Ausgewählte Werke »Lichtregen« (eBook)

Band 2: Essays und Erinnerungen

Ilma Rakusa (Herausgeber)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
928 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76244-8 (ISBN)

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Ausgewählte Werke »Lichtregen« -  Marina Zwetajewa
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Marina Zwetajewa, neben Anna Achmatowa die wichtigste russische Dichterin der Moderne, lässt sich in Lichtregen, dem zweiten Band der auf vier Bände angelegten Werkausgabe, nicht nur als radikale Sprachkünstlerin, sondern auch als scharfsinnige und leidenschaftliche Essayistin erfahren:

Die erste Abteilung, »Erinnerungen an Zeitgenossen«, versammelt Porträts verstorbener Dichterkollegen und Freunde, darunter Ikonen des Silbernen Zeitalters wie Walerij Brjussow und Konstantin Balmont, aber auch Ossip Mandelstam, Boris Pasternak, Rainer Maria Rilke und die avantgardistische Malerin Natalja Gontscharowa. Zwetajewa durchstreift Korrespondenzen und Gedichte, erzählerische Passagen und luzide Beobachtungen folgen auf prägnant protokollierte Gespräche. Dem Skandalon des Todes setzt sie - empfindsam, frei, schöpferisch - »Lebendes über Lebende« entgegen.

Die zweite Abteilung, »Essays«, bündelt eine Auswahl von Zwetajewas poetologischen Texten, denen sie sich in den Jahren von 1928 bis 1938 zuwandte. Darin schreibt sie über die Rolle des Kritikers oder die Übersetzung von Goethes »Erlkönig« ins Russische, sondiert das Terrain poetischer Schöpfung und - in »Mein weiblicher Bruder«, einem Text, den sie auf Französisch verfasste - jenes der gleichgeschlechtlichen Liebe.

Ihre Erinnerungen an Zeitgenossen und Essays waren für Zwetajewa zugleich auch immer »Anlass zu sich selbst«. Lichtregen erlaubt die Auseinandersetzung mit einer weiteren Facette des Werkes von Marina Zwetajewa, das von radikaler Hingabe und Ausgesetztheit zeugt.



<p>Marina Zwetajewa, 1892 in Moskau geboren, ging 1922 in die Emigration, lebte in Berlin, Paris und Prag und kehrte 1939 in die Sowjetunion zur&uuml;ck. 1941 nahm sie sich in Jelabuga das Leben. </p>

Zweiter Teil
Revolution


I
LITO[7] 

Mit dem Preisküken endet meine Jugendepisode mit Brjussow. Zwischen 1912 und 1920 lebte ich außerhalb des Literaturbetriebs, und wir begegneten uns nicht.

1919 – das schwärzeste, tödlichste Pestjahr von all diesen Moskauer Jahren. Jemand, ich weiß nicht mehr wer, es war wohl Chodassewitsch, brachte mich auf die Idee, ich könnte einen Gedichtband bei der LITO einreichen. »Die LITO druckt nichts, aber sie kauft alles.« Ich: »Perfekt.« – »Der Leiter der Abteilung ist Brjussow.« Ich: »Schon weniger perfekt. Er kann mich nicht ausstehen.« – »Sie nicht, Ihre Gedichte schon. Er wird sie kaufen, keine Frage. Das sind immerhin fünf Tage Brot.«

Ich machte eine Abschrift meiner »Jugendverse« (1913-1916, sie sind bis heute unveröffentlicht) und des ersten Teils der »Werstpfähle« (er erschien 1922 im Staatsverlag), nahm das Fünfjährigenhändchen meiner Tochter Alja in die Rechte, das Manuskript in die Linke und ging zur LITO, mein Glück versuchen. Ich glaube, in die Nikitskaja-Straße? Brjussow war nicht da, dafür jemand anders, dem ich mein Manuskript übergab. Und im selben Moment war alles vergessen – sowohl die Gedichte als auch ich selbst.

