Wiener Wind: Historischer Kriminalroman -  Simon Müllauer

Wiener Wind: Historischer Kriminalroman (eBook)

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2020 | 1. Auflage
200 Seiten
Federfrei Verlag
978-3-99074-127-6 (ISBN)
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Wien 1918. Der im Krieg dekorierte aber desillusionierte Soldat Emil Dvorak kommt in ein Wien, das er so nicht kennt. Angesichts ausgehungerter und zitternder Gestalten, die sich um Lebensmittel anstellen, fasst er einen Entschluss: Mit Hilfe seines Freundes Johann und dessen Freundin Karoline will er Lebensmitteltransporte des Schwarzmarktkönigs Kocinzki überfallen und die Waren an die Armen von Wien verteilen. Doch Kocinzki sieht in Dvorak einen Konkurrenten. Ein spannendes Katz und Maus-Spiel vor der tristen Kulisse von Wien in der Nachkriegszeit.

Für Valentine und Peter,

ohne die es dieses Buch nie gegeben hätte.

 

 

Kapitel 1


 

Langsam ging er an der langen Menschenschlange vorbei. Er schaute sich jeden Einzelnen genau an, doch das Einzige, was er erkennen konnte, waren ausgehungerte und zitternde Gestalten. Vor ein paar Jahren hätte er es noch für unmöglich gehalten, so kaltherzig an diesem Haufen vorbeizugehen, doch die Gewohnheit ermöglichte es. Die letzten Jahre hatten ihn, wie so viele andere auch, abgehärtet.

Sie alle hofften, durch ihr teilweise stundenlanges Warten ein Stück Brot oder gar einen Schluck Milch zu ergattern, während ihnen ein kühler Wind um die Ohren pfiff. Es war derselbe Wind, der fast jeden Tag in Wien wehte. Egal zu welcher Jahres- oder Tageszeit. Trotzdem schaffte es dieser nie, den Dreck von der Stadt zu wischen.

Ganz im Gegenteil, es wirkte für ihn so, als ob der Wind in den letzten Jahren immer mehr Unrat in die Straßen getragen hätte.

Der Schwarzmarkt florierte, die Unterwelt verdiente sich damit eine goldene Nase. Die Menschen verhungerten, und es schien keinen Ausweg aus dem Chaos zu geben. Die Politik schaute zu und paktierte, die Polizei war korrupt. Einst war Wien die goldene Donaumetropole gewesen, so wurde es jedenfalls immer behauptet. Doch nun war die Stadt in eine finstere Zeit gestürzt worden, und das Wetter schien sich an diese Tristesse anzupassen.

Fröstelnd und diesen düsteren Gedanken nachhängend, zog er seinen Mantelkragen in die Höhe. Ein letztes Mal blickte er auf die Menschenschlange neben ihm. Es war schon ein bizarrer Anblick. Wenn man »in der Reihe für etwas Anstellen« als Sportart ausrufen würde, diese Menschen würden sich alle ein Duell um den Weltmeistertitel liefern.

Er bog in eine Seitengasse ein, in der er ein wenig vor dem Wind geschützt wurde. Das war wettertechnisch wenigstens eine kleine Abwechslung und bot ihm eine Verschnaufpause. Wien, die goldene Metropole. Falls vor dem Krieg wirklich ein gewisser Glanz über der Stadt lag, war nicht mehr viel davon übrig, dachte er sich.

Als seine Eltern damals aus Böhmen in die große Metropole gezogen waren, hatten sie geglaubt, die Monarchie würde ewig halten und Wien wäre irgendwann die Hauptstadt der Welt. Man musste den beiden zugutehalten, dass die von den Habsburgern beherrschten Völker diesen Eindruck vermitteltet bekamen. Doch schon bald erkannten sie, dass die Stadt nur für die, die es sich leisten konnten, wie Gold glänzte.

