabt hat zu verwesen. Einem Leonardo di Caprio hätte er keine Konkurrenz gemacht, in den Augenhöhlen wohnen Spinnen, das Nasenbein ist von brüchiger Haut bedeckt, und die Zähne gleichen den Zehen eines Greises, doch die herben Gesichtszüge sind zu erkennen, selbst der Vollbart lässt sich erahnen.

Am 14. September 1870 steckt der Student Raimundo Fernández Villaverde, Markgraf von Pozo Rubio, einem Wächter zwanzig Reales zu, bittet ihn, kurz wegzusehen, und bricht dann dem toten Kaiser den kleinen Finger seiner linken Hand ab — wie einen Milchzahn reißt er ihn aus. Das Geräusch erinnert an das Zerteilen eines Brathuhns. Was den nachmaligen Ministerpräsidenten zu dieser Tranchieraktion bewogen hat? Weder ist es eine Wette, noch hat er Verwendung für den imperialen Knochen. Damit rührt man schließlich nicht den Tee um oder pult sich Speisereste aus den Zähnen. Fingerfood gibt es nicht. Raimundo Fernández Villaverde, Markgraf von Pozo Rubio! Wir erwähnen diesen Namen, lang wie eine Eisenbahngarnitur, damit Sie die Geschichte überprüfen können.

War der Finger des einst mächtigsten Herrschers, mit dem der Kaiser in der Nase gebohrt und sich an geheimen Körperstellen gekratzt hat, ein Glücksbringer? Eine habsburgische Hasenpfote? Die Geschichte dieses kleinen Fingers endet hier nicht, doch springen wir vorerst zurück in jene Zeit, als die kaiserlichen Hände noch vollzählig waren, zum 20. April 1537: An diesem Freitag nämlich hat Karl der Fünfte mit seinem Digitus minimus — dem kleinen Finger — Muster in den Tisch gezeichnet und sich am Kinn gekratzt. Es war der Tag, an dem Ferdinand Desoto den kleinen Finger der heutigen USA bekam — Florida.

Wir befinden uns in Valladolid, wo damals das reinste royale Spanisch gesprochen wurde. Dicke Schneeflocken taumeln vom Himmel, die Menschen lächeln über dieses Naturschauspiel. In den Nasen stecken Kälte und abgestandener Rauch von Glutnestern. Wie hypnotisiert ist Ferdinand Desotos Blick auf diese Scheiterhaufenreste gerichtet. Hier hatte Feuer Fleisch gefressen, Menschen zu Staub gemacht — dagegen war ein abgetrennter Finger ein Klacks. Nein, keine Verbrennungen von Stellvertretern, keine Puppen in der Kleidung von Verurteilten, sondern richtige Menschen, Fleisch und Blut waren hier abgefackelt worden.

Scheiterhaufen waren im 16. Jahrhundert populär. Es gab weder Fernsehen noch Internet. Die Theater waren so schlecht, dass dem Publikum die Füße einschliefen, Fußball war noch nicht erfunden, und Stierkämpfe fanden nur zu Festtagen statt. Was blieb, waren Hinrichtungen — Köpfen, Rädern, Vierteilen. Schleifen, Hand abhacken, flüssiges Blei in Wunden gießen. Die Unterhaltungsindustrie hatte sich einiges einfallen lassen, um die Leute bei der Stange zu halten. Am beliebtesten waren Verbrennungen. In Andalusien, Aragón, Katalonien, ja, selbst im Baskenland, es brannte überall. Damals war es noch unüblich, die Verurteilten vorher gnadenhalber zu erdrosseln, also blieb das Spektakel der Inflammation, wenn Haut platzte, sich vom Fleisch rollte, Augäpfel wie erschreckte Schnecken aus den Höhlen sprangen, der Mensch so allein war, wie er es nur sein konnte.

Die Feuerteufel hatten sich zu einem Dachverband namens Inquisition zusammengeschlossen. Seit man 1492 Granada erobert und die Reconquista abgeschlossen hatte, war der Krieg ins Innere verlagert worden. Nun ging es für die Rückeroberer Spaniens, sofern sie nicht gerade Amerika plünderten oder sich auf Kreuzzügen austobten, gegen Juden, Konvertiten, Moslems, Ketzer, Hexen, Ehebrecher, Zinswucherer, Bettler, Vagabunden. Zumindest behauptet das die Legende, die die spanische Inquisition als besonders fanatisch verteufelt. Wer den Mächtigen nicht zu Gesicht stand, wurde gefoltert, dann nach allen Regeln der Rechtswissenschaft verurteilt, mit der Schandmütze versehen und verbrannt.