Etwa ein Jahr verging. Ich lebte, die Gedichte warteten. Ich dachte mit gleichbleibendem Widerwillen an sie, wie an etwas, das man verliehen und nicht rechtzeitig zurückgefordert hat und das einem deshalb schon nicht mehr gehört. Trotzdem raffte ich mich eines Tages auf. In der LITO herrschte Leere: nur Budanzew war da. »Ich wollte mich nach zwei Gedichtbänden erkundigen, die ich vor etwa einem Jahr eingereicht habe.« Leichte Verlegenheit, der ich rasch abhelfe: »Ich hätte das Manuskript gern zurück – offensichtlich hat sich ja nichts ergeben?« Budanzew, freudig: »Richtig, richtig, es hat sich nichts ergeben, unter uns gesagt – Walerij Jakowlewitsch ist stark gegen Sie eingenommen.« – »Auch schwach wäre schon viel. Aber die Abschriften existieren noch?« – »Selbstverständlich, ich bringe sie gleich.« – »Perfekt. Das ist mehr, als ein Dichter heute verlangen kann.«

Und ab nach Hause mit dem Manuskript. Dort angekommen, packe ich es aus, blättere, und siehe da – das zweite Brjussow-Autograph meines Lebens! Ganze drei Zeilen Rezension – in seiner Handschrift!

»M. Zwetajewas Gedichte sind, da zu ihrer Zeit unveröffentlicht, ohne aktuellen Bezug und Nutzen.« Nein, das war nicht alles, aber gemerkt habe ich mir wie immer den Höhepunkt – das Ende. Visuell sind mir exakt drei Zeilen in Brjussows gedrängter, sparsamer, sorgenvoller Handschrift in Erinnerung. Was stand wohl in den restlichen anderthalb? Ich weiß es nicht mehr, aber schlimmer war es nicht. Die Rezension liegt, zusammen mit meinen übrigen Papieren, bei meinen Freunden in Moskau. Näher ausgeführt wurde Brjussows römisch-knapper Satz in der russisch-weitschweifigen (maschinenschriftlichen) Reaktion seines Verehrers, Anhängers und Jüngers Sergej Bobrow: »Bis zum Erbrechen ausgewalztes, hochtrabendes Geschwätz vom eigenen Tod …« Das bezog sich auf die »Jugendverse«, über die »Werstpfähle« habe ich nur noch ein Wort in Erinnerung, und auch das nur verschwommen, ich sehe es geschrieben vor mir, kann es aber nicht entziffern, es ist etwas wie »gnoseologisch«, hat aber mit Rhythmus zu tun. »Die Gedichte sind in einem schweren, unverdaulichen, ›gnoseologischen Jambus‹ verfasst« … Brjussow hatte das Thema geliefert, Bobrow die Variationen, und im Ergebnis hielt ich mein Manuskript in der Hand.

Der Staatsverlag, repräsentiert durch den kommunistischen Zensor Meschtscherjakow, verhielt sich 1922 sowohl kulanter als auch großzügiger.

(Da ich das Wort »Zensor« schreibe, wird mir plötzlich klar: wie sehr allein der römische Klang schon Brjussow entsprach! Zensor, Mentor, Diktator, Direktor, Zerberus …)

Bei einer späteren Begegnung bat Budanzew mich rührend inständig, ihm die Rezensionen zurückzugeben:

»Sie hätten sie gar nicht lesen dürfen, das war meine Unachtsamkeit, und die werde ich büßen müssen!«

»Ich bitte Sie, das ist doch mein titre de noblesse, mein Adelspatent im Tjuttschew'schen Sinn, mein Ehren-Entrée, wo immer man die Dichtung schätzt!«

»Dann machen Sie eine Abschrift, aber geben Sie mir die Originale!«

»Wie? Ich soll ein Autograph von Brjussow hergeben? Vom Autor des ›Feuerengels‹? (Pause.) Es einfach hergeben – wenn ich es auch verkaufen kann? Ich werde auswandern und es im Ausland verkaufen, das können Sie Brjussow von mir ausrichten!«

»Und Bobrows Besprechung? Geben Sie mir doch wenigstens Bobrow zurück!«

»Der wird die Dreingabe. Soundso viel für drei Zeilen von Brjussow, und die vier Seiten Bobrow gibt es umsonst dazu. Das können Sie Bobrow von mir ausrichten.«

Ich machte Witze und blieb unerbittlich.