Angefangen von zu wenig Lohn über schlechte Arbeitsbedingungen; vor dem Krieg war das Leben auch nicht leicht gewesen. Damals war ihnen eine Sache entgegengeschlagen, die nützlich war, um später einen Krieg gegen andere Völker anzuzetteln. Der Hass der Wiener auf das Fremde, auf das, das sie nicht kannten und nicht zu ihnen gehörte. Seine Familie musste schon in seinen Jugendjahren oft gegen Vorurteile und böse Unterstellungen kämpfen. Wenn er als kleiner Bub vom Einkaufen auf dem Weg nach Hause war, kam es nicht selten vor, dass er von irgendeinem Passanten des Diebstahls bezichtigt wurde. Also wurde er schon als Kind gezwungen, sich gegen einen nicht unerheblichen Teil seiner Mitmenschen durchzusetzen. Das prägte ihn und führte dazu, dass er schon früh in seinem Leben anderen Menschen gegenüber eine gewisse Vorsicht walten ließ.

Zum Glück fand sein Vater schnell eine Anstellung in einer Fabrik. Arbeiter wie sein Vater waren billige Arbeitskräfte, und so war es nicht weiter verwunderlich, dass ganze Berufsgruppen zum größten Teil aus Zuwanderern bestanden. Der berufliche Alltag war hart, schwer und brachte nicht viel Geld ein, es war jedoch allemal besser, als irgendwo in einem Dorf in Böhmen zu sitzen und gar keine Arbeit zu haben.

Als er zur Welt kam, lebte seine Familie in einer kleinen Wohnung in Favoriten. Diesen Bezirk kannte er durch seine kindlichen und jugendlichen Streifzüge wie seine Westentasche. Seinen Vater sah er in dieser Zeit nicht oft, der arbeitete sich seinen Rücken schief und krumm für einen immer kleiner werdenden Lohn, bei einer immer schwerer werdenden Tätigkeit. Für ihn war es normal, dass sein Vater selten zu Hause war. Vielen Kindern ging es nicht anders.

Erst viel später merkte er, dass er gerne mehr Zeit mit ihm verbracht hätte. Mit den Jahren wurde die wirtschaftliche Lage immer schwieriger, und seine Eltern mussten immer sparsamer mit ihrem Geld umgehen. Als Kind spürte er diese Pro­bleme, die mit immer höherer Geschwindigkeit auf sie zurasten, nicht. Seine Mutter schottete ihn davor ab. Wenn er nicht mit seinen Freunden durch die Gassen Wiens einem Fetzenlaberl hinterherjagte, saß er in der Schule oder zu Hause und lernte, denn Bildung war seiner Mutter wichtig. Immer wieder sagte sie, dass es ihm später, wenn die Zeiten besser wären, zugutekommen würde.

Eines Tages hielt es sein Vater nicht mehr aus. Er beschloss, etwas gegen die immer häufigeren Lohnkürzungen und unzumutbar langen Arbeitszeiten zu unternehmen. Deshalb gründete er mit ein paar Kollegen, eine Gewerkschaftszelle in ihrem Betrieb. Sie waren stets auf der Hut, sein Arbeitgeber sollte nicht merken, wer Flugblätter verteilte oder mit den Arbeitern Diskussionen führte. Seine Mutter sagte ihrem Mann oft, dass sie Angst hatte, Angst um ihn und um ihren gemeinsamen Sohn, der ja schließlich auch etwas zu Essen bräuchte. Sie könne hungern, das Kind aber nicht, und das machte ihr am meisten Sorgen.

