Der Sessel (eBook)

Eine Spur in den Holocaust und die Geschichte eines ganz normalen Täters

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
384 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43789-9 (ISBN)

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Der Sessel -  Daniel Lee
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Ein rätselhafter Fund führt in eine dunkle Vergangenheit Eine Studentin kauft in Prag einen alten Sessel - und entdeckt darin Jahrzehnte später persönliche Papiere eines Deutschen aus der NS-Zeit. Daniel Lee erfährt von der Geschichte und beginnt nachzuforschen: Wer war der Mann? Wie lebte er? Akribische Recherchen offenbaren: Der Vorbesitzer des Sessels war SS-Obersturmführer und nahm am brutalen deutschen Vernichtungskrieg in Russland teil, ab 1943 beaufsichtigte er die Rekrutierung und den Einsatz von Zwangsarbeitern in Prag. Sein Werdegang steht beispielhaft für die vielen »normalen« Menschen, die in der verbrecherischen Maschinerie des NS-Regimes dienten. Zugleich wird deutlich: dieses Erbe lastet mit traumatischen Spätfolgen auf den Nachkommen von Tätern und Opfern.

Daniel Lee ist Historiker. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Zweite Weltkrieg, der Holocaust sowie die Geschichte der Juden in Frankreich und Nordafrika. Er promovierte in Oxford und hatte Lehraufträge am Institute of Historical Research, am European University Institute, in Yad Vashem und am United States Holocaust Memorial Museum. Derzeit lehrt er Modern French History an der University of London. Er verfasst regelmäßig Rundfunkbeiträge für die BBC und lebt in London.

Daniel Lee ist Historiker. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Zweite Weltkrieg, der Holocaust sowie die Geschichte der Juden in Frankreich und Nordafrika. Er promovierte in Oxford und hatte Lehraufträge am Institute of Historical Research, am European University Institute, in Yad Vashem und am United States Holocaust Memorial Museum. Derzeit lehrt er Modern French History an der University of London. Er verfasst regelmäßig Rundfunkbeiträge für die BBC und lebt in London.

EINFÜHRUNG


Als sie sich am Morgen des 6. März 1936 auf den Weg zur Arbeit machten, hatten die meisten Bewohner von Stuttgart ganz normale Pläne für das bevorstehende Wochenende. Die Stimmung war anders als in den Wochen zuvor. Die Olympischen Winterspiele waren vorbei, und die Spannung der sportlichen Höhepunkte war abgeflaut.1 Die Spiele waren die erste große Gelegenheit für das nationalsozialistische Regime, der Welt zu zeigen, welche erstaunlichen wirtschaftlichen Fortschritte Deutschland gemacht hatte. Unter anderem hatte man gehofft, die Gerüchte über die Unterdrückung der politisch Andersdenkenden und der Juden zum Schweigen zu bringen, aber als die Abschlusskundgebung vorbei war und die ausländischen Besucher abreisten, wurden die bunten Fahnen eingeholt und die antisemitischen Slogans kamen wieder zum Vorschein.

Die jungen Juristen in der Abteilung IIIc der Württembergischen Politischen Polizei sahen einem ruhigen Wochenende ohne besondere Vorkommnisse entgegen. Als das Klappern der Schreibmaschinen und das Klingeln der Telefone erstarb, verließen Walter, Wilhelm, Kurt, Rudolf und Robert ihr Büro im ersten Stock des ehemaligen »Hotel Silber«, einem eindrucksvollen Neo-Renaissance-Gebäude in der Nähe des Alten Schlosses. Aber das Wochenende war alles andere als ruhig. Hitler hatte sich entschlossen, mit dem Versailler Vertrag zu brechen und die Wehrmacht ins Rheinland einmarschieren zu lassen. Die politischen und militärischen Folgen dieser Maßnahme waren ganz unabsehbar, und die Männer hatten sicherlich viel zu besprechen, als sie am Montag wieder in ihre Dienststelle kamen.

Die fünf bildeten eine eng verbundene Gruppe und hielten sich meist abseits von den übrigen 200 Beamten im »Hotel Silber«.2 Sie waren alle Ende 20 oder Anfang 30, und drei von ihnen hatten in Tübingen Jura studiert. Mit Ausnahme von Kurt Diebitsch waren sie erst nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 in die Abteilung IIIc gekommen. Sie und ihre Familien verkehrten auch gesellschaftlich miteinander, außerhalb des strengen Reglements in der Dienststelle. Erst vor einem Monat hatten sie die Hochzeit des hochgewachsenen, dunkelhaarigen, stets korrekt gekleideten Robert Griesinger gefeiert. Er war der jüngste von ihnen und hatte nach einer ziemlich anstrengenden Probezeit Gisela, seine Verlobte aus Hamburg, geheiratet.

