Und andere Formen menschlichen Versagens (eBook)
155 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31103-9 (ISBN)
Lennardt Loß wurde 1992 in Braunschweig geboren. Er studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Jena sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Frankfurt am Main. Er ist freier Mitarbeiter für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Loß erhielt ein Stipendiat des Hessischen Literaturrats in Prag sowie der Roger Willemsen Stiftung in Hamburg und ist Preisträger des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen (2017 und 2018).
Lennardt Loß wurde 1992 in Braunschweig geboren. Er studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Jena sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Frankfurt am Main. Er ist freier Mitarbeiter für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Loß erhielt ein Stipendiat des Hessischen Literaturrats in Prag sowie der Roger Willemsen Stiftung in Hamburg und ist Preisträger des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen (2017 und 2018).
11 312 Meter über dem Südpazifik
April 1992
Kurz bevor der Zahntechniker Hannes Sohr die größte Katastrophe seines katastrophenreichen Daseins überlebte, schnitt er sich den Zeigefinger an der vorletzten Seite eines Shoppingkatalogs. Beworben wurde ein Bleistift aus kalifornischem Zedernholz – 179,99 Dollar, mehrwertsteuerbefreit. Sohr riss die Seite heraus, wickelte sie um seinen Zeigefinger.
Von seinem Platz aus waren es neun Sitzreihen bis zum hinteren Notausstieg. Er hatte die Rückenlehnen beim Boarding gezählt und sich die Zahl auf dem Handrücken notiert: Ein Ratschlag, den er vor Jahren von einem Piloten erhalten hatte, und Piloten gehörten zu den wenigen Menschen, denen Sohr zuhörte, obwohl sie eine Uniform trugen.
»Wenn ein Feuer an Bord ausbricht«, hatte der Pilot gesagt, »saugt die Klimaanlage den Rauch ein und verteilt ihn gleichmäßig im gesamten Flugzeug. Die Leuchtstreifen im Gang sind nicht mehr lesbar. Wer dann weiß, wie viele Rückenlehnen er vom Notausgang entfernt ist, überlebt mit höherer Wahrscheinlichkeit.« Sohr hatte dem Piloten geantwortet, dass sich Flugzeuge für gewöhnlich in der Luft befinden. Und dass in zehntausend Metern Höhe hinter einem Notausgang keine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit warte, sondern der Tod. Der Pilot hatte kurz geschwiegen und dann gesagt: »Besser als Ersticken, ’ne?« Seitdem zählte Sohr die Sitzreihen.
Nach acht Rückenlehnen blieb er stehen. Den blutenden, in die Katalogseite eingewickelten Zeigefinger hielt er wie eine Pistole vor sich, was die junge Frau vor der Bordtoilette offenbar verunsicherte. Sie ging einen Schritt zurück, öffnete den Mund. Ihre mittleren Schneidezähne waren länger als die seitlichen.
»Wollen Sie vor?«
»Wie bitte?« Sohr war neununddreißig Jahre alt und auf dem linken Ohr taub.
»Ob Sie vor wollen!«
»Ich?«
Die Frau zeigte auf die Toilette, dann auf die Katalogseite, die sich rot verfärbt hatte. Sohr nickte, sagte leise: »Gerne.« Als er den Türriegel auf Rot drehte, hätte Flug LH 510 eigentlich mit dem Landeanflug auf Buenos Aires beginnen sollen.
Sohr hielt seinen Zeigefinger unter den Wasserhahn. Mit der anderen Hand steckte er sich eine Schmerztablette in den Mund. Für den Flug hatte er drei Tabletten eingeplant. Das war die vierte.
Auf seinem linken Oberarm und am Rücken hatte er Verbrennungen zweiten Grades. Die Haut war vernarbt und gefühllos. In seinem Bauch steckte seit siebzehn Jahren eine Patrone vom Kaliber 6,35 mm Browning aus einer Walther PPK, genau zwischen Magen und Milz. Die Eintrittswunde war lange verheilt, doch das Projektil wanderte jeden Monat einen halben Millimeter auf seine Lunge zu. Ihm blieb noch ein halbes Jahr.