Am Ende dieser Diskussionen bestärkte sie ihn trotzdem, weiterzumachen, da sie wusste, dass ihr Mann das Richtige tat. Sein Vater wurde von seinen Kollegen oft als »unverbesserlicher Sturkopf« bezeichnet. Das war einerseits ein Kompliment, andererseits wollten sie ihn damit auch warnen, nicht zu weit zu gehen. Sie alle wussten, dass Menschen wie sie ihre Arbeit schnell verlieren können. Doch er ließ sich von niemandem beschwichtigen, bis er es eines Tages die Grenze überschritt. Am Anfang hörte sich der Fabrikbesitzer die Forderungen noch an. Diese umfassten einfache Verbesserungen in der Fabrik, wie mehr Gehalt, kürzere Arbeitszeit, mehr Pausen. Sein Vater saß am Abend oft am Esstisch und seufzte: »Freiwillig wird er unsere Forderungen wohl nie erfüllen.« Er sollte Recht behalten. Als Forderungen nach einer offiziellen Vertretung der Arbeiter laut wurden, reichte es seinem Chef und er setzte seinen Vater und ein paar andere Wortführer vor die Tür. Von einem Tag auf den anderen standen diese ohne Arbeit da.

Arbeitslos sein hieß für sie, noch mehr am Hungertuch zu nagen, denn die Monarchie kümmerte sich nicht um ihre Arbeitslosen.

Die Not der Menschen war den hohen Herren nicht so wichtig. Wichtig war ihnen das, wo sie ihr Geld investierten: Militärmusik und schöne Uniformen.

Sein Vater prangerte diese Missstände und Ungerechtigkeiten immer wieder an, aber die schlechte Erfahrung, die er in der Vergangenheit gemacht hatte, ließ ihn nicht mehr an das Gute glauben. Er zweifelte daran, dass sich das Blatt noch einmal zu seinen Gunsten wenden würde. Als er und die anderen Rädelsführer entlassen wurden, trauten sich die übrigen Kollegen nicht, etwas dagegen zu unternehmen. Das enttäuschte seinen Vater zwar, doch im Grunde konnte er ihnen nicht einmal böse sein. Sie alle mussten Familien ernähren, die auf den kargen Lohn angewiesen waren und von diesem eher überlebten als lebten. Noch dazu waren sie austauschbar wie Vieh auf einem Bauernhof. Sollte einer hinausgeworfen werden, gab es tausende andere, die seine Arbeit machen würden, und das für einen geringeren Lohn.

Oft kamen Bekannte und Verwandte von ihnen zu Besuch, das war die Zeit von hitzigen, politischen Diskussionen, denn die Zeichen standen auf Krieg. Manch einer verschloss die Augen davor, versuchte so weiterzuleben wie bisher und sagte dann Sätze wie: »Irgendwann wird der Kaiser schon merken, dass Kapellen und Uniformen nicht das Wichtigste sind.«

Sie lebten wie ein Frosch, der in einem silbernen Topf langsam gekocht wurde, es aber nicht bemerkte. Sein Vater steckte wenig Hoffnung in die Vernunft des Kaisers und des Adels, wusste andererseits aber auch nicht, was man dagegen hätte tun können. Am Ende des Tages sollte er Recht behalten. Die Zeitungsjungen riefen es voller Inbrunst heraus: »Der Kronprinz wurde in Sarajevo erschossen!« Solche Nachriten waren für die Zeitungen Gold wert, weil man mit schlechten Nachrichten wunderbar Geld machen konnte.

Richtige Trauer wollte bei vielen nicht aufkommen. Endlich war ein Grund vorhanden, der Welt zu zeigen, wie groß und stark die Monarchie und wer der wahre Herr am Balkan war. Jetzt würde man sehen, was für eine Macht das wundervollste Land der Welt besaß.

Für manche war es wohl der lukrativste Tod eines Menschen, den man sich vorstellen konnte, denn nun war es wieder da - das große Geschäft mit dem Krieg. An dieser Situation gab es für alle etwas zu haben, der einfache Mann von der Straße konnte fahnenschwenkend und patriotische Parolen brüllend mit herausgestreckter Brust die Straßen rauf und runter stolzieren und sich dabei wie ein Held fühlen. Die Generäle würden endlich wieder ihre schönen Uniformen ausführen können und dabei stolz ihre...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-99074-127-6 / 3990741276
ISBN-13 978-3-99074-127-6 / 9783990741276
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