Die Abteilung IIIc hatte seit dem Reichstagsbrand im Jahre 1933 wesentlich dazu beigetragen, dass die NSDAP sich in Stuttgart durchsetzen konnte. Sie bestand nicht aus gewöhnlichen Polizisten. Das »Hotel Silber« war vielmehr seit 1933 das Hauptquartier der Württembergischen Politischen Polizei, die schon bald offiziell in Geheime Staatspolizei (Gestapo) umbenannt werden sollte. Sie nahm alle sechs Stockwerke – 120 Zimmer – des ehemaligen Hotels ein. Im Keller waren die berüchtigten Folterzellen. Bis heute vermeiden ältere Bürger die Dorotheenstraße wegen der schrecklichen Geschichten, die sie von ihren Eltern über das »Hotel Silber« gehört haben.

Walter Stahlecker war der Leiter des Württembergischen Politischen Landespolizeiamtes, ein schlanker Mann mit runder Brille, Geheimratsecken und straff zurückgekämmtem, glänzendem Haar. Im Krieg sollte er Befehlshaber der Einsatzgruppe A werden, die allein im Jahr 1941 im Baltikum fast 250 000 Juden ermordete. Sein untersetzter blonder Stellvertreter Wilhelm Harster wurde Chef der Sicherheitspolizei und des SD in den Niederlanden und war für die Deportation von 100 000 Juden verantwortlich. Rudolf Bilfinger wurde 1937 ans Hauptamt Sicherheitspolizei in Berlin versetzt, wo er am Aufbau des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) mitwirkte, 1942 kommissarischer Leiter der Gruppe II A (Organisation und Recht) wurde und an mehreren Besprechungen zur »Endlösung der Judenfrage« im RSHA teilnahm.3 1940 war er Verwaltungsleiter beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) in Krakau, 1943 Leiter der Sicherheitspolizei und des SD-Einsatzkommandos Toulouse in Frankreich, 1944/45 wieder beim BdS in Krakau.

Während die Karrieren dieser drei Männer in den Untersuchungen über das NS-Regime vielfältig belegt sind, kann man dies über Kurt Diebitsch, der 1941 im Verlauf des Überfalls auf die Sowjetunion starb, ebenso wenig sagen wie über den frisch verheirateten Robert Griesinger. Man weiß nur, dass er sich am Ende des Krieges in Prag aufhielt.

Der Nationalsozialismus hatte fürchterliche Auswirkungen und beschäftigt uns heute, viele Jahrzehnte später, noch immer. Aber die meisten kennen nur eine Handvoll Namen, von denjenigen, die hohe Ämter hatten oder zu Hitlers innerem Kreis gehörten. Über Leute wie Diebitsch oder Griesinger, die nicht in Filmen, Dokumentationen oder Geschichtsbüchern auftauchen, weiß man fast nichts. Die Männer in diesen unteren Rängen sind doppelt unsichtbar: Die Historiker haben sie übersehen, und die heute noch lebenden Angehörigen haben sie vergessen, die Erinnerung an sie verdrängt oder wissen fast nichts mehr, weil sie zu jung waren. Die mühselige Aufgabe, sie zu identifizieren und den Erfahrungen solcher Randfiguren nachzuspüren, ist insofern lohnend, als sich daraus weitergehende Erkenntnisse über das Maß an Zustimmung und den Konformismus im NS-Regime ergeben. Solche verlorenen Stimmen aus der Vergangenheit zu entdecken befähigt uns, die Frage nach Verantwortung, Schuld und Täterschaft neu zu stellen. Sie tragen auch zu unserem Verständnis über den Aufstieg und die innere Struktur des NS-Regimes bei.