Vier Stunden bevor Sohr auf die Bordtoilette vorgelassen wurde, hatte Flug LH 510 die brasilianische Küste erreicht. Kurz danach brach der Kontakt zum Tower in Recife ab. Der Airbus A340 verschwand vom Radar. Die Flugbegleiter servierten Butterkuchen.
Im Norden von Buenos Aires arbeitete ein Tierarzt, der auf die Behandlung von Schusswunden spezialisiert war. Sohr hatte mit ihm telefoniert und seine OP-Kosten auf viertausendfünfhundert Dollar heruntergehandelt. In Deutschland hätte man ihn nach der OP vermutlich in U-Haft genommen. Denn offiziell lebte dort kein Hannes Sohr, der eine 6,35 mm Browning aus einer Polizeiwaffe in seinem Bauch hatte. Aber es gab einen Carl Fuchsler, der seit siebzehn Jahren mit einem Haftbefehl gesucht wurde. Darauf standen zwei Wörter in Großbuchstaben: »ROHRBOMBEN« und »RAF-TERRORIST«.
Sohr blickte auf. Das gleichmäßige Dröhnen der Triebwerke hatte ausgesetzt. Es war so still in der Kabine, dass er seinen Herzschlag hörte. Badum. Pause. Badum. Dann schlug sein Körper gegen die Decke.
Um 23.32 Uhr stürzte Flug LH 510 in den Pazifik. Neun Passagiere überlebten den Aufprall. Sieben befreiten sich aus dem sinkenden Wrack und tauchten an die Wasseroberfläche. Einer von ihnen war Hannes Sohr.
Das Heck ragte senkrecht aus dem Pazifik, Kerosin brannte auf dem Wasser. Sohr wäre in kürzester Zeit ertrunken, wenn nicht ein Zufall sein Leben gerettet hätte: Der Aufprall hatte Fenstersitz 9A in der Business-Class aus den Schienen gebrochen, und eine Welle spülte den Sitz gegen seinen Körper. Sohr hielt sich daran fest.
Ihre Stimme war lauter als die der anderen Überlebenden.
»HILFE!«
Pause.
»HILFE!«
Er presste die Augen zusammen, lauschte in den dunklen Pazifik. Nichts. Sohr hatte oft geschrien in seinem Leben. Als die erste Rohrbombe in die Luft ging, die er gebaut hatte. Als die Leichenwagen an ihm vorbei auf die JVA Stammheim zufuhren. Aber jetzt schrie er so laut wie nie zuvor: »HIER!«
Plötzlich schwamm sie neben ihm: Die Frau, die ihn auf die Bordtoilette vorgelassen hatte. Sie griff nach seinem Unterarm, er nach ihrem. Während Sitz 9A von der Absturzstelle wegtrieb, verstummten die Schreie der anderen Überlebenden.
Nachdem der Funkkontakt zum Tower in Recife abgebrochen war, flog der Airbus über Peru auf den Pazifik hinaus. Das Flugzeug hatte noch Kerosin für vierhundert Meilen im Tank.
Sohr hatte die erste, kurze Nacht auf dem Pazifik in einem seltsamen Dazwischen verbracht. Nicht wach. Nicht bei klarem Verstand. Seine Armbeuge hatte er um die Lehne von 9A gelegt, als ob er den Sitz in den Schwitzkasten nehmen wollte. Bauch und Beine hingen im Pazifik. Kalt war ihm nicht. Die Wassertemperatur betrug hier selten weniger als siebundzwanzig Grad Celsius. Sie würde heute noch steigen.
Er schaute an sich herab. Einen seiner Derby-Schuhe hatte er verloren, was ihn kurz ärgerte. Ein Blick nach links, ein Blick nach rechts: nur Wasser. Eigentlich nur blau. Eine Horizontlinie fehlte. Das Blau des Pazifiks ging ortlos in das Blau des Himmels über.
