Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert (eBook)

Erster Band. Hermann Hesse in Briefen und Lebenszeugnissen. 1877–1895

(Autor)

Ninon Hesse (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
612 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75302-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert - Hermann Hesse
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Im Nachlaß von Hermann Hesse fanden sich, in Bündel verschnürt, Korrespondenzen und Dokumente merkwürdigster Art: Jugendbriefe Hesses an seine Eltern, Großeltern, Schwestern und Freunde. Aber nicht nur die Briefe von Hesse, auch die an ihn selbst gerichteten fanden sie vor, und nicht allein diese Korrespondenz, sondern auch Berichte und Mitteilungen von Verwandten, Erziehern, Kostherren, Lehrern, Pfarrern und Ärzten, die ihn, seine Erziehung und Entwicklung betreffen.

Die Dokumente zeigen den Aufbruch, das Werden eines Dichters. Sie werfen ein neues Licht auf die ersten Jahre Hesses. Das »Ausbrechen aus der Gemeinschaft« ist ein zentrales Thema der Werke Hesses von Unterm Rad bis zum Glasperlenspiel. Die biographische Entsprechung bieten nun diese Briefe, welche die konkreten Fakten von Anpassung und Rebellion enthalten, Dokumente, die den schmerzhaften Weg der Individuation klarmachen, den Hesse als Mensch wie als Autor gehen mußte.

»Die Briefe, die ein geistig gesunder Bursche von fünfzehn Jahren im Sommer 1892 aus einer Anstalt für Geisteskranke nach Hause geschrieben hat, zählen zum Ungeheuerlichsten, was die Geschichte der Erziehung in Deutschland zu bieten hat.

Hesses Briefe, klar und kalt, überlegen und scharfsinnig, nehmen Abschied von der Kindheit, kündigen das traditionelle Kindschaftsverhältnis im deutschen Elternhaus auf und sagen den Formen routinierter Frömmigkeit im christlichen Heim ade. Diese Briefe sind unvergleichliche Zeugnisse der deutschen Geistesgeschichte am Ausgang des bürgerlichen Jahrhunderts.

Die bisher unveröffentlichten Anklagen eines zornigen jungen Mannes von gestern, die in ihrem unbeirrbaren Wahrheitsdrang ein Schmuck unserer Schullesebücher wären, haben Folgen aber auch für unser Verständnis vom Leben und Werk des Dichters.« Rolf Michaelis, Frankfurter Allgemeine Zeitung



<p>Hermann Hesse, geboren am 2.7.1877 in Calw/W&uuml;rttemberg als Sohn eines baltendeutschen Missionars und der Tochter eines w&uuml;rttembergischen Indologen, starb am 9.8.1962 in Montagnola bei Lugano.</p> <p>Er wurde 1946 mit dem Nobelpreis f&uuml;r Literatur, 1955 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Nach einer Buchh&auml;ndlerlehre war er seit 1904 freier Schriftsteller, zun&auml;chst in Gaienhofen am Bodensee, sp&auml;ter im Tessin.</p> <p>Er ist einer der bekanntesten deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts. </p>

Hermann Hesse in
Briefen und Lebenszeugnissen


1877–1889


1] Aus dem Tagebuch von Marie Hesse1

Donnerstag, 15. Februar 1877

Köstlich sprach Vaterle vom neuen Namen, den ER uns - jedem einzeln – geben wird, ein Meisterstück Gottes grammatikalisch und lexikalisch, ein Name, worin alles enthalten ist, was wir auf Erden waren, erlebten und durch Gottes Gnade geworden sind, ein Name, so alles-fassend, so erschütternd passend, daß beim bloßen Namenhören uns alles Vergangene und Vergessene, das ganze Rätsel unsres Lebens, all das uns Verborgne und Unverständliche unsres eigenen Wesens und Seins plötzlich - von Ewigkeitslicht beleuchtet - klar vor die Seele treten wird.

Als ich so Papa zuhörte, wurde mein Herz weit und selig, und Gottes Ratschluß kam mir so überwältigend und herrlich vor, daß ich meine Kindlein selig preisen mußte, weil auch sie schon von ihm erkannt und geliebt und zum wundervollen Erbteil berufen sind - ja schon im Mutterleibe.