Dieses Buch erzählt zwei miteinander verknüpfte Geschichten. Das eine ist die Lebensgeschichte des jungen Juristen Robert Griesinger. Das andere ist die Geschichte, wie ich auf das Leben dieses Mannes gestoßen bin. Sie erzählt von Zufällen, Nachforschungen, überraschenden Anrufen, Familienlegenden, echtem und absichtlichem Vergessen, von Sackgassen und der Art und Weise, wie die verstörenden Entdeckungen das Leben von Griesingers Kindern veränderten. Seine Biografie hat mich interessiert, weil sie ein Schlaglicht auf den profanen Alltag und die Mechanismen des NS-Regimes wirft. In die zweite Geschichte bin ich persönlich verwickelt, denn bei meiner Suche nach Griesinger lernte ich neben vielen anderen Menschen auch seine beiden noch lebenden Töchter Jutta und Barbara kennen, die 1937 und 1939 geboren sind. Ihr Vater war gestorben, als sie noch Kinder waren, und seine Abwesenheit hat lange Schatten über ihr Leben geworfen. Sie erzählten mir, was sie von ihm wussten, aber sie sahen mich auch ihrerseits als Informationsquelle. Griesingers Töchter sind die Kinder eines Täters und er ist für sie alles andere als eine Randfigur. Dass ich so viel Zeit mit ihnen verbrachte, hat die üblichen Grenzen zwischen dem Historiker und seinem Gegenstand aufgehoben – in zweifacher Hinsicht. Sie waren begierig auf alle Einzelheiten, die ich ihnen berichten konnte, weil sie sich ein Bild von dem Vater machen wollten, den sie kaum kannten. Und mir, als einem jüdischen Historiker, dessen Familie von den Katastrophen und Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust schwer gezeichnet ist, war die Zweideutigkeit meiner Rolle stets bewusst.

Die Tatsachen zu ermitteln war eine Frage der Gerechtigkeit für mich. Ich wollte alles über Griesinger wissen, diese scheinbare Randfigur. Ich wollte wissen, inwieweit er schuldig war. Jutta und Barbara wurden für mich zu Stellvertreterinnen des Vaters; sie sollten, aus meiner Sicht, für seine Taten bezahlen, indem sie Zeugnis ablegten und das Beweismaterial anerkannten, das ich vor ihnen ausbreitete. Zu den Fragen über seine Beteiligung an den Verbrechen des NS-Regimes wussten sie wenig zu sagen, sie hatten kaum Erinnerungen und man hatte ihnen auch nichts erzählt. Ihre lebendigsten Geschichten waren wie Traumbilder: eine kleine Porzellantoilette auf seinem Schreibtisch; seine blutgetränkte helle Leinenjacke, als er den verletzten Hund der Familie zum Tierarzt trug; die grünen Umhänge, die sie anhatten, als sie mit ihrer Mutter am Ende des Krieges aus Prag flohen. Während meiner Gespräche mit ihnen drehten sich ständig anklagende Fragen in meinem Kopf: Wieso habt ihr das nicht gewusst? Warum wollt ihr ihn schützen? Aber als ich sie Jahrzehnte nach dem Tod ihres Vaters kennenlernte, als völlig Fremder, waren sie gastfreundlich und gaben gern Auskunft. Für sich genommen, als Menschen, waren sie mir sehr sympathisch. Und in einer Hinsicht hatten sie das Gleiche erlebt wie ich selbst: Sowohl in ihrer als auch in meiner Familie waren die traumatischen Kriegsjahre in ein bedrückendes Schweigen gehüllt, das mit der Zeit chronisch wurde. Die unausgesprochenen Dinge hatten eine spürbare, belastende Qualität angenommen, gerade weil niemand zugeben wollte, dass es sie gab.4

Wir wissen immer noch viel zu wenig darüber, wie die unteren Beamten und Funktionäre in den Dreißiger- und Vierzigerjahren gelebt und was sie getan haben, aber Griesingers Biografie hilft uns ein Stückchen besser zu verstehen, warum die nationalsozialistische Herrschaft möglich war.5 Die berüchtigten Fanatiker und Mörder hätte es ohne die zahllosen Helfer nicht geben können, die das Regime in Gang hielten, die Akten führten. Sie lebten Seite an Seite mit den Opfern des Regimes. Griesinger zeigt auch, wie schwierig es ist, einzelne Personen den üblichen Kategorien zuzuordnen, in die man die deutsche...

Erscheint lt. Verlag 19.2.2021
Übersetzer Lutz W. Wolff
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Amsterdam • Drittes Reich • Historisches Sachbuch • Judenverfolgung • Nationalsozialismus • NS Biographie • NS-Staat • NS Verbrechen • Persönliche Geschichte • Prag • Sachbuch Neuerscheinung 2020 • Sachbuch Neuerscheinung 2021 • Sachbuch NS-Zeit • Spurensuche • Täterbiografie • Täterbiografien • Tschechoslowakei • Ukraine • Zeitgeschichte • Zwangsarbeiter
ISBN-10 3-423-43789-8 / 3423437898
ISBN-13 978-3-423-43789-9 / 9783423437899
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