Anschließend bekamen die Angehörigen die Rechnung zugestellt — zwölf Reales für den Folterknecht samt Gehilfen, dreißig für den Richter, acht für die Unterbringung und Verpflegung im Folterkeller. Gerichtskosten, Scharfrichter, Errichtung des Scheiterhaufens …

Ferdinand Desoto gehörte zu den berüchtigsten Gestalten seiner Epoche. Wenn sein Name heute in Vergessenheit geraten ist, so nur deshalb, weil ihn sein Ehrgeiz in die Irre führte. In der Zeit, von der wir reden, war es schwer, sich einen Namen zu machen. Er hat es geschafft. Aber ein Menschenleben war damals nicht viel wert, es herrschte die Willkür einer privilegierten Obrigkeit, dazu die Feuerteufel der Inquisition. Desoto waren die Verbrannten egal. Für ihn waren das Leute, die die Ordnung störten, und trotzdem konnte er den Blick nicht von den Glutnestern wenden, in denen jetzt Schneeflocken zergingen wie gestern Ketzer, die so abscheuliche Sachen wie Gleichheit aller Menschen oder Besitzlosigkeit gefordert hatten.

Desoto, mittelgroß, feine Gesichtszüge, schwarzer Knebelbart, traurige Augen und eine etwas zu lange Nase, war ein ernster Mensch. Heute war ein entscheidender Tag, der wichtigste in seinem Leben, heute traf er den mächtigsten Menschen auf Erden, den Kaiser, der damals noch alle Finger an der Hand hatte. Heute entschied sich Ferdinand Desotos Schicksal.

Er hatte die Hälfte seiner zweiundvierzig Jahre in Westindien verbracht, Panama und Nicaragua erobert, Francisco Pizarro bei der Eroberung Perus begleitet, dem Inkakönig Atahualpa die Grundbegriffe von Schach und Spanisch beigebracht, dessen Schwester geschwängert und mit dem Verkauf von Sklaven genug verdient, um sich in seinem Palast in Jerez de los Caballeros die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen.

Ein bewunderter Held, der sich in den Ruhestand begeben konnte, um mit seiner Frau am Nachwuchs zu basteln und sich der Jagd und dem Tennis zu widmen, aber die Vorstellung daran bereitete ihm Magenschmerzen. Jerez de los Caballeros war keine Herausforderung.

Ferdinand Desoto war unzufrieden. Es gab reichere Grafen, größere Schlösser und Männer, die mehr besaßen, obwohl sie ihr Leben nicht in den Kolonien riskiert hatten. Wozu sich mit Schweinebauern, Korkfabrikanten, Winzern und Hirten streiten, wenn es wichtigere Aufgaben gab?

Also hatte er seine Kumpane versammelt: Luis de Moscoso, Nuño de Tobar, Francisco de Maldonado, Juan de Añasco und Rodrigo Ranjel — Männer, mit denen er in Peru gewesen war, deren Namen so schwer waren, dass sich beim Aussprechen die Zunge verknotete. Mit ihnen wollte er sich einer neuen Unternehmung widmen, seiner, wie seine Frau es nannte, fixen Idee.

— Das wird die Geschichte von sechs Männern, die ein neues Reich gründen, verkündete er. Eine Geschichte, die uns reich machen wird. Kinder werden unsere Namen lernen, ganz Europa wird uns kennen als Könige von Amerika. Das war es, was ihm vorschwebte, ein Königreich in Mittelamerika.

Moscoso, Moskito genannt, ein kleiner Mann mit Vogelnestfrisur, der keinen Alkohol vertrug, gefiel die Idee, sich dort ein Palais mit einem noch größeren Weinkeller zu bauen, als ihn die Pizarros in Trujillo planten. Auch Nuño, ein frühneuzeitlicher Brad Pitt mit einem Pierre-Brice-Kinngrübchen, war begeistert. Der an Sancho Panza gemahnende, aber eitle Maldonado, genannt Nero, der ständig Frauen … »den Süßen« … Küsschen zuwarf, phantasierte von einer indianischen Prinzessin. Añasco vulgo Plattnase, der immerzu von seiner Heimatstadt Granada schwärmte, war auf Abenteuer aus. Und dann war da noch der kleinwüchsige Rodrigo, Stummel, mit der vorgewölbten Stirn, die ihn wie einen Bruder der Zwergin in Velázquez’ berühmtem Bild aussehen ließ. Ein Zyniker, der für einen Gott gehalten werden wollte. Für einen Zwerg zu groß und für einen ausgewachsenen Menschen zu klein, weshalb er sich für eine eigene Rasse hielt, älter und würdiger als alle anderen: »Niemand ist größer als ich!«

Moskito, Nuño, Nero, Plattnase und Stummel, das war Desotos’ Buberlpartie. Seine Brüder? Nein, Männer, denen er sich verpflichtet fühlte. Wirklich nahe waren sie ihm nicht, weil er niemanden an sich heranließ.

— Die Inka beweihräucherten uns nicht, weil wir so stanken, polterte Stummel, sondern weil sie uns für...

Erscheint lt. Verlag 25.1.2021
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 16. Jahrhundert • Anwalt • Bayrischer Buchpreis • Das Floß der Medusa • Donald Trump • Egoismus • Expedition • Ferdinand Desoto • Florida • Gier • Gleichnis • Indigene • Kapitol • Klima • Longlist Deutscher Buchpreis 2021 • New York • Österreich • Peru • Rechtswalzer • Shortlist Deutscher Buchpreis • Ureinwohner • Wien
ISBN-10 3-552-07240-3 / 3552072403
ISBN-13 978-3-552-07240-4 / 9783552072404
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