II
Ein Abend im Konservatorium

(Aufzeichnungen meiner damals siebenjährigen Tochter Alja)[8] 

Nikitskaja 8

Ein Abend im Großen Saal des Konservatoriums

Eine dunkle Nacht. Wir gehen die Nikitskaja entlang zum Großen Saal des Konservatoriums. Marina soll dort lesen, und viele andere Dichter auch. Endlich sind wir da. Wir irren erst lange herum, auf der Suche nach dem Dichterlein Wadim Scherschenewitsch. Dann trifft Mama einen Bekannten, der uns zu einem kleinen Zimmer führt, dort sitzen schon alle, die auftreten sollen. Auch der alte Brjussow saß dort mit steinerner Miene (nach der Lesung habe ich unter seinem Mantel geschlafen). Ich habe Marina gebeten, etwas auf dem Flügel zu spielen, aber sie wollte nicht. Gleich beim Hereinkommen habe ich angefangen, Mamas Verse an Brjussow aufzusagen, aber sie hat mich zurückgehalten. Dann kam ein Mann mit lockigen Haaren und blauem Hemd auf Mama zu. Ein unverschämter Kerl, so sah er aus. Er sagte: »Ich habe gehört, Sie werden bald heiraten.« – »Richten Sie denen, die so gut informiert sind, aus, dass ich schlafe und im Traum Aljas Vater Serjosha treffe.«[9]  Der Kerl zog ab. Kurz darauf kam das erste Läuten. Budanzew ging mit Mama aufs Podium. Ich ging mit. Das Podium war eine Art Bühne. Eine Reihe Stühle stand da. Darauf saßen Marina, ich und eine Menge anderer Leute. Als Erster trat Brjussow auf. Er las eine Einführung, aber ich habe nicht zugehört, weil ich nichts verstanden habe. Als Nächster trat der Imaginist Scherschenewitsch auf. Er rezitierte etwas von einem Kopf, auf dem ein botanischer Garten steht, und auf dem botanischen Garten steht eine Zirkuskuppel, und obendrauf sitze ich und blicke in den Leib einer Frau wie in einen Becher. Arme Autos, sie sind wie ein Schwarm Gänse, das heißt ein Dreieck. Frühling, Frühling, freuen sich die Automobile. Lauter solche Sachen. Danach las Brjussow Gedichte. Nach ihm kam eine kleine Frau mit gebogenen Zähnen und sanftem Gesicht, in einer zerrissenen Wattejacke. Es war so, als hätte sie keine Flügel und kein Fell, noch nicht einmal eine Haut. Sie hält ihren mageren Körper in den Händen und schafft es weder, ihn zu zähmen, noch, ihn loszuwerden. Endlich war Mama dran. Sie setzte mich auf ihren Platz und ging ans Pult. Bei ihrem Anblick lachten alle. (Wahrscheinlich weil sie ihre Tasche ...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2020
Übersetzer Ilma Rakusa, Nicola Denis, Elke Erb, Rolf-Dietrich Keil, Olga Radetzkaja
Sprache deutsch
Original-Titel Ausgewählte Werke 2
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Andrej Belyj • Boris Pasternak • Dichter des Silbernen Zeitalters • Erlkönig • Konstantin Balmont • Literaturkritik • Maximilian Woloschin • Michail Kusmin • Natalja Gontscharowa • Ossip Mandelstam • Poetologische Essays • Pugatschow • Puschkin • Rainer Maria Rilke • Silbernes Zeitalter • Walerij Brjussow • Wladimir Majakowskij
ISBN-10 3-518-76244-3 / 3518762443
ISBN-13 978-3-518-76244-8 / 9783518762448
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