[…]

Am Montag, 2. Juli 1877, nach schwerem Tag schenkt Gott in Seiner Gnade abends halb 7 Uhr das heißersehnte Kind, unsern Hermann, ein sehr großes, schweres, schönes Kind, das gleich Hunger hat, die hellen blauen Augen nach der Helle dreht und den Kopf selbständig dem Licht zu wendet, ein Prachtexemplar von einem gesunden, kräftigen Burschen. […]

Am 3. August war Taufe unsres Hermann. Tags zuvor war Dr. Mögling2 da und legte ihm segnend die Hand auf. Sein Großpapa taufte ihn, […] Der Kleine schrie zuerst, aber beim Singen guckte er ganz hell herum und blieb dann still. […]

Ende Dezember 1879

[…] Hermännle entwickelt sich sehr rasch, erkennt alle Bilder sofort, ob sie aus China, Afrika oder Indien, und ist sehr klug und unterhaltend, aber sein Eigensinn und Trotz ist oft geradezu großartig.

[Am 27. November 1880 wurde die Tochter Marulla geboren3.]

[1881]

[Im Frühjahr 1881 wurde Johannes Hesse als Herausgeber des Missionsmagazins nach Basel berufen, die Familie zieht am 6. April dorthin.]

2] Η. Η. an Hermann Gundert4

Bleistiftnotiz von Η. Η.: Dies Briefchen habe ich im April 1881 in Basel meiner Mutter diktiert, an Vetter Hermann.

Das Briefchen: handschriftlich von Marie Hesse. Oben Notiz von Marulla:

»Wohl 1881 (bei Ρfisterers) vor dem Einzug in den Müllerweg. Mutter bei Pfleiderers.«

Lieber indischer Hermann,

hier sind arg viele Buben im Haus und spielen und gautschen im Hof. Es ist recht nett hier. Wir gehen aber heute in unser neues Haus und suchen wieder unsre alten Spielsachen.

Ich huste ganz erschrecklich, aber darf doch ausgehen. Der Doktor wollte meine Zunge sehen, aber ich hab sie ihm durchaus nicht gezeigt, und den bitteren Tee [Notiz: isländisch Moos] habe ich auch nicht getrunken.

Der Paule Pfleiderer drüben hat ein ganz neues Bett verbrannt, er gesteht aber nichts wenn man ihn fragt. Komm einmal zu mir! Deine Cigarren haben mir sehr viel Freude gemacht, besonders auf der Reise.

Agnes und Dich küßt
Dein Vetter Hermann

Adele grüßt Euch.

3] Aus dem Tagebuch von Marie Hesse

[1881]

[…] Die Kinder freuen sich sehr der netten Wohnung5, ländlichen Umgebung, des Gartens und Hofs, wo sie sich fleißig tummeln. Bei einem großen Baum am Missionshausgarten schreit Hermann: »Au, an dem bliebe der Absalom mit seinem Haar gewiß auch hängen!« […] Wir teilen nun Freude und Leid mit der Basler Mission und das macht uns reich und glücklich, man liebt mehr, man betet mehr, es ist ein wärmeres, bewegteres Leben als im engen Calw. Hermann geht in die Kinderschule; sein heftiges Temperament macht uns viel Not. […]

4] Johannes Hesse6 an Hermann Gundert 7

Basel, 19. Oktober 1881

Lieber Papa,

hier ist endlich die Antwort auf mein Gesuch um Entlassung aus dem russischen Untertanenverband. […] Da Du Dich freundlich erboten hast, meine Aufnahme ins württembergische Staatsbürgertum zu betreiben, so sende ich das Dokument Dir mit der Bitte, Du möchtest die weiteren Schritte tun, indem ich das wo, wie und wann ganz Dir überlasse. […]

5] Marie Hesse an Adele Hesse8

Sie berichtet von Hermanns Geburtstag:

Basel, 2. Juli 1882

Mein teures Adelchen,

[…] Arnold und dessen Schwestern spielten viel mit ihm [Hermann] am Tisch, zuletzt gab’s Streit. Dann erklärte Memmerle, es sei recht dumm, daß man so einem bösen Knaben, wie Arnold sei, einen so arg schönen Namen gegeben habe, dazu einen biblischen. Als Emma und ich sagten, in der Bibel sei nirgends ein Arnold, sagte er, das wisse er halt besser, wir hätten’s wohl eben vergessen. Aber sein eigener Name sei nicht schön und nicht biblisch und wir hätten ihn »Seth« heißen sollen. Seth sei sehr schön, und Adam und Eva hätten ihr braves Büblein so geheißen, das ihnen Gott zum Trost geschenkt für den toten Abel und für den ganz bösen Kain. – […]

6] Hermann Gundert an seinen Sohn Hermann 9

Calw, 7. August 1882

[…] Und am 6. (Sonntag), nachdem Memmerle Hesse von Frau Huber-Burckhard vom Hauenstein herabgebracht war - (er sagte, »wegen der lumpigen Tauf wär ich nicht herabgekommen, aber ich muß ja jetzt wieder in d’Schul«) - taufte ich Nachmittag in Gegenwart des Praetorius Huber und Theodors den lieben Johannes 10 und wir saßen fröhlich zusammen […]