Ihm gegenüber, dicht hinter der anderen Armlehne, hob die junge Frau den Kopf. Ihre Augen: tiefrot, vom Salzwasser entzündet. Ihre Nase: eingedrückt, vielleicht gebrochen. Ein Schneidezahn fehlte. Sohr wusste nicht, was er sagen sollte, und sagte ein so alltägliches Wort, dass ihn eine Ahnung vom Horror der letzten Stunden beschlich: »Hallo.«
»Hi.«
»Ich würde das schnellstmöglich ersetzen lassen.«
»Was?«
»Die Zwölf.« Sohr tippte mit seinem Fingernagel auf seinen rechten, seitlichen Schneidezahn.
»Sind Sie Zahnarzt?«
»So ähnlich.«
»Zahnarztgehilfe also.«
»Zahntechniker.«
Schon am Morgen des ersten Ausbildungstags, es war im Herbst 1969 und Sohr gerade sechzehn Jahre alt, hatte er sich verliebt: in die ratternden Schleifmaschinen im Labor, in die Kunststoffstreifen und den Gipsstaub, die den Linoleumboden millimeterhoch bedeckten. In diesen dreckigen, lauten und herrlichen Beruf. Dann lernte er den Laborleiter Frank Graupner kennen.
»Ob man uns hier findet?«, fragte die junge Frau.
»Wahrscheinlich sind längst Suchmannschaften unterwegs.«
»Das Wasser ist pisswarm.«
»Und?«
»Wir sind über den Atlantik geflogen.«
»Ja?«
»Der Atlantik ist kalt.«
»Wir sollten nach Flugzeugen Ausschau halten«, sagte Sohr.
»Ob man uns überhaupt sieht?«
»Bestimmt.«
»Wie hoch fliegt ein Flugzeug?«
»Keine Ahnung.«
»Zu hoch?«
»Für was?«
»Um uns zu sehen, natürlich.«
»Nein.«
»Sicher?«
»Nein.«
Frank Graupner, der Laborleiter, hatte Sohr die Hand geschüttelt. Und ihn zur nächsten Zahnarztpraxis geschickt: »Abdrücke holen.« Sohr, der damals noch Carl Fuchsler hieß, lief sofort los. Wie er die Zahnabdrücke transportieren sollte, hatte er nicht gefragt. Er hatte sich bloß gewundert, dass der Mann mit den hageren Armen und den gelben Augen so einen festen Händedruck hatte.
Erst Jahre später, als auf Graupners Totenschein »Leberzirrhose« stand, stellte sich heraus, dass er sich an den Zahnabdrücken mit Hepatitis B infiziert hatte. Bis weit in die 1970er-Jahre war es üblich, die mit Speichel, Blut und Speiseresten bedeckten Abdrücke ohne Nitrilhandschuhe ins Labor zu bringen.
Am Ende seines ersten Lehrjahrs rief ihn Frank Graupner in sein Büro. Er fragte, ob Sohr ihn nach seiner Ausbildung beerben möge. Sohr mochte nicht und kultivierte unter den Lehrlingen stattdessen den Spitznamen »SS-Graupner«. Dass der Spitzname keine Verleumdung, sondern eine Tatsache war, wusste keiner im Labor. Auf der Innenseite seines linken Oberarms hatte Graupner eine sieben Millimeter große Tätowierung, die ihn als Mitglied der SS-Totenkopfverbände auswies: »AB«. Das Blutgruppentattoo war der Grund, warum er später an den Folgen seiner Hepatitis-B-Erkrankung starb. Aus Angst, enttarnt zu werden, hatte er seit dem 8. Mai 1945 keinen Arzt mehr aufgesucht.
»Bist du«, sagte Sohr und war still.
»Bin ich was?«
»Warst du allein? Im...
Erscheint lt. Verlag | 19.8.2020 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Bachmann • Boxer • Debüt • Deutschland • Flugzeugabsturz • Insel • Klagenfurt • Krake • Lennardt Loß • Robinson Crusoe • Splatter • Versagen • weissbooks |
ISBN-10 | 3-293-31103-2 / 3293311032 |
ISBN-13 | 978-3-293-31103-9 / 9783293311039 |
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