7] Hermann Gundert an Johannes und Marie Hesse

Calw, 25. Juni 1883

[…] Mit Hermann werdet ihr freilich viel Geduld haben müssen. Es kommt auch von Gott, daß einem die Kinder Rätsel aufgeben, vor denen man ratlos stille steht. […]

8] Hermann Gundert an seinen Sohn Hermann

Calw, 9. Juli 1883

[…] Der Hansli ist ein fröhlicher Bursche, der Hermann ein verzwickter, leicht hochgesteigerter. […] Sie gehn jetzt auf den Rechtenberg irgendwo im Jura, nehmen dazu alles Eßbare mit. […]

9] Aus dem Tagebuch von Marie Hesse

[1883]

[…] Am 10. Juli im Omnibus mit Sack und Pack die ganze Familie auf den Rechtenberg (Ratsherr Sarasins Gut) gefahren und dort gelebt im Grünen bis zum 3. August.

Rechtenberg, 30. Juli 1883

[…] Abends waren wir noch etwas unten bei Wackernagels. [Drei eigene und drei Stiefsöhne seien dagewesen.] Man las Briefe von Stilling an jene Fluhbacher Wirtsfrau vor, die hier im Original sind. Eine wirklich nette, edle Familie ist diese Wackernagelsche, alles so reell und einfach. … Hermann sieht so gesund und sonnverbrannt aus, die Luft und das freie Leben hier tun ihm offenbar gut. Doch fragt er schon besorgt, ob man gewiß an den Schulanfang denke und bei Zeit in Basel zurück sei? […]

10] Marie Hesse an Hermann und Julie Gundert11

Basel, 5. November 1883

[…] Unser Hermann geht jetzt auf eigenen Wunsch zur Sonntagsschule (Frau Pfarrer Pfisterer) ins Knabenhaus. Im ganzen ist ergottlob recht ordentlich und viel lenksamer.

Aber am 14. November 1883 schreibt Johannes Hesse12:

Hermann, der im Knabenhaus fast für ein Tugendmuster gilt, ist zuweilen kaum zu haben. So demütigend es für uns wäre, ich besinne mich doch ernstlich, ob wir ihn nicht in eine Anstalt oder in ein fremdes Haus geben sollten. Wir sind zu nervös, zu schwach für ihn und das ganze Hauswesen nicht genug diszipliniert und regelmäßig. Gaben hat er scheint’s zu allem: er beobachtet den Mond und die Wolken, phantasiert lang auf dem Harmonium, malt mit Bleistift und Feder ganz wunderbare Zeichnungen, singt wenn er will ganz ordentlich, und an Reimen fehlt es ihm nie.

11] Hermann Gundert an Johannes und Marie Hesse

Calw, 1. September 1884

[…] Euren Hermann bemitleide ich herzlich, aber ich gestehe, eine Freude wäre mir’s nicht, wenn Ihr ihn weit abgäbet. Es ist schon falsch zu sagen, man könne ihn nicht beeinflussen. Gott, der ihn Euch gegeben hat, ließ Euch gewiß nicht und läßt Euch nicht ohne die Mittel, ihn zu beeinflussen. Soll denn die tägliche Fürbitte für ihn vornweg als kraftlos gedacht werden? Ich meine, Ihr solltet Euch rüsten, große Gnaden von Gott gerade in Betreff seiner zu erwarten und also auch herabzuziehen. Ihr könnt ihn doch niemand übergeben, dem mehr an dem Knaben läge als Euch. So ist mir’s zu Mute und ich kann nicht anders schreiben als mirs ums Herz ist. […]

12] Aus dem Tagebuch von Marie Hesse

[1884]

Mit Hermännle, dessen Erziehung uns so viel Not und Mühe machte, geht es nun entschieden besser. Vom 21. Januar bis 5. Juni war er ganz im Knabenhaus und brachte bloß die Sonntage bei uns zu. Er hielt sich dort brav, aber bleich und mager und gedrückt kam er heim. Die...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2020
Nachwort Ninon Hesse
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 19. Jahrhundert • Autobiografie • Briefe • Briefwechsel • Deutschland • Dichter • Erfahrungen • Erinnerungen • Hermann Hesse • Jugend • Kindheit • Lebenszeugnisse • Literatur • Literaturnobelpreis • Nobelpreis • Notizen • Sammlung • Schriftsteller • ST 1002 • ST1002 • suhrkamp taschenbuch 1002 • Tagebücher
ISBN-10 3-518-75302-9 / 3518753029
ISBN-13 978-3-518-75302-6 / 9783518753026
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